Roman Dell

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zuzu
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Beitrag von zuzu »

Was weiß ein Durchschnittseuropäer über Russland? In der Regel nicht viel. Wodka, Kälte, Bären, Putin und Kalaschnikow, würde er spontan sagen. Wer etwas kulturinteressiert ist, könnte an dieser Stelle vielleicht noch Tolstoi, Dostojewski, Tschaikowski oder den russischen Zirkus und das Ballett ins Gespräch bringen. Aber das wär‘s dann auch schon. Dabei ist Russland alles andere als ein Land von Bauern und Bären, sondern in der Tat eine Kulturnation. Die russische Malerei und Werke von Repin, Brüllow oder Aiwasowski stehen den Bildern der Renaissance in Sachen Schönheit in nichts nach. Auch sind Russen in der Weltliteratur, Poesie, klassischer Musik, Theater, Kunst, Art-Kino, Bildhauerei und Philosophie zahlreich vertreten. Doch sie werden das Image der Hinterwäldler einfach nicht los. Das möchte ich heute gern ändern und verrate euch etwas, was ihr über Russland bestimmt noch nicht wisst. Wenn Russen keine Russen wären…dann wären sie am liebsten Franzosen. Und warum das so ist, steht in der neuen Geschichte von mir.

[center]Amour éternel- Ewige Liebe
oder
warum die Russen Frankreich lieben und vergöttern

[/center]
[center](Erzählung)[/center]


Wenn die Russen keine Russen wären… dann wären sie am liebsten Franzosen. Das ist kein Witz. Ich meine es wirklich ernst. Meine Landsleute lieben und vergöttern Frankreich. Tief drin steckt in jedem Russen ein heimlicher Frankophil. Und zwar unabhängig von der Zeit, der Bildung oder den Launen der Politik. Diese Zuneigung kommt nicht von ungefähr. Schon die Tochter des Kiewer Fürsten Jaroslaw der Weiße, Anna Jaroslawna, im Westen besser als Anne de Kiev bekannt, war mit dem König Heinrich dem Ersten von Frankreich verheiratet und hatte ihrem (nicht immer treuen) Gemahl insgesamt 3 Söhne geschenkt. Der Beginn einer langen russisch-französischen Freundschaft? Wohl eher nicht. Dafür musste noch etwas Zeit vergehen. Über 700 Jahre, um es genauer zu sagen.

Erst mit der Thronbesteigung von Katharina der Großen kam die glühende Verehrung von allem Französischen auch im Russischen Reich schlagartig in Mode und blieb bis zum Untergang der Romanows fester Bestandteil jeder klassischen Erziehung beim Adel und Tradition am Hof. Ein kluger Schachzug der deutschen Prinzessin auf dem russischen Thron, die dabei ihre eigenen Ziele verfolgte.

Zum einen war die Zarin von dem Charme und den Gedanken des Aufklärers Voltaire so angetan, dass sie „sein Frankreich“ für den Inbegriff von Kultur, Bildung und Humanismus schlechthin hielt, an dem sich der Rest der Welt, insbesondere Russland, am besten ein Beispiel nehmen sollte.

Zum anderen versuchte Katharina dadurch die Macht ihrer eigenen Landsleute im Staat abzuschwächen, die in der neuen Thronerbin anfangs nur „eine Frau“ und auf Grund ihrer Herkunft, „einen verlängerten Arm Preußens“ sahen und deshalb jede souveräne Russland-Politik der Monarchin nach Möglichkeiten verhinderten oder sabotierten. Sie musste ihren Feinden Grenzen aufzeigen und für einen Ausgleich der Kräfteverhältnisse sorgen.
Das klappte am besten, indem man den einheimischen Adel auf seine Seite zog. Man sollte die Russen deshalb, so schnell wie möglich, vor jedem weiteren Einfluss der Deutschen bewahren und sie zum eigenen Freund und Verbündeten machen. Folglich sah sich die Zarin dazu gezwungen, sich von ihrer „deutschen Herkunft“ loszusagen, um sich die Sympathien der eigenen Untertanen zu sichern und „glaubwürdig“ zu bleiben. Die europaweite „Frankreich-Begeisterung“ bot ihr die Mittel und die Gelegenheit dazu. Mit einem relativen Erfolg. Zwar zogen die Deutschen sich aus der Politik nicht gänzlich zurück, ihre Macht und ihr Einfluss im Staat blieben bestehen, wenn auch deutlich schwächer und bescheidener, dafür verschwand alles Deutsche rasch aus dem Hof und dem Gesellschaftsleben. Hier herrschte ab sofort le mode de vie français-der französische Lebensstil.

