Geschichte aus Gelsenkirchen aus jüngerer Vergangenheit

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TheoLessnich
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Geschichte aus Gelsenkirchen aus jüngerer Vergangenheit

Beitrag von TheoLessnich »

Ich liebte es, auf der hinteren Plattform der Trambahn mitzufahren und da aus dem Fenster zu sehen. Soeben hatte die Bahn die Unterführung am Hauptbahnhof passiert, bog jetzt im neunzig Grad Winkel mit quietschenden Radkränzen in den Wiehagen ein. Ich war gelangweilt, kannte die Strecke wie Dieters Geschichten aus seiner Militärzeit. Aber ich glaubte ihm, dass er bei den green barets, jener legendären Fallschirmjägertruppe war, die den Duce Mussolini damals im Handstreich auf Kreta herausgepaukt haben. Er war noch immer ein vierschrötiges Muskelpaket. Wenn es sonntags ans Kartenzocken ging, krempelte er sich immer ostentativ die Hemdsärmel auf und genoss die neidischen Blicke auf seine muskulösen Arme.

Zu der Zeit verkehrten noch jene alten Möhrchen von Straßenbahnen, wo der Fahrer vorne stehend die Kurbel bediente und ein uniformierter Schaffner die Billets verkaufte, auch gleich mit der Zange lochte und an einer längs des Wagens gespannten Leine signalisierte, wenn die Bahn anhielt, und wenn sie weiterfuhr. Ein Zug an der Leine, und es ertönte ein Klingelzeichen, einmal bedeutete anhalten, zweimal weiterfahren, aber es kann auch umgekehrt gewesen sein. Wie immer garnierte Dieter seine Anekdoten wieder : "Ihr jungen Burschen habt ja keine Ahnung wie das war, wie wir in der Ausbildung geschliffen worden sind."

Er wohnte in der Schwanenstraße, stieg also immer an der nächsten Haltestelle nach der Quietschkurve aus. Diesesmal ignorierte er alle Klingelzeichen, die Baahn fuhr wieder an, gewann an Tempo. Dieter redete lässig weiter, öffnete schließlich ebenso lässig die Tür - das ging damals noch per Hand - und stieg aus. Diese Demonstration seiner Fitness glückte nicht so ganz, entweder hatte er seine Fitness oder die Geschwindigkeit der Bahn, möglicherweise auch beides falsch eingeschätzt. Mit von sich gestreckten Armen und Beinen landete er bäuchlings auf dem regennasen Gehsteig.

Der Schaffner kam zu meinem Kumpel und mir auf die Plattform, sichtlich erbost motzte er was von "grobem Unfug" und, "das gibt ´ne Anzeige. Wie heißt der!" Wie in solch einer Situation nicht anders zu erwarten, kannte wir Dieter natürlich nicht. Doch damit gab sich der Mann nicht zufrieden, insistierte weiter: "Ihr müsst ihn doch kennen, ihr habt euch doch mit ihm unterhalten." Der Schaffner ein Hiesiger, konnte er sich doch nicht vorstellen, dass sich Gelsenkirchener mit Fremden unterhalten.

TheoLessnich
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Weggefährten

Beitrag von TheoLessnich »

Aufschwung und Kneipen überall.Letztere schossen wie Pilze aus feuchtem Waldboden. Sie waren immer und überall knüppeldick voll es gab nur wenige, die damls den Führerschein verlieren konnten. Die Juke-Box hämmerte, hier sexteen tons, leider mit dem verkitschten Text von dem Schiffsjungen, passte aber zu dem Namen der Kneipe: Kajüte. Kitschig war hier nur der Song, alles andere primitiv. Mit dem Refrain des Originaltextes konnte ich mich identifizieren, hatte auch das Gefühl, mich an einen Laden verkauft zu haben.

Sechzehn Tonnen Kohle, ein Bergmannslied. Heiner war Bergmann geworden, hat die Schule geschmissen, wollte lieber im Pütt Geld verdienen. Hätte ich am liebsten auch gemacht, wenn mein Vater nicht so obstinat dagegen gewesen wäre. Heiners Vater war das egal, er war im Krieg gefallen.

"Die Wilma mag dich mehr als mir lieb ist", meinte er gutmütig. Dann eine Nuance schärfer, "lass sie in Ruhe. Wir gehen schon lange zusammen, wollen heiraten."

"Die Wilma, die Gerda, - nur in der Firma, verstehst du? bin ich der letzte Auspuff: Wareneingänge kontrollieren, Lager aufräumen, Säcke schleppen, Fässer rollen, jeden Tag neun Stunden, alles für vierzig Mark pro Monsat, anpflaumen lassen inbegriffen. Der Lagerist kriegt fürs Zugucken vier-, fünfmal so viel."

