Geschichte aus Gelsenkirchen aus jüngerer Vergangenheit

Schriftstellerei, Dichtung, Rezitation

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TheoLessnich
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Headhunting Fortsetzung

Beitrag von TheoLessnich »

An der Zimmerwand eine Klampfe mit so einem albern bunten Tragegurt. So ein pubertäres Fossil im Arbeitszimmer eines erfolgsorientierten Handelsvertreters, - dann schon lieber einen Tizian auf dem Klo eines Snobs. Passt alles zusammen : das altbackene Teölefon - noch mit Wählerscheibe -, sonst aber die totale Leere auf dem Schreibtisch, flockiger Staub auf den Katalogen in dem schmalbrüstigen Regal. Der ist schon verdammt lange clean, hat schon länger als vierzig Tage und vierzig Nächte gefastet. Hat es überhaupt Sinn, sich mit diesem Abstinenzler aufzuhalten? Wenn ich nicht jeden verdammten Abschluss brauchte. Es geht schon wieder auf das Monatsende zu. Das moderne Controling pornografiert alles, hebt das gewünschte rücksichtslos hervor, offenbart jede Normabweichung der Kontaktzahlen und Abschlussquoten.

Hochaufgeschossen und schlacksig wie ein Primaner kann ein Drücker ja sein, muss der aber hier wie ein Puffmusiker so herumhängen? Ein Jet donnerte über das Haus. Betont lässig stand der Schlacksige auf und schloss das auf Kipp stehende Fenster. Die wehende Bewegung der beige grün gemusterten Vorhänge gerann. Das Hundebellen, die spitzen Rufe des staksigen Mädchens rückten in weitere Ferne, gelierte mit Bruce Springsteen aus dem Nebenszimmer und dem trockenen Plopp-Plopp der Laptoptastatur. Auf dem grünlichen Display phosphorizierten die Zahlencodes des Wohlstands: der Markt, Potentiale, Volumina, sauber segmentiert das Mysterium. Online mit jenen anderen Cyberwelten, in denen auf wundersamer Weise Demographie materialisiert in Umsatz, Provisionen, Ansehen, alle Reiche dieser Erde. Doch das feine Lächeln verriet den Schlacksigen: Dies war nicht seine erste Technoséance. Wie ihm auch die Semantik der Macht nicht mehr fremd war: Strukturvertrieb, Franchising, Gottesgericht. Sie werfen dich ins Wasser, du ertrinkst, warst also ein kreuzbraveer Kerl, - oder du schwimmst ein bisschen, dann hast du einen Pakt, musst ausbrennen auf dem Scheiterhaufen des Vertriebs.

Einen ansehnlichen Stapel solcher hire-and-fire-Verträge hatte sich schon in dem rechten Schubfach des Schlacksigen angesammelt. Die unbedruckten Rückseiten eignen sich gut für Telefonnotizen. Die Diktion der Vorderseiten leicht variierend, das Normative nicht: Pflichten und Rechte sauber getrennt und aufgeteilt; alle Rechte der Ffirma, jedem das Seine. Final wird auch dieser Headhunter seinen Vertrag präsentieren. Das Lesen erübrigt sich.

"Weiche Satan!" Schwer gesagt, auch wenn es gar nicht um alle Reiche dieser Erde geht; nur um ein paar Markenklamotten, Mountinbyks, Inlineskater, um die nervenden Quengeleien frustierter Kinder, gestundete Hypothekenraten, eine resolute Ehefrau, die mehr Aktivitäten als die im Bett fordert. Mehr als genug Futter für die Eigendynamik dieses profanen Rituals.

Dabei wussten es der Hunter so gut wie der Schlacksige - beide wussten, dass es der andere auch wusste - nämlich, dass der Glaube vielleicht ja allesmögliche versetzen kann, nur nicht die Zahlen des Hexeneinmaleins in Designerwaren, Bykes, Skater, in all das, was das omnipräsente Konsumcredo gnadenlos einfordert. Vor diesem Wissen hat nur der fragile Glaube natürlich keinen Bestand, der magischen Eigendynamik des Rituals aber kann es nichts anhaben.

Das staksige Mädchen mit dem Hund und dem Apportierholz war verschwunden, als der Headhunter mit seinen Schamanenutensilien wieder hinaus ins Freie trat. Der knorrige Apfelbaum aber stand immer noch da über dem Abhang gebeugt. Den sah der Hunter jetzt auch nicht. Dabei war es noch hell.

