Geschichte aus Gelsenkirchen aus jüngerer Vergangenheit

Schriftstellerei, Dichtung, Rezitation

Moderatoren: Verwaltung, Redaktion-GG

TheoLessnich
Abgemeldet

Ein Tag aus dem Leben eines Egomanen

Beitrag von TheoLessnich »

Das einzig Neue ist heute wieder der Tag selbst. Draußen Schneelandschaft wie ein Holzschnitt, alles leicht verkehrt: die Windschatten weiß, die Lichtschatten auch. Der beissende Wind nebelt mit dem Pulverschnee den Hinterhof ein.

Kurz vor neun. Gleich wird der Briefträger anschellen. Ich freue mich schon wieder darauf, den Türöffner zu ignorieren. Bin gespannt, wann der lernt, dass ich nicht jedermanns Freund und Türöffner bin. Edel sei der Mensch - und fremdbestimmt? Nur zu ihr Edlen!

Macht immer Spaß so ein Dialog zwischen den Gehirnhälften. Telefon! Hörer abnehmen? Wenn ja, dann nur ganz selbstbestimmt.

"Wer? Ach du Dieter! Wen hast du getroffen? - Ach der, ja ich erinnere mich dunkel. War der nicht unser Chef? Klar, der lebte bei der Firmenpleite noch in der Ungnade der zu frühen Geburt, muss sich noch immer für seine Brötchen abstrampeln."

"Allerdings! Zu denen hatte ich die besten Kontakte. - Für euch einen Gesprächstermin arrangieren? Wieso sollte ich? Der Hauptinnovator da ist eh schon tot, an Krebs gestorben."

"Ich und viel Zeit? Hast du ´ne Ahnung. Ich arbeite an meiner steilen Karriere zum Egomanen. Kann ich dir gelegentlich mal erklären, wenn du die Rente durch hast.
Du wirst staunen!"

"Solltest du trotzdem schon mal ins Auge fassen. Oder willst du bis ins Greisenalter jobben, nur weil du als Selbständiger zu wenig in die Rentenkasse eingezahlt hast? Eine knappe Rente ist doch kein Hindernis auf dem Weg zum Egomanen."

Einfach aufgelegt! So ein A...

Na dann wollen wir mal. Wir? Multipersonal, egoman, schizophren, verrückt, ist doch herrlich! Mache mir heute mal einen giorno italia. Weiß schon gar nicht mehr wie Sambayone schmeckt. Wieso tönt der da nach dem Cameriere? Die Kellner sind doch längst alle germanisiert. Meint der noch immer, Internationalismus muss vorzeigbar sein? So ein A...loch. Ein nützliches A...loch. Sieht man gleich an der Montur. Dunkler Flanell, himmelblaues Hemd. Etwas mehr Hals und weniger Kinn wär nicht schlecht, käme die dunkelblaue Fliege besser zur Geltung.

Sein Gegenüber hört ihm pausenlos zu, tut jedenfalls so. Bleibt ihm auch gar nichts anderes übrig. Und das ganze Lokal kann mithören - soll es wohl auch. Was meint der mit Citizen-Management? Muss ich mir merken. Hoffentlich habe ich das gleiche Lexikon wie er. Kernkraftwerke besichtigt er, und er kennt einen, der studiert ihn China den Frühkapitalismus. So ein Talent zum Egomanen, könnte man neidisch werden. Vielleicht schlägt der mich noch um Längen, wenn er erst mal seine Karriereuniform im Schrank lassen kann. Warum trägt er keine Hosenträger? Damit könnte er sich doch jedesmal beim Aufstehen das Hochziehen der Flanellhose sparen. Naja, wer außer mir hat schon keine Probleme.

TheoLessnich
Abgemeldet

Es geschah am Ersten April

Beitrag von TheoLessnich »

Ist was, wenn ja, was? Waren ihm übersinnliche Fähigkeiten zugewachsen? Erst gestern wieder. Er war allein in seiner Wohnung, spürte aber deutlich die Anwesenheit einer weiteren Person. Türen knarrten, die Wohnzimmerlampe ging an und aus. Alles nur Einbildung? Unmöglich! Es muss Erklärungen geben.

Die Mittagssonne stand gestern fast senkrecht auf seinem Fenster. Die vom Wind bewegten Baumäste vor dem Fenster müssen dieses Hell-dunkel-Stakato bewirkt haben. Doch nicht diese Stimmen. Verstehen konnte er sie nicht, aber sie machten sich über ihn lustig, kicherten immerzu. Wer sonst als diese Person, deren Anwesenheit er so überdeutlich gespürt hat, hätte sich an seiner Garderobe zu schaffen machen, Ärmel und Hosenbeine abnähen können? Wer hat sich da einen Nachschlüssel zu seiner Wohnung beschafft? Ein ganz neues Gefühl, wie Angst in Zorn umschlägt.

Endlich nach der dritten Anzeige bequemte sich die Polizei zu einer Ortsbesichtigung. Einfache Streifenbeamte. Unfähig, die ganze Verschlagenheit des Schabernackspielers schon daran zu erkennen, dass er die abgenähten Ärmel und Hosenbeine wieder frei getrennt, die Hemden wieder fein säuberlich in den Wäscheschrank zurück deportiert hat. Versteckte Mikrophone, Wanzen fanden diese subalternen Typen erwartungsgemäß auch nicht. Einen Psychiater haben sie ihm im Weggehen empfohlen. - Frechheit!

Selbst ist der Mann! Wozu gibt es Fachgeschäfte für Pfeffersprays, Schnappmesser, Schreckschusspistolen? Ein Baseballschläger aus Metall ist was Solides. Zuerst streckte er den Postboten nieder. Bis zur Verhandlung blieb er auf freiem Fuß. Nicht jeder, der sich mal irrt, muss gleich irr sein. Was beweist das schon, wenn der Postbote im Dienst den Nachschlüssel und die Nähutensilien nicht bei sich trug? Doch dann die Eskalationen mit der Zeitungszustellerin, der Putzfrau, dem Nachbar eine Etage tiefer. Zu viele Irrtümer schaden deer Überzeugungskraft. Festnahme, Entmündigung, Einweisungsbeschluss in die Psychiatrie.

All das an jenem Spätnachmittag nach dem Bundesligaspiel. Wie immer nach solchen Veranstaltungen große Hektik an der Aufnahme des Landeskrankenhauses. Verwechselungen sind da gar nicht so selten. Unser Selbstverteidiger hat nie erfahren, wer da an seiner Stelle in die Geschlossene eingewiesen wurde. Er landete im OP. Dort tauschte er aus Zweckmäßigkeitsgründen den Baseballschläger gegen zwei Krücken. Der Chirurg beruhigte ihn nach der OP: Mit einer kleinen Gehhilfe würde er schon wieder laufen lernen, wenn er nur in der Reha fleißig mitarbeitet.

Die Entmündigung hob der Richter später wieder auf. Einleuchtend, ein in seiner Beweglichkeit schon eingeschränkter Reha-Patient muss nicht auch noch in seiner Geschäftsfähigkeit eingeschränkt sein. Jeder verdienst mehr als nur eine zweite Chance für die Segnungen der Konsumwirtschaft mit all ihren Facetten, den Ratenkäufen, Spar- und Versicherungsverträgen.