Und so kam es dazu, dass in Russland, dem der Westen noch heute traditionell ein Mangel an Bildung und Zivilisation vorwirft, tatsächlich jahrhundertelang mehrere Generationen von Adligen geboren wurden, die Französisch noch vor ihrer eigentlichen Muttersprache lernten und das „bäuerliche“ Russisch nur als Zweitsprache im Umgang mit den Bediensteten benutzen, während so manch ein britischer Edelmann aus Cornwall gerade mal nur seine eigene Muttersprache sprechen und schreiben konnte und darauf noch stolz war. Diese Russen waren kultiviert, lasen französische Romane, konsumierten französische Waren und Produkte, ließen für ihre Kinder Lehrer und Pädagogen aus Frankreich kommen, kleideten sich nach französischer Mode und änderten ihre Namen im Gespräch nach französischer Art. Satt Peter-Pierre, Lew-Leo, Michail-Michel oder Alexander-Alexandre. Und wer mir das nicht glaubt, dem sage ich nur: „Lest Krieg und Frieden von Leo Tolstoi!“ Dort steht und ist alles bewiesen.
Umso mehr war es für die Russen ein Drama und ein Schock als Kaiser Napoleon Bonaparte mit seiner Grande Armée in Russland einfiel. Der gesamte Adel Russlands, (der Zar miteingeschlossen), befand sich in einem tiefen Gewissenskonflikt: Sollten sie als wahre Patrioten alles Französische ab sofort sabotieren, sich gegen ihre großen Lehrer und Vorbilder auflehnen oder doch ihre „französischen“ Gewohnheiten beibehalten, auch wenn zwischen den beiden Ländern Krieg herrschte?

Das führte manchmal zu skurrilen Entscheidungen. So beschloss ein Adeliger, dem man nachsagt, der Onkel des großen russischen Dichters Alexander Puschkin gewesen zu sein, während der Krieges 1812 ab sofort kein Französisch mehr mit seinen Angehörigen zu sprechen und obendrein noch auf Tabak, Käse und Wein aus Frankreich zu verzichten. In den Augen seiner Gesellschaftsschicht – ein heroisches Beispiel an Selbstaufopferung, Patriotismus und Entbehrung.

Obwohl der Krieg gegen Napoleon tausende von Menschen das Leben kostete und den Stolz und das Herz Russlands – Moskau - in Schutt und Asche legte, sind aus Russen und Franzosen am Ende doch keine Feinde geworden. Das brachte ein russisches Herz einfach nicht… übers Herz. Stattdessen versuchte man diesen Krieg im Nachhinein als ein bedauerliches Missverständnis zu sehen, der zwei große Nationen gegen ihren Willen auf das Schlachtfeld führte. Aber musste man deswegen auf all das Schöne aus Frankreich verzichten? Seine Sprache, seine Kultur, seine Kunst und seine Lebensart sofort verbannen. Wo doch der „kleine Korse“ nicht Mal ein richtiger Franzose war? Ups! Politische Korrektheit war nie die Stärke der Russen.

Nein! Die Russen können gar nicht lange auf die Franzosen sauer sein. Vielmehr halten sie die Franzosen für ein seelenverwandtes Volk und sind fest davon überzeugt, dass nur diese wirklich im Stande sind, die ewig betrübte und immer rätselhafte, russische Seele zu verstehen. Wenn auch nur annähernd. Alle anderen Völker müssen passen. Nicht einmal die Italiener, nicht einmal die Polen, nur die Franzosen. Denn hätte man alle Völker der Erde einem bestimmten Organ des menschlichen Körpers zuordnen müssen, so wären die Deutschen ohne jeden Zweifel das Gehirn gewesen, während die Russen und Franzosen sich als Seele und Herz hätten abwechseln können. Denn nur diese zwei Völker können SO lieben und SO fühlen wie kein anderer auf der Welt. So die Russen.