TheoLessnich
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Auch die Zeit braucht mal eine Verschnaufpause

Beitrag von TheoLessnich »

Ein ferner Ort. Viel Natursteinmauerwerk: die Kirche, die Mauer um das Pfarrhaus, den Pfarrgarten, die Bogenbrücke über dem Bach. Enge, hoperige Gassen einem Spinnennetz gleich, Fachwerkhäuser dicht gedrängt wie Hühner im Regen. Großäugiger Holunder reckte sich neugierig über die Spitzwegmauer des Pfarrgartens, sah auch auf Fedor, den reglos in der Gosse liegenden Ukrainer. Sie hatten ihn zusammengeschlagen und getreten.

Ein paar Tage vorher hatte er mir das kyrillische Alphabet erklärt. Mit einem Holzstück zeichnete er die mir fremden Schriftzeichen in den lockeren Boden. Unglaublich, - russische Untermenschen besuchten Schulen? Lernten wie wir lesen, schreiben, nur etwas anders, auch rechnen, sogar Fremdsprachen wie Deutsch? Fedor sprach gebrochen deutsch.

Irgendwo fand der Krieg statt. Trotzdem war er gegenwärtig. Immmer öfter trug der Dorfbote die Briefe des Oberkommandos der Wehrmacht aus. Wir Kinder folgten ihm. Manchmal erhob sich Wehklagen, manchmal senkte sich nur so etwas unbestimmt Bleiernes auf Haus und Hof der für das Vaterland gestorbenen.

Unser rustikaler Kanonenofen bullerte ganz ähnlich wie die Frankfurt anfliegenden Bomberverbände in einer gespenstischen Szenerie, wenn die als Christbäume bezeichneten Leuchtkörper am Nachthimmel die natürliche Licht-Schatten Geometrie des Mondes pervertierten. Immer öfter spuckte der Himmel Tiefflieger aus, die auf alles ballerten, vielen Ziegeldächern das Aussehen unbehandelter Greisengebisse verliehen.

Fortsetzung folgt

TheoLessnich
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Beitrag von TheoLessnich »

Fortsetzung: Auch die Zeit braucht mal eine Verschnaufpause

Die Angst hatte seine wahre Fratze demaskiert. Nie hätte ich diesem bulligen Typen zugetraut, so behände, Haken schlagend über einen Rübenackeer zu hetzen. In vermeindlich sicherer Deckung wartete ich auf den Rückflug der Jabos. Auf dem Acker ohne Deckungsmöglichkeit konnten sie ihn doch unmöglich verfehlen. Aber sie drehten ab. Enttäuschung und Verlust jeglichen Repekts vor diesem brutalen Schläger von Schulleiter, vor allen prügelnden Lehrern dieser Welt.

Die geschlagene Hakenkreuzarmee passierte auf dem Rückzug unser kleines Dorf. Sie bezog Quartier. Der Kommandant wolle das Dorf verteidigen, wurde gemunkelt. Die Soldaten wollten diesen nibelungentreuen Hurkatoren umlegen, wurde getuschelt, um die eigene Haut zu retten und damit auch das Dorf vor der Zerstörung.

Manche hatten Schutzstollen in den Berg getrieben. Wir suchten das Heil im Keller unseres Hauses. Keine schöne Vorstellung, ein mit Balken und Schutt blockierter Kellerausgang, darüber ein brennendes Haus. Kindlich genug, zu glauben, kein Kind mehr zu sein, schaffte ich Spitzhacke, Schaufel und Axt in den Keller klammerte mich magisch infantil an die Hoffnung dieser Rettungsutensilien.

In banger Erwartun hockten wir dann in diesem Loch. Wieder das Bild des total verschütteten Kellerausgangs vor meinem geistigen Auge. Ich hielt es nicht aus, flog die steile Kellertreppe hinauf und raus. Im Plumpsklo hinten im Hof entleerte ich mich eruptiv. Hier roch es nicht nach Kartoffeln, Sauerkraut, Muff und Gruft, nur nach Scheiße.

In einem wie ausgesstorben wirkenden Dorf allein, nur mit den eigenen Angstendophinen. Vielleicht mit einer Prise LSD? Die Schritte hallten wie in einem leeren Kirchengewölbe. Der von meinen löcherigen Schuhe aufgewirbelte Chausseestaub, unnatürlich träge wie die letzten Falter im Spätsommer. Der schmale Bach hatte sich akustisich in einen Mahlstrom verwandelt. Die schwarzen Brückebögen schlürften die stumpf damaszenische Wasserfläche in sich hinein. Welcher Schabernackspieler hat den steinernen Nepomuk auf der Brückenbrüstung so grotesk geschminkt, die Konturen und Fugen der alten Bruchsteinbrücke mit Tusche nachgezogen?

"He, du verdammter Götze. Ich beschwöre dich. Los, zeig mal deine Macht!"