Nicht verantwortbar erschien dem weisen Richter die Entlassung des an seiner Stelle in die Psychiatrie eingewiesenen Fußballfans, auch wenn sich sein Zustand dort nicht verschlechtert hat. Dass er Fußballfan war, wussten der Gutachter und Richter ohnehin schon, dann outete er sich auch noch als Stammzuschauer des täglichen Talkmarathons im Fernsehen und entband den Gutachter auch noch von der Schweigepflicht. All das rechtfertige seinen Verbleib in der Psychiatrie, setzte sich der Richter gegen den Gutachter durch.

Dass sich der Richter nach diesem Fall alle Heimspiele der örtlichen Bundesliga-Fußballvereins in seinem Terminkalender vorgemerkt haben soll, blieb ein Gerücht, das durch kein Dementi bestätigt wurde.

TheoLessnich
Abgemeldet

Liebe, die in den Magen schlägt

Beitrag von TheoLessnich »

Gestern und vorgestern saß er hier um die gleiche Tageszeit. Die Schuhe ausgezogen, die Füße auf den kniehohen Couchtisch gelegt wie gestern und vorgestern. Ein gelangweilter Blick auf den akkuraten Faltenwurf der Vorhänge, dahinter ein flüchtiges Farbenspiel des scheidenden Tages anders als gestern, da war der Himmel bedeckt. Das Türschloss schnappt auf, ein Hallo, ein flüchtiger Kusss. Zeit die Glotze einzuschalten. Die legt einen magischen Bann vor Erörterungen über die ewigen Auseinanderstzungen mit ihrer Vorgesetzten wie gestern und vorgestern.

In der Cafeteria haben sie sich kennen gelernt. Ihre Bewerbung hatte Erfolg, seitdem arbeitet sie dort in Wechselschichten. Er findet immer noch genug andere Kunden für seine Hard- und Software.

Wie gestern und vorgestern geht sie hinaus in die Diele telefonieren. Mit irgendjemanden muss sie reden, mit irgendjemanden, der ihr zuhört und nicht wie hypnotisiert in den Fernseher starrt. Dann ist die randvolle Spüle dran, und sie richtet das Abendbrot. (Wenn er doch nur einmal das Geschirr spülen würde!)

Erstaunlich, was so eine Glotze in so kurzer Zeit aus einem Mann machen kann! Schon zweimal musste er sich neu einkleiden. Sie ist noch immer attraktiv, glaubt sie, wer glaubt das von sich nicht? Sie findet, es ist nicht der schlechteste Tausch, dass seine schwindende Potenz seine Phantasie beflügelt.

Aber ist das schon alles? Warum möchte sie ohne ihn nicht mehr leben, obschon er so fett und langweilig geworden ist? Vielleicht regt die Hoffnung die Phantasie nicht weniger an als die Impotenz. Eines Tages wird er schon ihre Fürsorglichkeit, die geregelten Mahlzeiten nicht mehr missen wollen. Dann läuten die Hochzeitsglocken. Wird schon werden, muntert sie sich auf, schaltet die Spülmaschine ein und denkt an was Schönes, den Urlaub.

Jahr für Jahr diese ellenllange Checkliste. Alles sorgfältig bis ins kleinste Detail geplant und aufgelistet: von der Angelausrüstung bis zum Tauchsieder, Tickets für die Finjet, das Ferienhaus auch schon für das nächst Jahr fest gebucht. Exaktes Timing. An alles gedacht:Socken, Unterwäsche, Ölzeug für alle Fälle. So war das, bis sie ausbrach, sich scheiden ließ, ihren Beruf wieder aufnahm.

In knapp drei Wochen wird sie wieder den ganz anderen Urlaub mit diesem Halbchaoten hier erleben. Wieder wird er die Reisetasche in den Kofferraum, noch ein paar Kleidungsstücke hinterher werfen, sich hinters Steuer klemmen, losfahren, als ob er gerade mal einen Kasten Bier vom Getränkemarkt holen wolle. Auf dem Parkplatz irgendeines Dreisternehotels tief im Süden wird er wieder aufhören zu fahren, die Sachen aus dem Kofferraum klauben, die Rezeption ansteuern, auf unbestimmte Zeit ein Doppelzimmer buchen. Zweimal hat sie das schon so erlebt, es fasziniert sie immer noch. Vorher kannte sie nur ein Urlaubsland, einen Urlaubsort, wusste immer schon im Voraus, wo es lang ging.

Sie kommt ins Wohnzimmer. Im Fernsehen lässt sich gerade so ein Politprofi weitschweifig darüber aus; man würde jetzt bei der Orientierung einer gemeinsamen Plattform vordringlich .... so alles Mögliche ausloten. Wer Sozialdemontage so zu verkaufen und verschleiern versteht, taugt in der Tat zu gar nichts Anderem als zur Politik. Nur Arbeit und Glotze ist auf Dauer auch kein Leben! Wie schön könnte ein Leben ohne Glotze, ohne Verfolgungen, ohne ständige Kontrollanrufe sein? Auf dem Sprung in die eigene Wohnung zum Garderobenwechsel, kann er die Tür nie schnell genug aufschließen, um dem Klingeln seines Telefons zuvorzukommen.

Sie mästet mich wie ein Schwein, und dann immer diese Fragerei: "Hat es dir auch geschmeckt? Wenn du nichts sagst, weiß ich ja gar nicht, ob dir mein Essen schmeckt.." Wenigstens das Licht könnte sie mal auslassen, wenn sie sich vor dem zu Bett gehen entblättert. Phantasie ist schon der halbe Sex. Und am Morgen danach! Wie kommt man zu so einem Atem, wenn man sich regelmäßig die Zähne putzt und sich nicht aus der Mülltonne ernährt? Infam, diese saublöden Andeutungen. Woanders sollte sie mich mal erleben, - vonwegen impotent! Springst du nicht richtig an, bist du impotent oder schwul oder beides. Typisch Jesuitenphilosophie, liegt immer nur alles an dir selbst. Eheabstinenz ist sicher kein Allheilmittel gegen nachlassendes Sexinteresse, doch immer noch das kleinere Übel. O-Gott-oGott, gleich geht das wieder los mit der Mampferei und Fragerei: Schmeckt es dir auch? Ist ja nichts Besonderes, nur so etwas auf die Schnelle..."

wird fortgesetzt

TheoLessnich
Abgemeldet

Beitrag von TheoLessnich »

Immer an alles selber Schuld - klar! Vielleicht haben die Jesuiten sogar Recht. Mehr noch als meinen Schmierbauch hasse ich die darauf zielenden Hänseleien der Kollegen, hasse meine Feigheit, meine Scheu vor Szenen, Tränen, Gekeife. Als sie mich kalt erwischt hatte, hätte ich einen Schlussstrich ziehen sollen. Eine Frechheit, einfach so meinen Chef anzurufen. Der A... hätte auch besser schalten können, als sie ihn scheinheilig nach der Telefonnummer des Messestandes gefragt hat. Statt ihr zu sagen, dass es gar keine Messe gab, hätte genügt: Wir haben da keinen Telefonanschluss. Fertig! Das hat der smarte Drecksack mit Häme gemacht, wetten?