Da Heiner nichts sagte, griff ich auf unser Standardvokabular zurück, sagte: "Prost!" Wir tranken. Ich auf ex, kämpfte verbissen mit meinem rebellischen Magen, der wollte den Schluck partout wieder hochschicken.

"Was machst du nächstes Jahr, wenn du die Lehre aus hast?" hörte ich Heiner fragen.

"Mal sehen", krächzte ich. "Dann will auch ich endlich richtig Geld verdienen, egal wie. Wo kann man das besser als im Pütt? Vielleicht sehen wir uns dann wieder öfter."

"Darauf saufen wir noch einen." Mein junger alter Kumpel Heiner bestellte noch zwei Bier, - dann sagte er: "Prost!"

Der Aufschwung hatte unaufhaltsam aufgeschwungen, Heiner und Wilma geheiratet und Nachwuchs gezeugt. Mit seiner Vespa hat Heiner einen PKW gerammt, danach lange im Krankenhaus gelegen. Für den Pütt war er ab da nicht mkehr tauglich, hatte seitdem einen Pflichtjob mit Kündigungsschutz, sortierte Karteikarten, machte Botengänge, alles Mögliche, was niemand richtig gern macht.

Ich war jetzt lieber in der Firma als zu Hause. Hier in dieser Münsterländer Dorfkneipe sagten wir wieder abwechselnd: "Prost!" Meine Firma hatte hier eine Verkaufsstelle eröffnet. Draußen umherstreunenden Kindern haben wir ansehnliche Packen Wurfsendungen in die Hände gedrückt, die werbewirksam auf die neue Verkaufsstelle aufmerksam machten. Für das von Haus zu Haus Verteilen gaben wir ihnen Werbegeschenke: Kugelschreiber, Luftballons und das Versprechen, dass jeder nach getaner Arbeit noch mit einem Brieföffner in der Aufmachung eines Mini-Samuraischwertes beglückt wird.

Ich wollte schon fragen, wie es Wilma geht, doch Heiner kam mir zuvor: "He, du bist doch auch kein Bücherwurm, - oder?"

"Du kennst mich doch."

Weißt du, die Wilma nervt. Weiterbilden soll ich mich - Bücher lesen. Sie arbeitet im Supermarkt an der Kasse. So jeden Monat einmal machen die´ nen Gemütlichen mit Ehegatten. So gemütlich find ich das gar nicht. Stundenlang wird da über Carneghi, den Status quo, die Hallstein Doktrin und all so ein Zeug gelabert. Wilma ist immer stinksauer, wenn ich da nicht mithalte. Die soll mich doch mit ihren Büchern in Ruhe lassen! Ich sauf mir lieber einen."

"Tja, mir gefällt auch manches nicht. Wenn ich wenigstens wüsste, wofür ich arbeite. Geld ist nie da. Liegt natürlich an mir, bringe zu wenig nach Hause. Bisschen Spaß kann iich mir nur leisten, wenn ich mal nebenher ein Objekt vermittle oder hier mit dem Verteilen dieser Wurfsendungen ein paar Mark mache.

A propos Spaß. Meinst du, der Hermann leiht uns nochmal seinen Porsche für ´ne schicke Spritztour? Sollen noch mehr geworden sein , die braunen Indonesierinnen in Zantvoort..."

Jeder Weg gabelt sich. Unser in der "Kajüte". Sexteen tons war out. Rock around the clock, lärmte jetzt die Juke-Box. Unser Gespräch dickflüssiges Blei.

"Komm mich doch mal mit Wilma und Sohn besuchen," schlug ich etwas verlegen vor.

"Ach weißt du, - vielleicht später, Wilma hat ein Tief."

"Wie kommt´s?"

"Naja, sie wollte wieder nach Österreich im Urlaub. Habe gemeint, ich wüsste nicht, ob sich das für eine Woche lohnt, musste dann Farbe bekennen. Tut mir nicht leid, dass wir den Urlaub so nach und nach in Holland verbraten haben. Aber du weißt , wie Frauen so sind. Sie hält dich für den Spiritus Rektor, ist stinksauer auf dich. Auf mich übrigens auch!"

"Egal, saufen wir noch einen."

TheoLessnich
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Wilfried mitti Polente

Beitrag von TheoLessnich »

"Unser guter Vater, Bruder ...", eine dieser alltägichen, schwarz umrandeten Anzeigen in der Tageszeitung. Der Tod macht sogar die Todesanzeigen gleich.

Der Verstorbene, einer aus der Legion der Zukurzgekommenen, kleinwüchsig, Schlichtdenker. Was macht das schon bei Wilfrieds Selbstbewußtsein und der sexuellen Potenz wie der - vielleicht daraus resultierenden - Frohnatur.