Fortsetzung folgt

TheoLessnich
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Beitrag von TheoLessnich »

Fortsetzung und Schluss:Auch die Zeit braucht mal eine Verschnaufpause

Im Bahnhofsgebäude war nichts mehr heil. Vor kurzem müssen hier noch Züge gefahren sein, die Laufflächen der Schienen schimmerten noch matt. Überall die Hinterlassenschaft der getürmten Armee: Munitionsketten, Handgranaten, Panzerfäuste, Karabiner, Stahlhelme, Uniformstücke und Glasscherben. In einer windgeschützten Ecke hinter dem Gebäude kokelten unter einem Rauchstreifen Soldatenidentitäten, ein fast mannshoher Haufen Wehrpässe. Irgendwo hier müssen sie doch den Kommandanten mit zerschossenem Schädeöl abgelegt haben. Solche Fanatiker kommen doch nicht zur Vernunft.

Von der Hauptstraße ein anschwellendes Geräusch. Panzerketten. Ein Vorposten der Kaugummikultur? Ein Spuk löst sich auf. Ein endloser, tarnfarbener Lindwurm windet sich durch die gekrümmte Durchgangsstraße: Panzerspäh-, Lastwagen, Jeeps, Kanonen und immer wieder Panzer. In Stahl und Eisen geballte Macht. Wachsame Augen, protzige Zigarren zwischen martial gebleckten Zähnen hinter schussbereiten Maschinengewehren. Allmkählich kamen die Menschen wieder hervor, standen schweigend Spalier an diesem denkwürdigen Tag, an dem die Zeit kurz innehielt, um dann mit feiner Richtungsänderung weiter zu fließen.

TheoLessnich
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Tauwetter

Beitrag von TheoLessnich »

Leichtes Dämmerlicht herrscht während der Vorstellungen auf den Zuschauerrängen des Eisstadions, die Zuschauer selbst undurchschaubar schwarz. Tausend Augenpaare machen aus tausend Zuschauern einen Megavoyeur, der Applaus aus tausend Kehlen eine Megastimme, das Klatschen von tausend Händen einen einzigen Geräuschschwall. Die Jury präsentiert ihre Karten, krächzende Lautsprecher verkünden die Wertungen. Dann ist es wieder mal vorbei, erlöst aus dem einzigartigen Zauber aus Schwerkraft und Bewegung da auf der Eisfläche.

Unendlich lanjge ist das her, noch länger, als ich selber wie jetzt im Zuschauerraum saß, nur viel weiter hinten, doch nicht im Rollstuhl. Bin wieder ein Atom des Megavoyeurs. Jeder kann das sein. Für die andere Rolle musst du gut sein, verdammt gut, so gut wie Tanja und ich waren, viel besser als die, die gerade nach dem altbackenen Stravell da hin und her kaspern.

Bei unmäßigem Schmerz schaltet das Gehirn ab, dachte ich früher. Mein Augenlicht hat nur kurz geflackert, als der PKW mein Rückenmark durchtrennte. Seitdem sehe ich die Welt aus der Kinderperspektive des Rollstuhls.

Die Besuchsabstände in der Reha wurden immer länger, die Abstände zwischen den Stürzen aus dem Rollstuhl auch. Bei ihrem letzten Besuch steckte mir Tanja nervös ihren Brief zu, mehr ein Zettel. Ich wusste was drin stand. Ich las ihn trotzdem.

Fortsetzung folgt

TheoLessnich
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Fortsetzung Tauwetter

Beitrag von TheoLessnich »

Wir waren Kinder der Straße. Gern wäre ich es wieder. Die Vitalstrategien von Straßenkindern sind genetisch unbewusst, sie sind also bewusstlos zum Leben programmiert. Wäre nur dieser Faden bei meinem Unfall auch durchtrennt worden. Das Wünschen ist zäher las das Hoffen.

Bewusstlose sind unglaublich vital. Selbst die Hässlichkeit unserer Straße, des ganzen Viertels konnten wir ignorieren. Kein Tag-Nacht-Rhythmus, die Schichtarbeit gegenüber beim Walzwerk bestimmte die Lebensabläufe. Niemanden fiel die chaotische Nivellierung der Blaupflastersteinbe auf, wohl Tanjas Zähne. Ihr Vater ließ sie mit einer Zahnspange richten.

Tanjas frühes Leben ereignete sich im Mief der Eckkneipe. Sie füllte nicht viel mehr aus als schlichte Verbal- und Knobelbechergeräusche und deren Verursacher. Der kleine Schalter für den Straßenverkauf von Bier und Zigaretten sicherte vielleicht das Überleben. Bier und Flachmänner für eine bessere Bewusstlosikeit?