"Wann fahren wir denn am Wwochenende nach Paris? Wollten wir doch immer mal machen."

Jetzt geht das wieder los! Dann soll sie schon lieber fragen, wie es mir schmeckt.

"Dieser Typ, der da damals zu mir aufs Zimmer wollte..."

Nein, nicht schon wieder! Kauend muffelt er: "Hättest damals die Gelegenheit wahrnehmen sollen, dann brauchtest du die Geschichte nicht immer wieder aufzuwärmen. War vielleicht die letzte Gelegenheit."

"Ich habe mal mit meinem früheren Bekannten gesprochen. Der ist Arzt, also nicht ganz inkompetent. Der meint auch, das ist total unnormal, wenn jemand - wie du - überhaupt nicht eifersüchtig ist, - das ist einfach nicht normal"

Was geht es mich an, welche infantilen Rückfälle dein Bekannter für normal oder unnormal hält. Laut sagte er: "Normalität ist doch mehr eine Frage der Egozentrik als der Kompetenz, findest du nicht? für ein Schwein beispielsweise ist doch das Suhlen im Dreck die normalste Sache der Welt, oder nicht?"

"Ich muss doch wohl bitten! Also! Manchmal kannst du richtig beleidigend sein."

"Was ich nur sagen will ist: Jeder hält sich im positiven Sinn für ganz normal, ob Arzt oder Toilettenfrau, ob eifersüchtig oder nicht."

"Einer muss ja immer das letzte Wort haben", meint sie nadelspitz. "Vertreter", sie weiss, er will keiner sein, "Vertreter müssen vielleicht so sein. Ich bin jedenfalls der Meinung, wer liebt ist auch eifersüchtig."

"Es muss ja nicht das letzte Wort sein", hatte er das letzte Wort. "Aber du hast vollkommen Recht. Natürlich ist Eigenliebe die Ursache jeder Eifersucht."

Sie zieht es vor, wieder an was Schönes zu denken: Ihr letzter Skiurlaub solo. Dieser neue Typ. Die Verbindung hat sie sich telefonisich so gut sie konnte frisch gehalten. Der ist noch jünger und viel sportlicher. Der ist nicht geschieden, ledig auch nicht. Warum verheimliche ich eigentlich diesen Klüngel vor ihm? Der ist doch eh nicht eifersüchtig. Widerwillig räumt sie ein, ihm würde das vielleicht wirklich kalt lassen, dass er aber darin für sich den Silberstreifen am Horizont erblicken könnte, hätte sie nie und nimmer wahr haben wollen.

Die Ehe des Skifreundes ist kaputt, - ein Stück Normalität. Doch wer lässt sich deswegen gleich scheiden?

Da ist auch noch der Normalitätssachverständige, der so ganz genau weiss, dass Eifersucht normal, ihr Mangel jedoch ganz unnormal ist. Der ist auch nicht geschieden, war aber auch nie verheiratet. Wie normal dieser Zustand ist, hat sie mit ihm nicht erörtert. Er ist eine Kleinigkeit älter als ihr ältester Sohn, der übrigens auch nicht geschieden ist, auch noch nicht lange verheiratet, er ist kein Arzt, aber auch nicht gehbehindert, wie auch sie trotz ihrer spät entdeckten Liebe zum Skisport noch nicht hinkt.

Die legitime Ehefrau eines Arztes, Traum und Adel jeder Krankenschwester. Auch wenn er satte fünfundzwanzig Jahre jünger ist und nicht hinken würde, es ist der Ritterschlag zur Bildungsaristokratie. Träume werden nicht nur in Märchen wahr. Ein bisschen Überzeugungsarbeit, ein Quäntchen Glück... Allein dieser Altersunterschied qualifiziert doch noch lange nicht zur aktiven Teilnahme am TV-Panoptikum der Böttinger oder irgendeiner anderen Tratschshow.

Und ich lass mich von diesem aufgeblasenen Klinkenputzer zuquatschen, beleidigen und - schlimmer noch - mir alle Aktivitäten und Chancen blockieren. Entschlossen legt sie das Essbesteck beiseite. "Weisst du, eigentlich möchte ich jetzt erst mal für eine Weile alleine sein. Gib mir doch bitte den Wohnungsschlüssel, ich hole dir auch deinen."

Er guckt wie ein Schaf. Dann bekommen die Ohren Besuch von seinen Mundwinkeln.

"Und ruf mich vorerst nicht an, ich rufe dich auch nicht an", gibt sie ihm an der Tür noch mit auf dem Weg.

"Aber ich verlass mich drauf", feixt er, feixt noch immer, als er sich schon von dem kleinen Anliegerparkplatz in den fließenden Verkehr einfändelt. Der Baumarkt muss noch geöffnet sein. Da hole ich mir gleich eine Lochzange für meine Gürtel.

TheoLessnich
Abgemeldet

Freunde - Spiel nicht mit den Schmuddelkindern

Beitrag von TheoLessnich »

Immer wenn eine Fensterscheibe zu Bruch gegangen, eine Toilette versaut, Steine gegen des Hausmeisters Tür gkracht waren, kannte das Lehrerkollegium den Übeltäter. Ertappt haben sie ihn aber nie. Seinen Vater hat Herbert nie enttäuscht. Für ihn musste er nichts erreichen. Vaterlos sein hat nicht nur Nachteile.

Auf dieser weiterführenden Schule war Herbert, weil Dieter hier war. Sie waren Freunde. Dabei konnten diese beiden Jungen kaum unterschiedlicher sein. Dieter, immer wie aus dem Ei gepellt. Seine Mutter achtete penibel auf seinen stets korrekt kurzen Haarschnitt, Scheitel wie mit dem Lineal gezogen, darauf eine brave Bubenmütze. Ihr war zuzutrauen, dass sie selbst ihrem Mustersohn die Schuhe auf Hochglanz wienerte.

Herberts Outfit war mehr third als second hand. Erst als er ganz große Augen für Mädchen bekam, ging er mal öfter zum Friseur, kaufte sich einen Taschenkamm, sogar Brillantine.

Angefreundet haben sich die beiden schon auf der Grundschule. Als Dieter auf Betreiben seiner Eltern zu der weiterführenden Schule wechselte, zog Herbert aus Freundschaft einfach mit. Auch da ging ihm bald sein Ruf voraus: Der geht keiner Prügelei aus dem Weg, und der zieht auch nie den Kürzeren. Herbert zum Freund haben, bedeutete, keiner macht dich an, auch wenn dich alle für ein geschniegeltes Mamasöhnchen halten.

Dieters ehrgeizige Mutter war von dieser Freundschaft gar nicht angetan. Doch trotz all ihrer Dominanz schaffte sie es nicht, die beiden auseinanderzubringen. Auch wenn Herbert später Dieter immer mal wieder ein Mädchen ausspannte, ihrer Freundschaft tat das bis zum Schulabschluss keinen Abbruch. Das aßen sie an so einem milden Abend auf der Veranda: Dieters Eltern, Dieter und Herbert.