Anfangs machte er noch Kohle im Pütt, heiratete mit zweiundzwanzig, hauste beengt mit Frau und Kind mit einem in die Jahre gekommenden Herd, den seine Frau aus einem zu einem Kohlenkasten umfunktionierten Pappkarton fütterte. In diesem Spitzweg-Idyll fand er seine künftige Lebensmaxime: "Auf Maloche steh ich nich´so." Ist nicht Jedermanns Sache, morgens, wenn es im Ehebett am schönsten ist, zur Arbeit aufzustehen, erst recht nicht, wenn man von der Natur so speziell überreich ausgestattet ist wie Wilfried. Zwischendurch arbeitete er mal auf dem Bau, einem Schrottplatz, als Einsenanstreicher. Sichtbare Erfolge konnte er da vorweisen, wo er besonders prädestiniert war: Seine Familie wuchs zusehends.

Zu Lebensweisheiten verhalfen ihm die Gerichte. Sie schickten ihn zweimal wegen Unterhaltsenzugs in den Knast. Er resumierte: Dat is mich ja egal, aber richtig find ich dat nich´, - wense kein Moos hass, wirse eingesperrt." Auch im Umkehrschluss blieb er dabei: "Wenn ich Moos gehapt hätte, dann hätten se mich nich´eingesperrt."

Mit seinen mittlerweile sechs Kindern übersiedelte er in jene Künstlersiedlung, die der Volksmund als Mau Mau bezeichnete. Enge nachbarliche Beziehungen ergaben sich hier aus dem engen Beieinander von selbst. Jeder kannte jeden, jeder wusste von jedem alles. Wilfried zählte bald zu den Aktivisten, die es verstanden, sich ein Zubrot zu verdienen. Mal wurde ein Türblatt per Annonce verscherbelt, mal ein Gullydeckel mit dem Vorschlaghammer für den Schrotthändler aufbereitet. Wilfried zog es immer wieder mit seinem rostigen Damenfahrrad und einem Jutresack zu der nahegelegenen Abraumhalde. Da sammelte er Kohlen für den Hausbrand und Altmetall für den Schrotthändler. Eines Tages kassierte ihn dort die Polizei. Auf der Wache erzählte er bereitwillig, dass er wusste, wer seiner Nachbarn sich auf Gullydeckel spezialisiert hat und wo das zerkleinerte corpus delicti bis zum Verkauf zwischenlagerte.

So fuhren die Uniformierten mit Wilfried im Streifenwagen zu dem ihm bekannten Hinterhofschuppen. Wilfried wurde lange nicht müde, jedem breit grinsend dieses Abenteuer zu erzählen mit dem Refrain: "Wat meinze, wat die Weiber bei uns inne Straße geguckt haben, wie ich da mitti Polente ankam!"

Wann der Kerl angefangen hat, so konventionell zu leben, wie seine Beerdigung den Anschein gag, ist mir total entgangen.

friedhelm
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Mitti Polente

Beitrag von friedhelm »

Ne schöne, echte Ruhrgebietsgeschichte. Klasse

TheoLessnich
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Schimmis Destille

Beitrag von TheoLessnich »

Gab es den Yeti im Himalaja wirklich? Keine Ahnung. Wohl war einst das Ruhrgebiet von Schimmis bevölkert. Schimmis waren dies Art knorrigen Kerle, die nicht viel sprachen. Inzwischen dürften sie ausgestorben sein, wer immer den letzten dieser Spezies gekannt hat. Sie waren außerordentlich praktisch und universell begabt, Zimmermann, Schlosser, Tapezierer, Anstreicher, alles in einer Person, vor allem Improvisatoren erster Güte. Es gab gar kein Handwerk, das sie nicht drauf hatten. Die meisten von ihnen arbeiteten untertage im Gedinge.

Der, von dem ich erzählen will, hatte im Handumdrehen einen Einweckkessel in eine Schnapsdestille verwandelt. Mit einem Fahrradschlauch und vier Flügelschrauben dichtete er den Deckel ab, an dem ursprünglich für das Thermometer vorgesehene Loch in der Deckelmitte lötete er einen Rohrstutzen, daran eine Rohrspirale aus Kupfer, leitete die durch einen Kekskanister, den er schließlich mit Kaltwasser füllte. Fertig die Destille! Es war an den langen Abenden richtig gemütlich, wenn die Destille auf dem guten alten Küpperbusch-Herd so vor sich hin köchelte.

Furchtlos wie Schimmis sind, kostete er selbst immer zuerst, was da so am Ende der Kupferspirale heraustropfte. Aus welcher Substanz er das herausdestillierte war top secret. Die Genußwirkung konnte er indes nicht geheim halten. Wenn er und seine Familie dann von der Sangeslust überwältigt wurden, erfreute das nicht immer Herz und Gemüt der näheren Nachbarschaft.