Tanjas Vater der Kneipier und meiner der Blaumann vom Stahlwerk, sie kauften uns die ersten Schlittschuhe, die ersten Kostüme, zahlten die ersten Startgelder, zeigten stolz die Zeitungen herum, die uns im Sportteil - manchmal mit Bild - erwähnten. Es waren die Anfänge des Aufbruchs durch Smog und Schwaden zur Sonne des Großbürgertums mit gerichteten Zähnen, lackerten Fingernägeln, Designerklamotten, der Sonnenbrille im Haar.

Der Hallenwart ließ nicht nur mit sich reden, er ließ uns auch immer mal wieder außerhalb der offiziellen Zeiten ein in das Eisstadion. Dann liefen, tanzten wir selbstvergessen, hatten die ganze Eisfläche für uns. Das große Publikum, die Scheinwerfer, Spotstrahler zauberte spielend unsere Phantasie herbei. Allein Pink Floyds meedle war wirklich, weil ein Faible des Hallenwartes.

Fortsetzung folgt

TheoLessnich
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Fortsetzung Tauwetter

Beitrag von TheoLessnich »

In der Reha keine Spur von Promotern, Choreografen. Unser einstiger Manager machte mal eine Stippvisite. Der war eh immer unter Qualm. Da lernte ich einen ganz anderen Personentyp kennen, die Wissenden. Sie kennen nicht nur alle Antworten, schon alle Fragen, die Pfarrer und Psychologen. Die wussten von vornherein: Der wird nie wieder... Meine Rebellion dagegen hat mir nichts genützt.

Der Megavoyeur ist auch nicht mehr, was er mal war. Er applaudiert schon wieder. Sieht denn niemand, wie unsauber sie gesprungen ist? Wie der sich beim Heben quält! Applaus wofür, für das dreiste Grinsen? Tanja und ich, - kein Vergleich, keine Probleme beim Heben, keine Sprungprobleme. Meine Arme sind immer noch kräftig. Die Kraft meines Unglaubens an der Dauerhaftigkeit meines desolaten Zustands - Ironie, gewohnt hart trainierend machte er mich umso rascher zum zweiräderigen Androiden. völlig nutzlos, noch nutzloser als die ganze Eiskunstlauferei.

Hass ist ein Schwert, das dich selbst zerfleischt. Dieser verdammte Konfuzius, er war kein mit dem Rollstuhl verwachsener Krüppel, so wenig wie der gönnerhaft ölige Pfaffe, der smarte Klinikpsychologe, zum Teufel mit Platon, Jesus und dem da auf der Eisfläche, er ist doch ein Hohn auf die ganze Zunft, ist noch lange nicht reif für öffentliche Auftritte. Aufhören! Dazu diese unmögliche Musikbegleitung, warum nicht gleich sturday night und rap? Bei dieser blechernen Akustik von vorgestern drückt der Fatzke jetzt aufs Tempo, fliegt an mir vorbei, nichts besseres fällt ihm ein als dieser stumpfsinnige Wechsel von der albernen Toreropose zum hüpfenden Schimpansen - unerträglich!

Wo ist nur mein Krückenköcher? Da die Krücke, gefühlloses, trockenes Ersatzgebein, hart wie Eis. Nur nicht die Balance verlieren, nicht zu weit ausholen. Aber jetzt mit aller Kraft, die Krücke mitten hinein in dieses unwürdige Szenarium. Gut so, da ist dein Platz, Fatzke, bäuchlings auf dem Eis!

Zum ersten mal nach langen Monaten lache ich wieder, lauter als das dümmliche Stravell-Gedudel, lauter als der kollektive Aufschrei, lache immer noch als sie mich zu Boden zerren, mich blutig schlagen, kann gar nicht mehr aufhören zu lachen.

TheoLessnich
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Beitrag von TheoLessnich »

Schlaflose Nächte

Bisher hatte er keine Ahnung, wie lang so eine Nacht sein kann. Dabei hatte er so manche Nacht nicht einfach so verschlafen. Er knipst die Nachttischlampe an. Der Uhrzeiger schläft. Er ist sich nicht klar darüber, was ihm lieber wäre, dass die Nacht schon um wäre oder die Uhrzeiger rückwärts liefen.

Er musste sich ablenken. Denk an was Schönes. Muss nicht unbedingt schön sein, etwas anderes tut es auch. Wie war das damals? Warum nur habe ich mir so viele Nächte in diesem Orkus von Kneipe gleich neben der Bushaltestelle um die Ohren geschlagen? Drinnen war es nicht viel anders als draußen. Draußen schwitzten die antiquierten Straßenleuchten gerade so viel trüb gelbliches Licht aus, dass sich zwischen den Funzeln das speckig glänzende Blaupflaster der Straße noch so eben von dem noch dunkleren Gehweg abhob. Am Tage sah es hier nur etwas anders aus, nicht besser.