"Was machen wir jetzt nach der Schule?" fragte Dieter

"Mit deinem Abschlusszeugnis nehmen dich alle mit Kusshand," ganz die stolze Mutter, "wenn du die gehobene Laufbahn einlschlägst, haben dein Vater und ich nichts dagegen, wenn du zur Polizei gehst. Nicht Klaus!?"

Dieters Vater nickte wie einer, der im Nicken geübt ist. Herbert lehnte sich in seiner provokant lässigen Art mit dem Gartenstuhl gegen den noch sonnenwarmen Rauhputz, meinte schläfrig: "Wenn ich zurück bin, gehe ich vielleicht auch zur Polizei."

"Willst du tatsächlich auf so einem Überseedampfer anheuern?" fragte Dieter in einem Ton, der die Antwort eigentlich schon vorwegnahm.

"Von der muffigen Schule in ein muffiges Polizeirevier, in eine Uniform," Herbert zog die Mundwinkel herunter, "Besoffenen den nach-Hause-Weg erklären, alten Weibern über die Straße helfen? Da seh ich mir lieber erst mal die weite Welt an."

Wer genau hinsah, dem wäre nicht entgangen, wie Dieters Mutter aufatmete.


wird fortgesetzt

TheoLessnich
Abgemeldet

Beitrag von TheoLessnich »

"Wie ist der Name des Bewerbers?"

"Behrens, Herbert Behrens."

"Und?"

"Top Abschlusszeugnis." Die Personalreferentin blätterte in den Unterlagen, "alles Einsen und Zweien. Aber sonst, "ihre Nase wurde noch eine Nuance spitzer, "nur Heuerbelege von diversen Reedereien. Ein abgemusterter Matrose. - Also Absage?"

"Einen Moment! Wie alt ist der Bewerber? Haben Sie ihn sich persönlich angesehen?"

"Deer ist Ihr Jahrgang, Herr Lorenz. Ansonsten - schwer einzuordnen, so ein Schmuddeltyp."

Dieter Lorenz trat an das Handwaschbecken, wusch sich anhaltend die Hände, wirkte leicht abwesend. "Warum jagt man Jungen wie dich immerzu in den Beichtstuhl und zum Friseur?" Vor ewigen Zeiten hatte ihn das Herbert gefragt und dabei so gegrinst, wie nur er grinsen und damit Lehrer und andere Erwachsene auf die Palme bringen konnte. "Guck mich an, ich hätte den Friseur viel nötiger als du." Dieter warf einen Blick in den Spiegel über dem Waschbecken. Vielleicht braucht auch Herbert jetzt keinen Friseur mehr.

Die Referentin wartete noch geduldig bis sich Dieter die Hände trockenfrottiert hatte.

"Schmuddeltyp sagten Sie?"

"Entschuldigen Sie, ich meine......!"

"Schon gut. Das Revier 18A7, das ist doch so eine Schmuddelgegend. Da könnten wir doch einen Schmuddeltypen gebrauchen. Jeder, der dorthin versetzt werden soll, rennt doch sofort zum Personalrat. So ein Quereinsteiger könnte sich da doch bewähren."

******************************

Die Uniform passte Herbert wie maßgeschneidert. Rasiert und nüchtern war er eine durchaus respektable Erscheinung. Am Feierabend warf er sich in seine second- hand-Montur, seinen kleinen Bieranzug, ausgbeulte Jeans und abgeschabte Lederjacke. Die richtige Kluft für Charlies Inn im Rotlichtviertel.

In der Schule war Herbert in Mathe gut, noch besser beim Raufen. Jetzt hatte er sich aufs Saufen und Plauschen verlegt. Weit gereist hat er was von der Weelt gesehen: Piraten in der Straße von Malakka; Singapur, Galveston, Sidney, in Beirut will er im Mahabba und Le Dix genächtigt haben. Allein zwischen Bar, Bordell und Hafen ist die Welt doch nicht so überaus vielfältig, dass seine Saufkumpane und Kollegen seine Geschichten bald über hatten, mehr noch fanden die Kollegen, ein Ordnungshüter sollte sich doch nicht so sehr dem Milieu um dieses Revier 18A7 anpassen. Es hatte sich herumgesprochen: Der Chef protegiert diesen Typen. Dennoch mehrten sich die Andeutungen- nicht zuletzt von der spitznasigen Personalreferentin -, dass der Polizei mit diesem Neuen wohl doch nicht so der große Wurf gelungen ist.

**********************************

Dieter feuerte das Handtuch ins Waschbecken. Schon wieder vollkommen durchfeuchtet. Dass man hier nie genügend Handtücher vorhalten kann! Er war sich darüber im Klaren, wie unorthodox es wäre, wenn er sich in seiner Stellung persönlich mit diesem Quertreiber Behrens zu einer ernsthaften Aussprache treffen würde. Der alten Zeiten wegen, konzedierte er endlich. Dass er neugierig war, was aus seinem Freund aus Kindertagen geworden sein kann, - den Gedanken mochte er nicht zulassen, auch nicht den, dass er ihn früher mal bewundert hat. Er griff zum Telefon.



"Au prima," meinte Herbert, "dann reden wir über die alten Zeiten." - "Wir reden über die neuen Zeiten," korrigierte in Ddieter trocken. Gerade wollte Herbert das Treffen in Charlies Inn vorschlagen, doch da hatte Dierter schon wieder aufgelegt.


wird fportgesetzt

TheoLessnich
Abgemeldet

Freunde

Beitrag von TheoLessnich »

"Mach doch mal Licht!"

Komm, hier gleich rechts," Herbert schob seinen alten Freund Dieter in sein Wohnzimmer. "Siehst du, - extra für dich - habe ich den achtarmigen Leuchter angezündet."

"Hast du denn kein elektrisches Licht?"

"Seit mir das RWE den Strom abgeklemmt hat, sind mir die dauernden Strompreiserhöhungen egal, und ich ärgere mich auch nicht mehr über die lausigen Fernsehprogramme."

"Wo kann ich mir mal die Hände waschen?"

"Hast du wieder Frösche am Stacheldraht aufgespießt? Weißt du noch? Du warst damals richtig gut mit der Zwille, hast immer mehr von den am Stacheldraht zappelnden Lebendzielen erwischt als ich. Unser Pfoten, Mann haben die nach Frosch gestunken!" Der grinst immer noch so unverschämt! Er könnte auch mal zum Zahnarzt gehen. "Was darf´s sein? Bier, Schnaps?"

"Wenn du keine Stromrechnungen mehr bezahlst, kannst du dir wohl ´ne Menge Bier und Schnaps leisten? Nur, wenn du gefeuert wirst, weil du wieder mit einer Fahne zum Dienst kommst, dann wirst du wohl an allen Ecken und Enden sparen müssen."

"Weißt du noch,...."