Dass die Russen und Franzosen sich in vielerlei Dingen ähnlich sind und durchaus miteinander „harmonieren“ können, versuchte uns auch der Maître der russischen Literatur - der Dichter Alexandre Puschkin - schon vor 181 Jahren zu beweisen, als er das Beispiel einer solchen, erfolgreichen „Kooperation“, in seinem Meisterwerk „Die Hauptmannstochter“, beschrieb. Ich zitiere: „Zu dieser Zeit stellte mein Herr Papa einen Franzosen für mich ein, Monsieur Beaupré, den man zusammen mit dem Jahresvorrat an Wein aus Moskau bestellte. Beaupré war in seinem Vaterland Barbier gewesen, danach in Preußen Soldat, danach kam er nach Russland. Er war ein netter Kerl, aber flatterhaft und liederlich bis zum äußersten. Seine Hauptschwäche war die Leidenschaft für das schöne Geschlecht, nicht selten empfing er für seine Zärtlichkeiten Püffe, über die er dann tagelang stöhnte. Außerdem war er kein Feind der Flasche. Da Wein jedoch bei uns nur zu Tisch aufgetragen wurde, und auch davon nur ein Gläschen, wobei man den Lehrer gewöhnlich überging, so gewöhnte sich mein Beaupré sehr bald an den russischen Schnaps und begann ihn sogar den Weinen seines Vaterlandes vorzuziehen, als für den Magen bei weitem bekömmlicher. Wir vertrugen uns auf Anhieb, und obgleich er dem Kontrakt gemäß verpflichtet war, mich in Französisch, in Deutsch und in „allen Wissenschaften“ zu unterrichten, zog er es vor, von mir in aller Eile zu lernen, irgendwie Russisch zu schwatzen - danach ging jeder von uns der eigenen Wege. Wir waren ein Herz und eine Seele.“

Was mich betrifft, so glaube ich auch, dass nur der Franzose die Russen verstehen kann, die wilden Böen und Strömungen unserer Seele richtig zu deuten weiß, ihre Tiefe, ihren Klang und unsere Gedanken zu spüren vermag.

Das wird mir jedes Mal deutlich und klar, wenn ich von Marie-Cécile- meiner Lektorin, Glücksengel und der liebenswürdigsten Französin in Person überhaupt, meine monatlichen Korrekturen zu den jüngsten Geschichten bekomme. Marie- Cécile ist ein Genie. Ihr gelingt das Unmögliche. Sie schafft es trotz meines teils noch immer russifizierten aber dafür umso überschwänglicheren Deutsch und meiner oft wirren Gedankensprünge, die „wahren Absichten des Verfassers“ jedes Mal richtig zu erkennen und diese „misslungenen“ Stellen im Text den Normen und Regeln der deutschen Sprache elegant anzupassen, ohne dass der Sinn oder die Gefühle dadurch verloren gehen, wo mein alter Deutschlehrer sonst nur wütend eine Fünf und drei dicke Fragezeichen dahinter setzen würde. Das nenne ich wirklich eine Seelenverwandtschaft.

Nur in einem unterscheidet sich das französische Wesen von dem russischen Geist gänzlich. Das ist die gemeinsame Sicht auf die Traurigkeit. Während französische Traurigkeit zwar auch melancholische Züge trägt, am Ende jedoch trotzdem irgendwie heiter bleibt und Hoffnung schafft, ist russische Schwermut dagegen depressiv, selbstzerstörerisch und endet fast immer in einer Katastrophe. Wir können einfach nicht anders.