Vor der Kaschemme drei, vier graue Steinstufen. Die Türklinke etwas wackelig. Die Tür schwang automatisch wieder zurück, dahinter noch mehr Finssternis bis die tastende Hand den eerdbraunen, kunstledergesäumten Filzvorhang teilte, dahinter die verräucherte Trostlosigkeit eines Gastraums, die Trommelfelle traktiert vom Marathon der Juke-Box: Heintjes Schloss, kleine Anabell....

Wieder knipst er die Nachttischlampe an, sieht nach der Uhr. Etwas steif steht er auf, geht zur Toilette, lauscht angespannt. Zweimal in der letzten Viertelstunde war das Flurlicht eingeschaltet worden, jedes mal von einem Nachbarn. "Um zehn bin ich wieder zu Hause", hatte sie versprochen. Das hatte sie schon oft, zu oft. Gleich muss die Türklingel anschlagen. Wird sie wieder von der Polizei gebracht?

Was für ein Ort diese Kachemme. Ein Ort mit diesem typischen Geräuschmix: Schnulzenmarathon, Flipperstakato, Stimmengewirr, Ventilaorgesumme, ein Ort des Miefs von Vergorenem aus Trinkgläsern, Spülbecken, verschwitzten Klamotten, überlasteten Mägen. Ein Ort der ständigen Demonstration der verschiedenen Phasen des Alkoholsuizids, ein Ort der Spiegelbilder von Wohn-, Familien-, Arbeitsverhältnissen, ein Sammelsurium fehlendeer Identitäten, Perspektiven, Triebefriedigungen. Drinnen wie draußen, nur drinnen mehr verdichtet, mehr karikiert, ein Asyl für Renomierer, Neurotiker, Exhibitionisten, - Verlierer. Der Alkohol, der alles bindende Leim, er recycelt diesen ganzen stereotypen Stumpfsinn der Verdrängungen mit Hilfe von Knobelbechern, Poolbillard, Kicker, Flipper. Was hat mich nur immer dahin gezogen?

Fortsetzung folgt

TheoLessnich
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Beitrag von TheoLessnich »

Fortsetzung Schlaflose Nächte

Ob mit oder ohne Polizei, egal, wenn sie nur schon wieder heil zurück wäre. In diesen schlaflosen Nächten dämmert im vor dem Morgen, was er selbst früher seinen Eltern zugemutet hatte, auch er ging und kam wie es ihm beliebte. Mutter stand immer auf, wenn er nach Hause fand, wie spät es auch war. Vater tat immer so, als würde er schlafen, vielleicht schlief er wirklich. Mutter lamentierte, forderte Vater auf, es dem Loddersohn handgreiflich beizubringen, was sisch für einen ordentlichen Menschen gehört. Der redete sich heraus: "Ein Junge kann ja nichts mit nach Hause bringen." Der Junge war ihm über den Kopf gewachsen, nicht weniger jähzornig als er selbst in seiner Jugend. Du warst selbst ein Schwein, sagt er sich jetzt, also bedaure dich nicht. Und die Nacht ist noch lange nicht vorbei, die Uhrzeiger kleben am Ziffernblatt.

Sie tanzte gern - entrückt lächelnd - mit dem zahnlosen Ober oder sonst irgendjemanden nach der Hämmerchen-Polka. Auf ihre Rolle als Weibchen wurde sie schon früh getrimmt. Seltsame Blüten treibt der Ehrgeiz der Verlierer mitunter. Ihre matronenhafte Mutter war kein Kredit, kein Opfer zu groß für den brotlosen Verliererwettbewerb der Eitelkeiten. Unverdrossen staffierte sie ihre besser als sie selbst gewachsene Tochter zum Präsentieren aller möglichen Billigsortimente der diversen Versand- und Klamotten - Warenhäuser aus. Dies ist der einzige Wettbewerb, der auch ohne Konkurrenz auskommt und dabei noch dieses somnabule Hochgefühl erzeugt.

Dieser ganze Aufwand und kosmetische Kleister, all diese Kopulationsbereitschaft signalisierenden Gesten, das verträumt auffordernde Lächeln für das offenbar einzige Lebensgefühl einer Traumtänzerin samt ihrer Mutter. Es fordert immer wieder - mindestens an jedem Wochenende - unnachgiebig einen neuen Auftritt in einem neuen Billigfummel aus irgendeinem Massenkatalog oder Warensortiment, verzaubert so eine Radaukneipe in eine imaginäre Weltbühne, einen Opernball und die Akteurin selbst in die bessere Kopie ihres Yellow-Press-Idols.