"Komm, Schluss mit dem Schnee von gestern." Dieter rutschte mit dem Hosenboden auf der Couch umher, suchte eine Sitzstelle, an der die Federung nicht so piekste. "Heute hast du Probleme," muffelte er übellaunig, "über die müssen wir in deinem Interesse reden. Nur darum bin ich hier."

"Ist in Ordnung. War aber doch aufregend der Schnee von gestern, findest du nicht? Es war in den großen Ferien, als wir da gleich neben der Sstraße das Feuerchen gemacht haben." Dieters Augen schweiften auf der Suche nach einem Handwaschbecken mit Seife umher. Herbert lachte aus vollem Hals: "Mann, Dieter, erinnerst du dich an das Feuerwehr und Polizeiaufgebot? Sag selbst, hatten wir nicht immer Spaß - und keinen müden Pfennig in der Tasche."

"Egal was war, zählt heute nicht mehr. Du hattest hier eine faire Chance. Ich gebe dir noch eine, die allerletzte. Wenn du im Dienst oder privat noch einmal auffällig wirst, bist du draussen!"

"He, dann schmeiß mich gleich raus! Niemand außer mir selbst, auch nicht du verfügst über mein Privatleben. Wenn du glaubst, mich feuern zu müssen, dann tu es. Deswegen bin ich dir nicht böse.Was zählt schon so ein Sch...job gegen ....," Herbert brach ab.

TheoLessnich
Abgemeldet

Freunde

Beitrag von TheoLessnich »

Dieter seifte seine Hände nochmal kräftig ein, spülte nach, sah dem sämigen, in den Abfluß fließenden Schaum nach, sah dann in den Spiegel. Sähe ich mit einem Toupet noch wie früher aus? Herbert hat noch volles Haar, graumeliert. Sein Gesicht ist gedunsen, etwas. Dennoch war es Dieter bei der Begegnung mit ihm, als hätten sie sich nur mal kurz aus den Augen verloren. Mekrwürdig. Vielleicht lag es an dem schummerigen Kerzenlicht auf dem Achtarmigen. Dieter ist illusionslos genug , um zu wissen, was man ihm nachsagt: Humor und Frohsinn hat er nicht gepachtet. Auch sagt man, wenn er lacht, gibt es Nachtfröste. Waren doch komisch die alten Geschichten. Mit einem Lacher hätte ich mir doch nichts vergeben. Warum nicht, hätte den Ernst der Unterredung doch nicht geschmälert. Ich bin doch, verdammt nochmal, nicht mehr in der Schule. Da gab es immer mal wieder Ärger, wenn er sich bei den Zornesausbrüchen mancher Lehrer das Lachen nicht verkneifen konnte, bis er sich das unhörbare und unsichtbare Lachen, ähnlich einem Bauchredner antrainiert hatte. Das klappte dann automatisch auch beim Weinen. Ohne diese Fertigkeiten wäre er wahrscheinlich beruflich gar nicht so weit gekommen.

Herbert hat noch immer dieses pubertär provokante Grinsen von der Mundpartie bis hinauf zu den Augen, das sich abrupt zu einem kollernden Lachen steigern kann.

*******************************

"Wir stellen die Kündigung noch zurück bis er wieder aus dem Hospital ist," sprach Dieter mehr in den Spiegel über dem Handwaschbecken als in Richtung der Personalreferentin.

"Falls er wieder herauskommt," erwiderte die, er liegt auf der Intensivstation."

Dieter streifte die hochgeschlagenen Manschetten herunter, knöpfte sie etwas umständlich zu. "Das war´s dann?"

"Ja," die Referentin erhob sich und ging.

Intensivstationen sind Stätten des Abschieds mit mehr Kälte, Tristesse und Endgültigkeit als Bahnsteige. Dieters letzte Begegnungen mit seiner Muter und seiner ersten Frau fanden auch auf Intensivstationen statt. Die Frauen hatten ihn hilfreich auf dem hürdenreichen Weg nach oben begleitet in althergebrachter Doppelrolle als Staffage und Steigbügelhalter. Welche Rolle hat dieser Schmuddeltyp in seinem Leben gespielt? Eigentlich keine. Ihn besuchen, noch einmal auf einer Intensivstation Abscheid nehmen? Wieso?

Der Tubus hatte eine frappante Ähnlichkeit mit einem Schnuller. Herbert mit einem Schnuller, wenn das nicht komisch ist. Doch Dieter lachte wieder nicht, und wenn, auf seine antrainierte Art. Herbert gab zischelnde Laute von sich als Dieter verlegen an das Bett trat. Der Arzt nahm in beiseite, sprach von einer kaputten Leber und geplatzten Ösophagusvarizen. Der junge Mediziner erkannte in Dieter den stellvertretenden und kommenden Polizeipräsidenten. Er wusste, mit der Zunft kann man offen reden.

"Wäre er anenzephal könnten wir eventuell mit dem Einverständnis der nächsten Angehörigen den Tubus herausnehmen, dann verblutet er binnen Minuten. So müssen wir alle paar Stunden den Tubus lösen, damit er nicht festbackt, in der mehr als vagen Hoffnung, dass die Blutung doch noch zum Stillstand kommt. Doch selbst dann, mit der Leber kann er nicht weiterleben. Wir können ihm diese schmerzhafte Prozedur, den Tubus immer wieder zu lösen, nicht ersparen, sonst ist der Tubus am Ende nur noch kompliziert operativ herausnehmbar.

Sind Sie ein Angehöriger?"

"Nein, nein," murmelte Dieter, "er ist ein Mitarbeiter. Äh - wo kann ich mir mal die Hände waschen? Dieser Froschgestank."

"Wie bitte?" Der Weißkittel schaute irritiert. "Möchten Sie ein Glas Wasser?"

"Nein, ein Handwaschbecken, dieser Schmuddelkram." Dieter schnaufte, atmete dann aber ganz tief und rhythmisch, sagte bestimmt wie immer: "Wie ich sehe, ist der Mann den Umständen entsprechend versorgt. Ich kann hier nichts für ihn tun."

Seine Scchritte verhallten auf dem Korridor.

TheoLessnich
Abgemeldet

Wohnen - zu Hause sein

Beitrag von TheoLessnich »

Wohnen kann man überall, zu Hause sein auch?

Wenn morgens der Muckfuck in der weißen Emaillekanne dampfte, und wir Kinder uns auf der Holzbank in der Wohnküche eingefunden hatten, dann war es fast so, als wären wir während des Krieges gar nicht fort gewesen.

Fast! Der Krieg war vorbei. Wir waren älter geworden. Mutter sagte nicht mehr ihr Standart-Weihnachtsgedicht auf, wenn die Glut am Horizont den Sonnenaufgang ankündigte: "Christkind ist am backen, hört ihr das Holz nicht knacken..." Es war nicht mehr Christkinds Backofenglut, die aus der Baumreihe eine Linie Tusche-Silhuetten zauberte. Sogar ein Zug ratterte hin und wieder durch diesen "Erlenkamp". Früher nahm er in seiner Rauchfahne meine Träume mit. Sie begleiteten ihn über Brücken, vorbei an huschenden Masten, Scheunen, Dörfern. Vielleicht fuhr er bis Witebsk. Doch noch bevor ich ihm Grüße für meinen Bruder auftragen konnte, war er immer schon vorbei, oder ich war eingeschlafen.