Im selben Haus lebte Wilfried. Er war so kleinwüchsig wie agil und immer guter Laune. Er liebte Frauen, Rabatz und Raufhändel. Stolz wie ein Krieger seine Narben, so trug er ab und an eine Augenklappe. Auch verlor er schon mal einen Zahn. Daraus machte er sich nichts, hatte ihn doch die Natur für seine zu kurz gekommene Körperlänge reichlich mit Frohsinn und Zähnen entschädigt. Er grinste, - das tat er fast immer - so kaimanisch, zeigte ungeniert seine zwei bis drei Reihen kreuz und quer stehenden Zähne.

Freunde und Bekannte begrüßte er lebhaft: "Mensch hasse schon gehört!" So auch an jenem rabenschwarzen Tag, als Schimmi die Destille explodiert war. "Mann," lachte er sich schlapp, "die Bude sieht aus! Geh ma gucken. Du lachs dich kaputt." Einstweilen lachte er schon für mich mit, dass es in der Toreinfahrt zur Straße widerhallte.

Die Fenster in Schimmis Wohnküche lachten jetzt auch mit ihren zackigen Glaszähnen kaimanisch. Überall an den Wänden und der Zimmerdecke klebte die inzwischen erstarrte Schnapsmeische. Kein Problem für Schimmi. Als Schimmi konnte er genauso gut mit Glasschneider, Kitt und Tapezierwerkzeug umgehen wie mit seiner Pannschüppe, mit der er noch vorige Tage so eine kleine Auseinandersetzung unter Männern für sich entscheiden hatte.

Unangenehmer war ihm da schon die Kripo. Irgendsoein Petzer muss den Vorfall wohl angezeigt haben, hat damit prompt zwei Beamte zwecks Tatotbesichtigung und Einvernahme auf den Plan gerufen. Was Schimmi denen erzählt hat, verriet er partout trotz hartnäckigen Nachfragen nicht. Er schmunzelte nur wie Schimmis so schmunzeln und ließ sibyllinisch wissen, er habe noch einen viel größeren Waschkessel im Keller.

TheoLessnich
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Liebe ist kein Schönheitswettbewerb

Beitrag von TheoLessnich »

Es waren wieder die kurzen Tage, an denen man sich warm anzieht. Nur Brauereivertreter und gut verdienende Bergleute ohne Anhang konnten sich zu der Zeit diese moosgrünen und braunen Ledermäntel mit den breiten Gürteln und slbernen Schließen leisten. Er - sein Name ist mir entfallen - trug so ein Renommierstück.

Außer Kintop und Budenzauber war in der Zechensiedlung in dieser tristen Jahreszeit noch weniger los als sonst. Wir warfen unser spärliches Kleingeld zusammen, schickten den Jüngsten der Klicke zur Eckkneipe, wo heute so ein islamischer Verein residiert. Oben bei Wilfried in der Bude ging der Flachmann von Hand zu Hand und Mund zu Mund. Wilfried war trotz seiner bescheidenen Körpergröße unser Primus interparis. Er organisierte immer die Mädchen für den Budenzauber, hatte da auch immer der Vortritt. Seine verwitwete Mutter schickte er zu Bett, und wenn wir uns warm getrunken haben, schraubte er draußen im Flur die elektrische Ssicherung heraus, und es wurde kuscheling.

Eines Tages war ein neues Mädchen im Revier. Es wohnte im Nachbarhaus bei ihrem allein stehenden Vater.Wilfried hatte wieder den Vortritt, hätte er auch gehabt, wenn er nicht so schnell gewesen wäre. Als er seine Sturmeroberung am nächsten Tag bei Tageslicht sah, schauderte selbst er, spielte seitdem mit ihr noch Karten.

Wir staunten nicht schlecht, als sie eines Tages eine feste Beziehung hatte. Der stattliche, junge Mann sah nicht nur gut aus, er war auch einer dieser beneideten Ledermantelträger. Zu der Zeit trafen wir uns alle immer in ihrer Wohnung. Ihr Vater hatte nichts dagegen, er lag zu der Zeit im Krankenhaus. Wir staunten noch mehr, als sich da in ihrer Wohnung eine heftige Eifersuchtsszene abspielte. Um genau zu sein, das Staunen war deshalb so riesig, weil nicht sie, - er war der Eifersüchtige.

Er quengelte schon die ganze Zeit. Auf einmal aber zog er seine Brieftasche aus der Innentasche seines Jacketts, knallte sie auf den Tisch: "Bringt das meiner Mutter", keuchte er, nestelte das Portemonaie aus der Hosentasche, "das auch", dann das Taschenmesser, klappte es auf und fing an an seinem Handgelenk zu sägen.