So tanzte sie unter dem stolzen Blick ihrer Mutter, den stieren Blicken der Semileichen, lächelnd, selbstvergessen, - vergessen ihr verwahrloster Haushalt, vergessen ihr lumpenproletarischer Alltag. In der Box wechselt die Schallplatte von Polka auf Tango, Gerhard Wendland schnulzt, die Bewegungen des Tanzpaares werden langsamer, lasziver. Sie genießen den Tanz, die stieren Blicke, die Erektion. Sie tanzen hinein in den Morgen, vorbei an fahlen Barackengesichtern, an grinsend und schnaufend geöffneten Mündern, vorbei an öligen Haaransätzen und nicht mehr ganz porentief reinen Hemdkragen, vorbei an dem stubigen Filzvorhang, durch Gegröle, Idiotengestammel in mitten dieser lustigen Schar derer, die nichts zu sagen haben und davon reichlich Gebrauch machen.

"Plopp," jemand schaltet wieder die Flurbeleuchtung ein. Nahezu gleichzeitig schnappt unten die Haustür zu. Er lauscht wieder angespannt: Schritte im Treppenhaus. Warten, lauschen, Stille. Hoffentlich kommt sie niemals so an wie ich damals. Schnell habe ich mich an Mutter vorbe in mein Schlafzimmer gestohlen. Erst am Frühstückstisch am andern Morgen wurde Mutter schreckensbleich. War schon vor dem Aufstehen eine harte Prozedur, das Kopfkissen von dem blutverkrusteten Kopfhaar zu lösen. Der Andere war natürlich nicht besser, nur nicht so besoffen wie ich. Worum es bei der Auseinandersetzung ging? Um kein Mädchen, um irgendeine alberne Ehre. Das Gesicht kommt schon wieder in Ordnung, nur verlieren darf man es nicht.

Fortsetzung folgt

TheoLessnich
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Beitrag von TheoLessnich »

Fortsetzung

Schlaflose Nächte

Um ein Mädchen, eine Frau hatte er sich nie geprügelt. Seine Ehefrau hätte das vielleicht mal gerne erlebt. Dann hätte sie ihn früher kennen lernen müssen. Zu ihrer Zeit hatte er sich schon eine bessere Waffe als seine Fäuste zugelegt: dieses scheinbar gelangweilt arrogante Grinsen. Er ließ sie immer lächelnd traumtanzen mit dem Ober, mit jedem, der mal wollte. Niemals hätte er zugegeben, dass ihm das nicht ganz egal war. Er verlor nie sein Gesicht. Ist ja viel mehr als Fassade, dieses süffisante Keep smiling, ist ein undurchdringlicher Panzer, macht unverwundbar. Hätte sie sich ja auch zulegen können, statt alberne Szenen zu machen. Schuldig geblieben sind wir uns gar nichts. Jeder hatte seinen ganz eigenen Spaß, jeder wusste es von dem anderen, gab es aber patout nich zu. Wer hat damit angefangen? Was spielt das für eine Rolle?

Ohnehin hat alles seinen Anfang und sein Ende, jede Ehe, jedes Warten, jede Nacht. Was bleibt ist Keep smiling. Sogar so ein Richterspruch hört irgendwann auf. wirksam zu sein. Dann als die heranwachsende Tochter - Sorgerecht hin oder her - mit Sack und Pack zu ihm zog. Seitdem hat er diese verdammt langen, schlaflosen Nächte.

Licht schimmerte durch den Türspalt. Er muss wohl eingeschlafen sein. Er steht auf, geht hinüber ins Wohnzimmer. Wie swoll er diesen Blick deuten? Wirres Haar, Alkoholfahne, das üppige Make up verschmiert. Und dieses andere Lächeln. Nicht arrogant, eher verlegen.

"Weisst du die Straßenbahn..." Er weiss. Ihr Lächeln übermüdet, abgelöst von so einem melancholischen Zug um den Mund, für den das grotesk geschminkte Kindergesicht eigentlich noch viel zu jung ist. Die Weibchen sterben nicht aus. Leicht schwankend geht sie in ihr Zimmer. "Sei nicht sauer", wendet sie sich nochmal um, "mir ist ja nichts passiert."

"Wir reden morgen darüber", hört er sich sagen und - er lächelt. Er weiss, jetzt werde ich tief schlafen die zweieinhalb Stunden bis zum Weckergeläut. Und den Tag morgen im Büro, den wird er auch überstehen. Auch da wird er wieder lächeln.

TheoLessnich
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Souvernirs... Räumt nur nie Eure Schubladen auf

Beitrag von TheoLessnich »

Die salzige Nordsee hatte unendlich viel Zeit, diesen schwarzen Stein so flach und glatt zu polieren. Woher all dieser Plunder war, der sich hier im Lauf der Zeit in dieser noch nie aufgeräumten Schublade angesammelt hat, keine Ahnung. Nur an diesen glänzenden Stein erinnere ich mich. Zeit kann ihm nichts anhaben, nicht einmal Staub hat er angesetzt. Platt ist er wie eine Flunder, trotzdem drückte er mich da am Sandstrand unangenehm im Kreuz. Sicher, das ist kein Grund, ihn mit nach Hause zu nehmen, ich tat es trotzdem.