Die Kinderträume waren zurückgblieben, wo wir während des Krieges gewohnt haben, wo ich vielleicht auch ein kleines bisschen zu Hause war. Unter dem schmalen Fußsteg neigte der unstete Bach das schlanke Grün der Wasserpflanzen in seine Fließrichtung, leckte neckisch an dem runzeligen Lehm des Uferstreifens, verlor sich unter den Rundbögen der grauen Natursteinbrücke in Düsternis und Reflektion.

Vorbei die Traumphase. Was kann ein junger Mensch an der Schwelle zur Pubertät träumen in so einer Schmuddelwirklichkeit, zwischen Trümmern und Zechenschloten, zwischen Hunger nach Essen, Sexualität, anständidger Kleidung, zwischen Enge, gescheiterten Patrioten, Schwarzhandel und dem virtuellen american way of life? Unglaublich viel, nur keine Kinderträume.

In einer anderen Stadt. Fast hätte ich aus dem Fenster in den Rhein spucken können. Drei Zimmer, Küche, Bad mit Aussicht in eine großstädtische Straßenschlucht, an deren Ende einer dieser Spitztürme mit der ehernen Stimme tönenden Erzes. Nazarenerzitat: "...und hätte die Liebe nicht, ich wäre ein tönendes Erz." Das allüberall tönende Erz, Schicksqal der Christenheit? Kindheitserinnerungen. Das schier endlose Verharren in <unbequemer> Stellung - auf den Knien. Längst in Gantanamo und an vielen anderen Orten vom CIA als probate Foltermethode praktiziert. Warum folterte man Kinder in Kirchen? Als Nagelprobe für die verordnete Feindesliebe?

Ein großer Bekanntenkreis, ein guter Job, was will man mehr? Wieder "ein bisschen" zu Hause? Hier hätten die Rheinschiffe mit ihren pochenden Stahlherzen meine Träume mit auf die Reise nehmen können. Dort vor der Haustür liegen heute weiße Luxusliner. Damals waren es Lastkähne. Auf dem Weg zur Arbeit half ich schon mal , die Haltetrossen von den Pollern zu lösen. Immer wieder sonntags führte mich mein Weg zu dieswem kleinen, feinen, griechischen Restaurant in der Alstadt. Hier kochte der Chef und zwar gut. Die Musik war nicht die von Theodorakis, Moustaki, Faranturi, hatte mehr diesen orientalischen Sound. Für die Griechen ein Stück zu Hause, nach der Musik tanzten sie in der Art des Alexis Zorbas.


Fortsetzung folgt

TheoLessnich
Abgemeldet

Wohnen - zu Hause sein

Beitrag von TheoLessnich »

Fortsetzung


Zurück nach Gelsenkirchen. In den folgenden Jahren war ich mit dem Broterwerb so beschäftigt, dass mir Veränderungen ringsumher kaum auffielen. Gewohnt habe ich überall, möbliert, in Hotels, auch schon mal - wenn alle Hotels ausgebucht waren - im Fitnessraum. Hätte ich darüber nachgedacht, wäre mir vielleicht aufgegangen, dass man das Zu-Hause-sein in den Genen haben muss. Erst als Rentner entdeckte ich so ein einigeermaßen statisches Umfeld, das man, wenn man will als das Zu-Hause begreifen kann. Vertraute Laute von einem Zug, das stereotype "Morgen" und "Tschüss" beim morgendlichen Brötchenholen an der Ecke, das Geplapper der Nachbarin - redet sie mit sich selbst oder ihrem Hund? - ein vertrautes Du beim Viertel Rotwein, Menschen, die nicht vom Geschäft reden, sondern über ihre privaten Beziehungen und Probleme und - ganz wichtig - die nahen Angehörigen einschließlich einer superschlanken Enkelin, die immer noch schlanker werden will.

Wenn das mit den Genen stimmt, dann bin ich ein Spätentwickler, oder das Leben unterbricht nicht nur den Tod, sondern auch das Gefühl zu Hause zu sein. Denn in der Jugend, da war doch auch schon mal so etwas.

Benutzeravatar
WeNe
† 08. 04. 2019
Beiträge: 2822
Registriert: 06.10.2008, 16:58

Kurzgeschichten

Beitrag von WeNe »

Wunderbare Kurzgeschichten, gefallen mir wirklich gut, Theo.
Gruß WeNe

TheoLessnich
Abgemeldet

Magic Guitar

Beitrag von TheoLessnich »

Manche werden schon altklug geboren. Das muss am Milieu liegen. Mutter sagte immer: Träume träumt man, das Leben muss gelebt werden. Nur wenigen scheint es vergönnt zu sein, das Leben zu träumen. Noch schwieriger ist es, Täume zu leben. Ich weiß es.

Wir, meine Kumpel und ich träumten wie so viele von einer Karriere. In Garagen, muffigen Kellern, an allen möglichen und unmöglichen Orten probten, experimentierten Träumer wie wir die abenteuerlichsten Stilrichtungen der Beatle Renaissance. Was hätten wir ohne Jan gemacht? Sein Lötkolben war ein Zauberstab, damit brachte er immer wieder den vorsintflutlichen Verstärker auf Touren. Und da war Djoschi. Der hat wohl mal eine Begegnung der besonderen Art gehabt. Wie der aus der Lesebuchgeschichte, dem der Teufel eine Geige geschenkt hat; wenn er darauf spielte, mussten alle bis zu Abwinken tanzen. Djoschi hatte so ein Ungetüm von Gitarre, schwarzbraun und abgegriffen wie Opas Machorkapfeife. Ich glaube, er war der Einzige, der wusste, wie man Träume lebt - am besten gar nicht.

Hinter dieser Puffbeleuchtung hier war damals eine ganz stinknormale Kneipe. Montags war Ruhetag. Dann durften wir hinten im Billardzimmer auf unseren Schrottinstrumenten rocken und träumen Die Mädchen waren auch aus diesem Viertel. Sie kamen und gingen wie die Straßenkatzen, mal schmusig, mal kratzig. Luzi war unser Star. Ihr Gesicht - fast nur Augen. An ihren Augen würde ich sie noch als Oma wiedererkennen.

Irgendwann kapierten wir, warum uns der Wirt so großzügig sein Billardzimmer überlassen hat. Es wäre an der Zeit, meinte er eines Tages, dass wir endlich auch mal etwas für ihn täten. Einmal pro Woche vorne in der Kneipe was Flottes für seine Gäste spielen, wäre wohl nicht zu viel verlangt. Ein paar Tage suchten wir nach einer neuen Spielwiese, ohne Erfolg, also willigten wir so widerwillig wie notgedrungen ein. Aus einmal die Woche wurde zweimal, dann dreimal. Der Wirt stellte noch drei Kellnerinnen ein, zog an diesen Tagen die Ziehharmonikatür zum Billardzimmer ganz auf. Draußen ließen die Sheriffs immer öfter geparkte Autos abschleppen, und bald verkehrten hier jede Menge Teens und schräge Vögel.