Da war die Hölle los. Zwwei Mann fielen ihm in den Arm. Wortfetzen: "Bist du verrückt - lass dat - iss doch gar nich wahr, die geht nich fremd. Mann reiß dich doch am Riemen!" Dann penetrierte Wilfrieds plärrende Stimme alles: "Meeensch, lass den Seger doch, wenn der dat doch will. Freier, da brauchse keine Angst ham, die Patte bring ich deine Mutter schon!"

Schließlich gelang es, den Lebensmüden zu stabilisieren. Da das Ganze nicht der Peinlichkeit entbehrte, stahlen wir uns hinaus auf den von der im Wind schwankenden Leuchte über der Zechenbahn nervös beleuchteten Hinterhof. Wilfried hatte den Vorfall noch nicht verdaut. "Wat sachs du", stieß er mich an, "wenn der dat nich machen will, dann soll er dat doch auch nich sagen, nich so tun."

Wir standen da auf dem zugigen Hof, krumm wie die Känguruhs vor lachen. Nur Wilfried lachte nicht mit, wiewohl sonst er immer die Frohnatur war. Mir ist noch immer nicht klar, ob er die entgangene Schau bedauerte oden den Auftritt nur als Farce entlarven wollte.

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Nicht ganz bei Trost ist immer noch besser als ganz ohne Tro

Beitrag von TheoLessnich »

Wer auf Abenteuer aus ist, muß in die Ferne schweifen. Die heimische, durch und durch organisierte und zivilisierte Welt bietet dafür keine Freiräume, sollte man meinen. Doch wer schon mal versucht hat, in einer Stadt wie Frankfurt oder Hannover eine Übernachtungsmöglichkeit aufzutun, während dort eine Messe wie die ISH oder Cebit stattfindet, wird überrascht festgestellt haben, wie unerwartet vielseitig doch diese heimische Welt noch immer ist.

Langenhagen, ein Vorort Hannovers, klingt schon phonetisch nach Langeweile, deprimierend idyllisch. An Weiden und wiederkäuenden Kühen hatten wir uns schnell satt gesehen. Mein Entschluss stand fest, allenfalls zwei Tage auf dieser Messe Standdienst zu schieben, mich dann von dem verdammten Sachbearbeiter ablösen zu lassen. Soll er doch selbst auslöffeln, was er versaubeutelt hat. An alles hat er bei der Organisation des Messestandes gedacht, nur nicht an ordentliche Quartiere für die Standbesetzung. In allerletzter Minute ergatterte er gerade noch diese Zimmer mit Frühstück hier am Arm der Welt.

Die Zimmer waren sauber tapeziert, sonst nicht viel mehr. Der Kollege nahm ungern freiwillig das für uns geräumte Kinderzimmer mit zwei Schrägen und Mickimaustapete in Beschlag. Der Hausherr, ein typischer Hausfetichist, dem kein Verzicht auf Lebenszeit zu groß ist, um sein Reihenhaus abzustottern. Dafür rückte er mit seiner Familie auch schon mal eng zusammen, wenn sich die Gelegenheit bot, zwei Zimmer zu vermieten. Aber auch solche Typen können nützlich sein, wer weiß, wo wir sonst hätten übernachten müssen.

Er merkte gar nicht, wie er uns auf den Wecker ging. Oder doch? Wer kann solchen Menschen schon in den Kopf sehen. Er ließ es sich nicht nehmen, sich morgens zu uns an den Frühstückstisch zu setzen, um uns bis ins Detail zu erklären, wie er die Frühstückseier von seinen frei laufenden Hühnern lückenlos mit Datumsstempel registriert, um sie so garantiert chronologisch, ohne Altbestände aufkommen zu lassen, zu verbrauchen. Stolz zeigte er uns die Utensilien, Stmpel, Stempelkissen.

Trost winkte von der gegenüberliegenden Straßenseite, eine Kneipe. Wir die einzigen Gäste. Die Wirtsleute, zwei ältliche Damen und ein ebensolcher Mann. Später erfuhren wir, sie waren Geschwister. Wenn wir in Hörweite waren, siezten sie sich untereinander, wähnten sie sich außer Hörweite, zogen sie das Du vor. Als wir zuvor auf der Suche nach unserem Quartier kreuz und quer durch Langenhagens Peripherie fuhren, sah ich im Vorbeifahren ganz in der Nähe unseres Quartiers ein augenfälliges Haus mit großen, diskret beleuchteten Fenstern. Eine Sternstunde? Ein Hotel? Vielleicht könnten wir dann nach dorthin umziehen, und ich hätte keinen Grund mehr, den Standdienst vorzeitig abzubrechen. Frag mal den Wirt, fragen kostet nichts, dachte ich.