Nur das Möwengeschrei hielt mich hier am Strnd von Zandvoort halbwegs wach.. All den versäumten Schlaf konnte ich eh nicht nachholen. Dieses Bikinimädchen war in der ganzen Nacht doch zu lebhaft. Wenn wir mit dem ordinären VW-Käfer hierher kamen, passierte das nicht. Doch mit diesem geliehenen Porsche des Freundes! Dann hatten die Strandschönen immer ihre Uhren, Streichhölzer und Feuerzeuge zu Hause vergessen, holten sich bei uns Feuer und fragten nach der Uhrzeit.

Und dann dieser Vormittag danach am Strand: Schläfrig sah ich der Schar spielender Kinder zu. Gesenkten Blicks huschten sie über den mit Muscheln übersäten Sandstreifen, bückten sich hin und wieder, um ein besonders schönes Exemplar Muschel aufzuheben. "Die haben schon gefunden, was sie suchen," hörte ich meinen Freund aus der anderen Welt der Hellwachen. Ich grunzte unwillig, veränderte meine Liegeposition, spürte jetzt diesen platten Stein im Rücken. Klar, wenn Kinder die Fundstücke aufheben und besichtigen, passen sie unbewusst entweder die Muschel ihrem Wuinschbild im Kopf an oder umgekehrt. Geht uns Erwachsenen auch nicht anders, wenn wir uns für irgendetwas entscheiden. Eine objektive Übereinstimmung unserer Wunschvorstellung mit der eigensinnigen Wirklichkeit, die gibt es nun mal nicht. Da bleibt dir keine andere Wahl, als dir für den Seelenfrieden selbst etwas vorzumachen. Mit unseren Frauen ist uns das wohl nicht so ganz gelungen, sonst wären sie nicht zu Hause und wir hier, um mit Bikinimädchen zu schlafen. Er lacht hellwach; in meiner Schläfrigkeit habe ich wohl laut vor mir hingebrabbelt.

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TheoLessnich
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Beitrag von TheoLessnich »

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Souverniers - Schublade

Am besten leere ich diese staubige Schublade komplett in den Mülleimer aus. Tabula rasa! Knobelbecher, Maultrommel, Zigarrenaschneider, Schrauben - und dieser ominöse Stein. Mit dem Rauchen habe ich schon vor Jahren aufgehört, Kondome benutze ich auch nur noch selten. Wenn ich schon anfange, meine Vergangenheit zu entrümpeln, muss ich dann unbedingt bei dieser Schublade anfangen? Ich könnte mich erst mal über die Kleiderschränke hermachen, die spserrigen Karriereuniformen. Einst waren sie wichtige Insignien der Gentrifizierung, bin heute längst aus ihnen herausgewachsen. Doch gar nichts von all dem ist nutzloser und überflüssiger als dieser bescheuerte Stein von der holländischen Küste. Also Fenster auf und raus damit! Der ist flach, der würde selbst im Schuh nicht drücken, aber ganz schön weit segeln mit all den Erinnerungen eines Invaliden.

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Cosmocontrol

Beitrag von TheoLessnich »

Sie weilten wieder auf diesem blauen Planeten Erde, protokollierten: Die Weiterentwicklung scheint noch immer offen. Traurig zu sehen, dass auch hier der Ausbildung von Großhirnen die Tendenz zur Selbstzerstörung immanent ist. Nur ganze vier von mehreren Milliarden Wesensarten haben diese Entwicklung länger als - in Erdenzeit gemessen - acht Jahrtausenden ohne Eigenelimination überlebt. Bei dem letzten Inspetionsbesuch vor etwa einem halben Jahrtausend Erdenzeit erlebten die Cosmoinspetoren laut Logdatei die Verbrennung eines ihrer kollektiven Entwicklung voraussgeeilten Individuums: Jordano Bruno. Er hatte klarsichtig aber verbotenerweise schlussgefolgert und geäußert, es müsse im Kosmos hunderte Welten wie die Erde mit vernunftbegabten Wesen geben. Sogleich schlug da wieder diese verhängnisvolle Vernichtungsdeterminanz der neokortikalen Entwicklung durch, und wieder fiel es den Inspektoren schwer, sich an die oberste Direktive zu halten, die ein Eingreifen in fremde Kulturen strikt untersagt. So starteten sie nach einer angemessenen Verweildauer wieder mit neuen Vermerken in der Logdatei:

Die derzeit dort lebenden Erdenbewohner lassen noch immer jede kognitiv soziale Emergenz vermissen. Daher wird die nächste Kontrolle frühestens nach einem vollen Jahrtausend empfohlen. Zwar haben sie inzwischen eine Fülle naturwissenschatliche Erkenntnisse hinzugewonnen und in Technologien umgesetzt, wenn es dabei aber überhaupt eine Emergenz gibt, dann nur die, dass sich die Irratio einiger dominanter Ethnien von der magisch infantilen Ebene der Religion und Spiritualität aktuell auf die naturwissenschaftlichen Ebenen verlagert hat, um da umso heftiger zu wüten.