Bis der Rote kam. Wir dachten erst, der trägt so eine ausgeflippte Perücke. Breitärschig fläzte er da an unserem kleinen Stammtisch neben der provisorischen Bühne. Ehe wir ihn rausschmeissen konnten, schmiss er - eine Runde nach der anderen. Wer uns managt wollte er wissen, faselte von großen Auftritten, großer Kohle. Wir waren bald total besoffen. "Na klar, Alter," lachten wir uns kaputt. "Hand drauf, du wirst uns managen!" Wir schlugen in seine sommersprossige Schwabbelpranke ein. Nur Djoschi nicht. Der war noch nüchtern. Ich kann mich nicht erinnern, dass er dem Rothaarigen je die Hand gegeben hat. Der kam wieder. Es war noch früh, wir noch nüchtern. "Nichts für ungut, Mann," höre ich mich noch sagen und, "vergiss es. Bei dem Handschlag waren wir doch alle sternhagelvoll." Der Rote ließ aber nicht locker. "Sicher, der Termin ist kurzfristig," drängte er, "wir müssen uns also beeilen." Dem war es ernst! In der Merkatorhalle! Das konnte nicht wirklich sein. Schon am Freitag im Vorprogramm. Dann - nur noch Hektik. So viel davon, wir merkten gar nicht, wie wir schon in einen Trum katapultiert waren, der allerdings zum Träumen viel zu hektisch war, also gelebt werden musste.

Dieser protzige Musikladen, ganz aus Glas, war mir schon bei meinem ersten Besuch eine Offenbarung. Vom Manager abwärts steckte das Personal in so einer knallroten Einheitskluft. Da gab es mindestens zwei Tonstudios mit allen Schikanen, eine Empfangshalle fast wie ein Fußballfeld. Beim Anblick all dem glitzernden High-Tec-Equipment glitzerten auch unsere Augen: Saxophone, Waldhörner, vom Keyboard zum gläsernen Piano, Bratschen, Schlagzeug, mir wurde schwindelig. In diesem Paradies suchten wir uns unsere künftigen Instrumente aus. Der Rote forderte uns geschäftsmäßig - als gehöre ihm der ganze Laden - auf, hier gleich die Instrumente auszuprobieren. Das war komisch, wie Djoschi nach so einer piekfeinen Gitarre langete, wenigstens die Fingernägel hätte er sich mal sauber machen können. Als er dann ein paar Soli probte, da hörten alle auf zu arbeiten, standen nur so mit offenen Mündern und ganz großen Lauschern da. Der Rote hatte längst raus, Djoschi war was Besonderes, ein Zugpferd, dessen er sich aber anscheinend gar nicht bewusst war. Der Rote baute ihm alle goldenen Brücken. Dabei hat aber niemand von Djoschi verlangt, diesen feisten Kerl zu heiraten.


wird fortgesetzt

TheoLessnich
Abgemeldet

Magic Guitar Fortsetzung

Beitrag von TheoLessnich »

Wie spielt man nur mit schweissnassen Händen? Eine ganz neue Erfahrung. Selbst die Jeans eignet sich schweissdurchtränkt nicht zum Händetrocknen. Nie standen wir vor so vielen Menschen, es wurden immer noch mehr. Wohin wenn die anfangen mit Coladosen zu schmeissen? Als wäre man auf dem elektrischen Stuhl geschnallt und nur der Strom kann Erlösung bringen. So ein Smarty sagte uns an. Dann war es erst mal so wie hinten in dem Billardzimmer. Wir spielten einfach - unsere Musik. Erst konnten wir es gar nicht fassen - spielten dennoch weiter - diese mächtige Klangkulisse klang auf der Bühne beängstigend. War das normaler Beifall, hörte sich doch an wie ein Orkan. Der Djoschi, der muss wirklich den Satan genutscht haben. Wenn er seine extatischen Hochtöne über P.Floyds meedle-Sound in raunendes Wasser, in jene Surrealität ohne Schwerkraft wie WeNes Animationen lenkte, dann ging das schon immer in der Kneipe den Teenies ins Schambein. So wirkte es auch hier, in dieser riesigen Halle hätte man dann eine Stecknadel fallen hören können. Hank, der Schlagzeuger ließ es auch hier krachen. In der alten Kneipe klirrten dann die Gläser in der Vitrine am Buffet rhythmisch mehr fühl- als hörbar mit. Auch hier verschmolzen Hank und Djoschi wieder zu einer telepathischen Einheit, Hank gab das Tempo, Djoschi den Sound vor.

Die Presse verpasste Djoschi nach diesem Debut den Namen: " Magic Guitar". Wir fanden, ein guter Name - für die ganze Band.

Der Rote strahlte. Schöner wurde er dadurch nicht. Spätestens ab jetzt spekulierte er nicht mehr, er wusste, wir waren seine Goldader. "Morgen spielt ihr auf der Loreley, nächsten Dienstag in Nürnberg und dann packt schon mal die Zahnbürsten ein für die USA.

Im ungläubig ehrfürchtigen Erschauern rührte sich niemand, außer Djoschi. Der fragte: "Wird das dann so weiterrgehen?"

"Die Frage gefällt mir," belferte der Rote. "Was denkst du denn, Junge? Das ist doch erst der Anfang!"

"Das meine ich nicht," Djoschi trocken, staubte des Roten gesprenkelte Pranke von seiner Schulter, "was ich meine ist, ob wir vorher nie gefragt werden."

Von da an waren wir Magic Guitar.Real war Djoschi Magic Guitar. Ohne ihn waren wir nichts. Alle wussten das, am besten der Rote. Dennoch , Djoschi und der Rote, das war immer einer zu viel. Der Bruch war unausweichlich. Die Zeit damals einmalig. Viel zu kurz waren die Nächte fürs Träumen geworden. Traumlos lebten wir in einem verwirklichten Traum bis zu jenem Tag des letzten überwältigenden Erfolgs.

Magic Guitar im ausverkauften Base-Ball-Stadion in St. Louis. Gegen 10 p.m. hatte die Security das Gros der Reporter aus der Hotellobby gedrängt. Der Champus wurde jetzt nicht mehr verspritzt, er wurde hemmungslos gesoffen. Sogar Djoschi machte mit. Er war das nicht gewöhnt, es bekam ihm nicht.

"He, Djoschi, du bist der Größte. Ganz St. Clair liegt dir zu Füssen."

"Eine Nutte bin ich," eochte er. Es wurde leiser.

"Djoswchi hast du etwas gegen Nutten?"

"Ich habe etwas dagegen, eine zu sein!"

"Nun mal halblang," redeten wir ihm zu, "wir sind doch keine Nutten, du am allerwenigsten."

"Kerl werd mal wach und sieh uns an," ekelte er weiter. "Spielen wir noch was wir wollen, wo wir wollen, wann wir wollen? Nicht einmal anziehen dürfen wir noch was wir wollen."