Ist der heute stur, er reagiert gar nicht. Aber ich kann hartnäckig sein. "Das ist kein Hotel, da können Sie nicht übernachten." Irgendetwas gefiel mir nicht an seinem barsch abweisenden Ton. Ich fragte weiter: "Das sieht aber aus wie ein Hotel oder Motel..." Seine Antwort war die gleiche, nur noch ein paaar Nuancen schroffer. Neugierig geworden blieb ich am Ball, ließ nicht locker. Ich weiß nicht mehr nach der wievielten Frage - überzog purpurne Röte schlagartig seinen Nacktschädel. "Da können Sie nicht übernachten," bellte er, "das ist ein Puff!" Ich fand das eine muß das andere nicht ausschließen, und - der Mann braucht Trost: "Ist ja unerhört, in so einer anständigen Gegend..." Ich fand noch weitere aufmunternde Worte, dann zahlten wir und - Sie ahnen es schon - gingen schnurstracks zu der Stätte des Lasters.

Am andern Tag knallte uns dieser Wirt die bestellten Getränke mit einem hörbaren "Peng"! auf den Tisch und kassierte sofort Zug um Zug. Ich habe ihn nicht gefragt, ob er glaubt, dass wir uns tags zuvor an jenem Ort seiner ganzen Verachtung auch unserer Barschaft entblößt haben, oder ob er mit seinem Benehmen nur seine Geringschätzung für uns Subjekte zum Ausdruck bringen wollte. Eigentlich hätte ich ihn mal wieder fragen sollen. Allerdings habe ich auch heute noch Zweifel, ob ihm tröstende Worte von mir noch willkommen gewesen wären.

TheoLessnich
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Arme Eva

Beitrag von TheoLessnich »

Brückentage zwischen Weihnachten und Neujahr, Zeit der Besinnung. Besinnung worauf und wie, wenn das Telefon dauernd klingelt. Dressierte Frauenstimmen aus Call Center, stereotyp leere Versprechungen. Wie wohltuend, mal eine natürliche Frauenstimme zwischendurch, wohltuend und peinlich diese vertauliche Begrüßung, und gar keine Erinnerung an sie , an sonst irgendetwas. Wie auch, am Telefon ohne Blickkontakt.

"He, Dr. Schiwago, was ist los mit dir? Weißt du denn nicht mehr...?" Da reißt der Vorhang. Dr. Schiwago, die siebziger Jahre, egal wer, überall gibt es die Scherzkekse, die ihren Mitmenschen Spitznamen verpassen, dieser klebte eine ganze Zeit an mir. Daß Eva noch an mich denkt, kaum zu glauben. Mann, waren wir heiß aufeinander! Sie blutjung, ich schon ein gestandenes Mannsbild, trotzdem - oder gerade deswegen? Egal. Wir tobten durch alle Discos und Betten.

Wie mag sie heute aussehen? Ihre Stimme klingt dunkler. Kann an der Telefonverbindung liegen, oder ist es die Sorge um ihren kranken Vater? Seinetwegen ist sie hierher angereist. Klar, die Gelegenheit, uns wieder zu sehen. Wir verabreden uns.

Sie ist herber geworden. Mit welcher Diät mag sie diese Normmaße erreicht haben. Sie ist immer noch attraktiv, verdammt attraktiv. Fast wie in alten Zeiten, die Lokale proppevoll. Wir ergattern noch einen Katzentisch, essen etwas, sie noch immer ihren Grillteller. Sie erzählt von dem Fiasko ihrer ersten Ehe mit einem Bisexuellen. Jetzt hat sie einen Akquise-Ingenieur bei einem deutschen Weltkonzern. Wie lange er da noch seinen Stuhl unterm Hintern behält, weiß sie nicht. Als Zugabe ein noch lange nicht abbezahltes Haus und zwei schwer erziehbare Töchter, vor denen er aus ihrer Sicht schon lange genauso kapitulieret hat wie vor seinen beruflichen Problemen.

Nur Invaliden reden vom Krieg. Dennoch und darum hätte ich lieber über alte Zeiten geredet. Job war früher kein Thema. Den machte man wie man sich Zähne putzt oder Zehennägel schneidet. Soziale Hygiene und Quelle für das nötige Kleingeld, um Freunde zu treffen und auf jeder Katzenkirmes zu tanzen. Joan Baetz in der Gruga, Santana in der Westfalenhalle, Bob Maly, die Tilman Brothers, Privatfeten, Disco, Bowling, - die Nächte waren eh immer viel zu kurz, die Tage zu lang.