Wie instinktgesteuerte Tiere fallen sie über ihre letzten, fossilen Resourcen her, vernichten sie, indem sie diese höchst ineffizient mit Wirkungsgraden deutlich unter fünfzig Prozent zu Nutzenergie verbrennen, trotz ihres Wissens, dass ihnen ihr Zentralgestirn - sie nennen es Sonne - das Fünfzehntausendfache ihres akuten, globalen Energiebedarfs permanent zu führt und - auch das wissend, - dass sie damit ihrer Petrochemie der Rohstoffgrundlage berauben. Damit schneiden sie sich von der Versorgung mit Arzneien, Straßenberlägen, Bau-, und Dämm- sowie jeder Art von Kunststoffen ab. Sehenden Auges stürmen sie so in die eklatanteste Degeneration, die ihrer Zivilisation je widerfahren ist. Ein Großhirn ohne diese vernichtenden Exzesse hat die Evolution leider nur extrem selten hervorgebracht. Alle Anzeichen deuten darauf hin, dass dieser blaue Planet Erde nicht zu den höchst seltenen Biotopen zählt, die von dieser eliminativen Entwicklung verschont sein wird.

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Cosmocontrol

Beitrag von TheoLessnich »

Fortsetzung

So wird sich aller Voraussicht nach wieder diese apokaolyptische Finalität wiederholen. Sie werden nicht nur ihre Petrochemie eliminieren, auch ihren urbanen Planeten komplett verwüsten, obwohl sie über die Mittel und das fundamentale Know How verfügen, das vorhandene solare Energiepotential zu erschließen, in Nutzenergie umzusetzen und bedarfsdeckend zu verteilen. Es fehlt ihnen jedoch die Autorität und die Einsicht in die Notwendigkeit. Das Tabu gegen diese lebensrettende Maßnahme ercheint so resistent, dass sie stattdessen mit der höchst riskanten Freisetzung von Nuklearenergie im Begriff sind, ihren Planeten Stück für Stück mit den daraus resultierenden Abfällen unbewohnbar zu machen. Durch das Verbrennen organischer Energieträger haben sie ihre Atmosphäre mit den dabei zwangsläufig anfallenden Oxiden sowweit verunreinigt, dass sich ihre Planetenoberfläche inzwischen bis zur begonnenen Schmelze des Permafrostes themisch aufgeladen hat. Die dadruch frei werdenden Teratonnen Methan werden den sogenannten Treibhauseffekt, also die Aufheizung des Planeten bis zum nahen Tod allen Lebens dissipativ perpetuieren.

Ein Blick auf eine Planetenregion, deren Ansiedler längst die animale wie die intellektualisierenden Evolutionsphasen hinter sich gelassen haben, offenbart exemplarisch, wie zäh - zumal in dieser äußerst dicht besiedelten Region - noch immer die Dominanz der archaischen Denkweisen und Handlungsautomatismen erhalten geblieben sind. Diese Region bezeichnen sie mit Deutschland. Noch immer versuchen sie auch dort, drängende Probleme mit den Mitteln zu lösen, durch die sie entstanden sind, obwohl einer ihrer Protagonisten - Albert Einstein - auf die Absurdität solcher Lösungsversuche hingewiesen hat. Mit übermäßiger dezentraler Mechanik befördern sie auf ihren statischen Asphaltbändern große Gütermengen. Immer wieder verbrauchen sie unverhältnismäßig viele wertvolle Ressourcen zum Ausbau dieser Beförderungslinien und machen dabei immer wieder die Erfahrung, wie sich der vorherige Missstand wieder einpendelt, indem mehr Rollfläche mehr Transport nach sich zieht. Dabe entstehen enorme, sogenannte Unfallschäden, bei denen Exemplare ihrer Art in schockierender Weise verstümmelt werden und zu Tode kommen. Dieses Betriebsrisiko ist unverhältnismäßig hoch. Aber auch hier verhindert offenbar ein unumstößliches Tabu, auf ein vorhandenes und ausbaufähiges Alternativsystem auszuweichen.

Forstetzung folgt

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WeNe
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Kurzgeschichten

Beitrag von WeNe »

Hallo Theo...., sehr schöne Geschichten, ganz wunderbar geschrieben, wirklich toll mit den Fortsetzungen.
Gruß WeNe

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