"Ja Mann, guck dich an," funkte der Rote dazwischen. "Kohle haben wir bis zum Abwinken, können die Puppen tanzen lassen. Schnapp dir ein Groupie, hau damit ab ins Bett. Es gibt nichts Besseres gegen einen Moralischen."

Djoschi grollte: "Kohle haben wir wie die Nutten, und dafür bezahlen wir wie die Nutten mit allem was wir sind.


Fortsetzung folgt

TheoLessnich
Abgemeldet

Magic Guitar Fortsetzung

Beitrag von TheoLessnich »

Am andern Tag war Djoschi weg. Irgendetwas anderes als Musik machen hat er doch auch nicht gerlernt, und wenn er Musik macht wird er zum Supermagnet für Fans, die Fachpresse. Warum nur hat man nie wieder etwas von ihm gehört? Von Magic Guitar liest man immer noch mal etwas im Lokalteil: "Karstadt startet mit Magic Guitar in den Sommerschlußverkauf" oder so ähnlich. Nur immer ohne den Namensgeber.

Da gleich um die Ecke hat doch Luzis Vater seinen Saftladen. Hatte, ist jetzt eine Daddelbude. An der Kasse, das ist er, Luzis Alter. Warum lässt der sich keinen Bart wachsen, wenn die Kohle zum Lifting nicht reicht?

"Hallo, Herr Lambert!"

"Du?" Die Zigarette in seinem Mundwinkel machte einen spontanen Hüpfer, stäubte dabei zwei Zentimeter Asche auf seinn albernes Lederhemd. "Wieder mal im Lande? Siehst gut aus."

"Sie auch," log ich. - "Ist Luzi zu sprechen?"

"Die wohnt mit Djoschi in der Moselstraße, gleich neben Rewe."

"Mit Djoschi!?"

"Ja," er lacht, "die Gitarre hat er an den Nagel gehängt. Bei Greenpeace war er auch nicht lange. Jetzt jobbt er im St. Anna-Hospital."

Dann schau ich da einfach mal rein. Was erzählen wir uns? Dass Magic Guitar bei Betriebsfeiern und Kegelklubs aufspielt? Dass wir vielleicht das Falsche geträumt haben oder dabei auch nur das Schlafen vergessen haben?

Da, der alte Backsteinkasten, unsere ehemalige Schule. In allen Armeleutegegenden gibt es solche Schulen. Ihr Überleben verdanken sie der Resitenz vitaler Slums. Verdammte Träume. Schluß damit! - Doch kein Traum? Rockmusik - vom Feinsten, hinten aus der Turnhalle. Der Sound! Eine Gruppe Sechst-, Siebtklässler. Wahnsinn, was die schon draufhaben. Sie sehen eigentlich gar nicht so punkig aus. Bis auf die grün-rosa Perücke, darunter mehr Augen als Gesicht, darunter so ein ausladendes Ungetüm von Machorkagitarre.

"Hört doch nicht auf, spielt weiter! - Dieses gute alte Stück Gitarre, woher hast du die?"

"Von Daddy. Er hat mir gezeigt, wie man drauf spielt. Aber du, - bist du nicht der - äh, der Josi aus der Magic Group?"

"Schon möglich. - Seid ihr schon mal aufgetreten?"

"Das ist mein Traum, aber Daddy ist dagegen."

"Hör auf deinen Daddy, Rock Lady, hör auf ihn."

TheoLessnich
Abgemeldet

Headhunting

Beitrag von TheoLessnich »

Leise summend verschwand das Fensterglas in die Türfüllung. Da kam diese seltsame Verwirrung über den Headhunter.

Hatte die kristallklare Luft dieses Spätnachmittages diese Einzigartigkeit oder war es noch mehr? Wie konnte er überhaupt den Geruch frisch umgegrabener Gartenerde vergessen und sich hier und jetzt schlagarftig erinnern? Die spitzen Rufe des staksigen Mädchens dort vom Hügel, das Bellen seines übermütigen Hundes - diese Luft supraleitend macht sie alles unendlich weit, schält die Konturen des knorrigen Apfelbaums wie mit dem Skalpell aus diesem blau-weißen Mix des Unendlichen.

Die Dogmen seiner Zunft hatte der Headhunter schon lange verinnerlicht, das Pünktlichkeitsdogma sein ständiger Wächter einer höheren Zweckpedanterie - diese perfekte Synthese aus Fremd- und Eigensteuerung. Zu früh ist so unpünktlich wie zu spät, beides eine Todsünde. Er fand es schon lange nicht mehr komisch, die Pünktlichkeit hinter dem Steuer seines Dienstwagens herbeizudösen. Zeitpuffer nennt das die Zunft, Bestandteil des Zeitmanagements.

Seine Arbeitsergebnisse bewiesen es, er war adäquat konditioniert und hatte mittlerweile eine Menge Berufserfahrungen gesammelt. Die Brisanz eines simplen Zeitpuffers in supraleitender Kristallluft, hier und jetz eine neue Erfahrung.

Erinnerungsfragmente strukturieren sich wie Öltropfen in der Straßenpfütze, schlagen Brücken vom Geruch feuchter Gartenerde zu dem wilden Kirschbaum im Vorgarten seines Elternhauses, dem warmen Schnee seiner losgelassenen Blütenblätter auf den Gartenbeeten. Der Termin, das Endloband der Autobahn vorher, das Motel an der Abfahrt nachher - Illusionen, eine vertauschte DVD?: ein über den Hügelhang geneigter Apfelbaum, ein stürmender, bellender Hund, ein staksiges Mädchen, seine spitzen Rufe bei diesem alten Spiel mit dem Apportierholz.

Schnell aussteigen, sich die Beine vertreten, oder doch einfach alles so annehmen wie den Joint danach, ganz tief inhalieren? Habe das Seitenfenster doch schon geöffnet. Erfolg ist Heroin, Crack, der Bestätigung durch einen älteren Kollegen hätte er gar nicht bedurft. Aber das hier? Ich bin doch voll da, hellwach! Wäre da nicht die Digitaluhr im Cockpit und das eherne Pünktlichkeitsdogma gewesen, wer weiß, wann er dann wieder von diesem Trip heruntergekommen wäre.

Also stand er dann doch auf die Nanominute genau vor der Rustikaleichentür des Reihenhauses, drückte auf den Messingknopf, etwas hölzern, sonst wäre ihm der Laptop aus der Achselhöhle gerutscht. "Ding-dong," hallte es drinnen, hallte noch nach, da öffnete ihm auch schon diese Prachtfrau. Berufstätig, dynamisch, resolut sah sie aus, begrüßte ihn mit einem maskulinen Händedruck. Solche und andere speziellen Einzelheiten nimmt ein Headhunter blitzartig intuitiv wahr, sonst wäre er kein Headhunter wie ein Frosch keiner wäre, nähme er nicht selektiv seine Insektennahrung wahr. Eine Weile später fragte sich der Headhunter, wie kommt der nur an diese Frau - oder sie an ihn? Inserate, Mailboxen führen Menschen zusammen, Frauen und Männer, Headhunter und Headgames.


wird fortgesetzt

Antworten