Die ganze Zeit im Restaurant, unterwegs im Auto, bei mir sind wir zu Dritt: sie, ich und ihr Handy. Der SMS-Strom reisst nicht ab. Sie antwortet promt auf den Spam. Er wird sonst zu Hause mißtrauisch, erklärt sie. Was für ein Kerl, als Vater und Akquisiteur ein Looser, vergeigt er seiner Frau mit geballter SMS-Power auch noch jedes Outdoor-Vergnügen.

Verbürgerlicht sind wir mittlerweile wohl alle, dich aber hat es offenbar besonders schlimm erwischt. Eine Frau wie du mit diesen postpubertären Sprüchen, du hättest diesen Ehemann nie betrogen, und er wäre ja so eifersüchtig. Du kannst doch unmöglich noch stoz sein auf deine sexuelle Diät trotz noch immeer tierischer Gesundheit oder gar auf dein SMS-Halsband samt Leine.

Arme Eva.

Troy
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Registriert: 25.06.2007, 21:41

Re: Arme Eva

Beitrag von Troy »

Das hat mir am besten gefallen:
TheoLessnich hat geschrieben:...
Die ganze Zeit im Restaurant, unterwegs im Auto, bei mir sind wir zu Dritt: sie, ich und ihr Handy. Der SMS-Strom reisst nicht ab. Sie antwortet promt auf den Spam.
...
Arme Eva.
Armer Adam.
Ich stelle mir das gerade im Paradies vor:
Eva gibt soeben den Apfel weiter, muss aber schnell noch per sms nebenbei ein paar Kleinigkeiten regeln.
Und Adam fragt sich: "Mit wem schreibt sie da bloß die ganze Zeit? Wer is denn sonst noch hier?"
Da wäre jetzt aber eine neue Schöpfungsgeschichte fällig.

Tja, so schnell kanns gehen: als Romanze begonnen, als Romananfang geendet... :wink:

hebbert
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Re: Arme Eva

Beitrag von hebbert »

Verbürgerlicht sind wir mittlerweile wohl alle, ...

Das kommt auf den Standpunkt an und auf den Maßstab, den man bei sich und anderen anlegt.

P.S. Ich hatte auch schon ähnliche Treffen mit Freunden und Bekannten, die sprichwörtlich zer-sms-t wurden. Wenn es sich ergibt, einfach mal -ohne das es der geneigte (Nicht)-Zuhörer mitkriegt- für den Kollegen antworten. Viele Gespräche bekommen schlagartig eine anderes Thema...

TheoLessnich
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Tore und Toren

Beitrag von TheoLessnich »

Ach, Sie sind aus Gelsenkirchen! Was meinen Sie, steigt Schalke....?
Und wenn?
Kein Interesse an Fußball - und aus Gelsenkirchen?
Schon gehört? Gelsenkirchen wird Kulturhauptstadt.
Sieht so aus, als wären wir beide Ignoranten, Sie Fußballmuffel, ich Kulturmuffel.
Sagen Sie das nicht. Ich war schon mal in der Arena, sogar in der VIP-Lounge.
Donnerwetter, dann müssen Sie aber gut betucht sein.
Ach was, auf Besichtigungstour, als kein Spiel stattfand.
Was gibt es denn Interessantes in der Arena, wenn Schalke nicht spielt?
Die VIP-Lounge.
Aber wohin müsste ich denn gehen, um nicht länger ein Kulturmuffel zu bleiben?
Gute Frage, schlecht zu beantworten.
Dann ist es wohl schwieriger kein Kulturmuffel zu sein?
Kommt darauf an, was man unter Kultur versteht.
Vielleicht gerade das, was man nicht versteht?
Schon möglich.

TheoLessnich
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Immer kommt alles anders

Beitrag von TheoLessnich »

Jürgens Frau brachte uns Eistee auf die Terrasse. Als sie wieder im Haus war, erzählte er: "Weißt du, in all den Jahren kamen zu meinem Geburtstag all meine Mitarbeiter mit einem kleinen Geschenk zum Gratulationsdefilee zu mir herein. In diesem Jahr: Fehlanzeige! Kurz vor Feierabend kam meine Sekretärin, wand sich wie ein Wurm:

´Es ist mir unendlich peinlich. Das ist mir noch nie passiert, dass ich Ihren Geburtstag vergessen habe. Bitte, bitte geben Sie mir die Chance, das wieder gut zu machen. Kommen Sie mit, wir fahren zu mir´.

In ihrer Wohnung komplimentierte sie mich - ich fand, etwas überstürzt - ins Schlafzimmer. ´Bitte nur ein paar Minuten Geduld, dann rufe icdh Sie´. Damit machte Sie mir die Tür vor der Nase zu."

"Scheint ja gar nicht so schlecht gelaufen zu sein", nippte ich an dem Eistee," warum passiert mir so etwas nie?" In Jürgens Glas schien statt Eistee Essig geraten zu sein.

"Dauerte auch nicht allzulange", nahm er den Erzählfaden wieder auf, "sie rief, ´Sie können jetzt kommen!´

Als iich das Wohnzimmer betrat, waren da meine sämtlichen Mitarbeiter mit einem riesigen Fresskorb, Sektkübel und Gläser standen auf dem Tisch, und sie intonierten im Chor das obligatorische: Happy Birthday."

"Mann, da warst du aber von den Socken", prustete ich los.

"Denkste, Socken waren das Einzige, was ich noch anhatte."

TheoLessnich
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Nachbars Lumpi

Beitrag von TheoLessnich »

Lumpi war Nachbars Hund. Scharf war er nur, wenn er an der Kette lag. Sonst ließ er sich schwanzwedelnd betätscheln. Irgendwie menschlich. Lumpi hatte Pech. Er lebte zur falschen Zeit, daher nur kurz. Er lebte zu der Zeit, als die Herrenrasse auf den Hund gekommen war. Er starb nicht fürs Vaterland, nur für ein Paar Gummistiefel. Dass kam so:

Mein Kumpel hatte eine Metzgerlehre begonnen. Mit seinem schadhaften Schuwerk hatte er in der Wurstküche ständig nasse Füße. Er fragte mich, ob ich ihm einen Hund besorgen könne. Sein Nachbar habe seine Schuhgröße und ein Paar Gummistiefel, die er selbst nicht brauchte, ihm daher im Tausch gegen einen wohlgenährten Hund überlasen würde. Diese Familie hatte bisher noch nicht diesen zu der Zeit allgemein so verdammt kargen Speiseplan, was bei ihren beiden stiernackigen Söhnen anschaulich war. Allmählich jedoch gingen ihnen in ihrer Nachbarschaft die Hunde aus.

Eines Tages war Lumpi verschwunden. Das war damals nichts Besonderes, auch meines Nachbars Hunde verschwanden immer spurlos, hatten sie erst mal eine gewisse Größe erreicht. Auch mir waren sang- und klanglos zwei junge Hunde abhanden gekommen, über deren Ende unser Nachbar wahrscheinlich - wenn er gewollt hätte - Auskunft hätte geben können. Wie gesagt, die Herrenrasse war auf den Hund und, was die Erschließung neuer Nahrungsquellen anbetraf, kreativer geworden.

"Hast du immer noch nasse Füße in der Wurstküche?" fragte ich meinen Kumpel. Er antwortete nur mit einem Grinsen. Bis heute ist mir schleierhaft, wie er das Kunststück zuwege gebracht hat, diesen zähnefletschenden Giftzwerg von der Kette zu kriegen.

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tulpe
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Beitrag von tulpe »

:roll: Eigentlich waren die Menschen im und nach dem Krieg hinter fetten Hunden
her, weil sich hartnäckig die Mär hielt, daß Hundefett gegen Tbc helfe. Als bei mir, wie
bei anderen Kindern zu der Zeit auch, Tbc festgestellt wurde, traktierte meine Mutter
mich auch mit Hundefett, Ziegenmilch und Dorschlebertran. Nur wer das kennt,
weiß, was ich litt :!: ...zum Glück wurde dann der Gebrauch von Antibiotica gängig!
Obwohl wir in der Lungenheilstätte auch "gemästet" und mit Lebertran versorgt
wurden.
Es ist das Schicksal des Genies unverstanden zu bleiben.
Aber nicht jeder Unverstandene ist ein Genie.
(R.W. Emerson)

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Lorbass43
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Beitrag von Lorbass43 »

Fiffi, Waldi, Nelli und natürlich LUMPI waren zu unserer Kinderzeit gebräuchliche Hundenamen. Wer hat es noch nicht gehört:
“Spitz wie Nachbars Lumpi sein”
Die Redensart bedeutet: So lüstern sein wie der Hund des Nachbarn.
Mein erster Hund hatte den Namen Lumpi. Ende der vierziger Jahre des vergangenen Jahrhundert konnte die Hunde wieder frei herumlaufen ohne Gefahr zulaufen in der Pfanne zu landen. Er war ein spitzgedackelterkurzhaarPudel mütterlicherseits, der Vater war unbekannt entkommen. Heute hat sich auch bei den Tiernamen generell der “Kevinismus” eingebürgert.
Noch nach dem 2. Weltkrieg wurde heimlich Hundefett hergestellt.
Es wurde zur äusserlichen Einreibung bei Tuberkulose verwendet.
Es hiess fachlich "Adeps caninus" und war ein sehr weiches, weisses Körperfett, wie meine ostpreussische Großmutter erzählte.

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