Ansonsten scheinen die Russen Frankreich in der Tat allgemein zu mögen. Sie finden in der Fünften Republik alles was in ihrem Land meistens fehlt - diese engen, malerischen Gassen der kleinen mittelalterlichen Städte, gemütliche Hotels und Cafés, gehobene Mode und Gastronomie, Denkmale und Altbauten, Dinge, die in Russland durch die Stürme der Geschichte im letzten Jahrhundert nahezu vollständig ausgelöscht wurden. Und dann wäre da noch dieser einzigartige, unsichtbare Hauch von Leichtigkeit, Freiheit und Nostalgie nicht zu vergessen, mit dem jeder Zentimeter französischer Luft und Boden gefüllt ist, während auf Russland weiterhin Leid und Entbehrungen wie ein Fluch lasten. Deshalb bleibt Frankreich für immer ein begehrter Traum, Kultur-Mekka und Objekt ewiger Liebe, in jedem russischen Herzen. Ob diese Liebe bei Franzosen auf Gegenseitigkeit beruht, kann ich hier und jetzt nicht sagen. Da muss ich erstmal Marie-Cecile fragen. Sie kann das wirklich besser beurteilen.

Der Große Deutsche Goethe sagte einmal „Jeder Mensch hat zwei Heimat. Seine und Frankreich.“ Dem würde ein Russe sofort zustimmen. Und so war es nur logisch und auch nicht anders zu erwarten, dass viele russische Adelige und Offiziere der Weißen Garde nach dem Sieg der Oktoberrevolution nach Frankreich flohen und dieses Land zu ihrer neuen Wahlheimat machten. Noch heute erinnern viele slawische Namen und Gedenktafeln auf dem russischen Friedhof in Sainte-Geneviève-des-Bois an die große Migrantenwelle damals.

Nicht nur Zarenrussland, sondern auch die sozialistische Regierung der UdSSR war Frankreich überwiegend wohlgesinnt. Wer hätte das gedacht? Natürlich nicht ohne Grund. Weil De Gaulles Frankreich 1966 die NATO verließ und sich von dem Erzfeind der Sowjetunion - den Vereinigten Staaten von Amerika - distanzierte, wurde das Land seitens des Politbüros zwar nicht direkt als Verbündeter, jedoch mehr oder weniger als „blockfrei“ und“ Fast-Freund“ angesehen, obwohl die Franzosen die ganze Zeit keinen Hehl daraus machten, dass sie den Kommunismus in seiner aktuellen Form sowie die Politik und die Methoden der sowjetischen Führung verabscheuten und ablehnten. Nur dieser Tatsache verdankt der sowjetische Mensch das Glück, dass Frankreich trotz des Eisernen Vorhanges und der ideologischen Gegenüberstellung im Kalten Krieg, anders als die USA oder Westdeutschland kulturell nie von dem Bildschirm der Sowjetunion verschwand.

Der einfache sowjetische Bürger verband Frankreich mit den Romanen von Anne und Serge Golon (Autoren der Angélique-Reihe) und Francoise Sagan, Filmikonen wie Alain Delon und Catherine Deneuve, oder Chanson-Stars wie Mireille Matthieu, Joe Dassin und Charles Aznavour sowie mit den Automarken Citroen, Renault, Peugeot und den besten Parfüms und Strümpfen der Welt.

Sowjetische Frauen mochten Frankreich wegen seiner Eleganz, seiner Schönheit und seiner atemberaubenden Mode, die wahre Wunder bewirkte und selbst aus einem hässlichen Entlein eine Schönheitskönigin machen konnte. Sowjetische Männer wohl eher wegen französischer Frauen - Brigitte Bardot, Anouk Aimée oder Michèle Mercier, was jedoch kein Russe jemals öffentlich zugeben würde, denn Hey, die schönste Mädchen der Welt leben nach wie vor nur bei uns!

Natürlich ging die „Frankreich-Liebe“ auch nicht an mir vorbei. Als die Pfeile des Amors mein Herz zum ersten Mal erwischten, bekam das Lied von Joe Dassin „Et si tu n'existais pas- Und wenn du nicht existieren würdest, sag mir, warum sollte ich auch existieren?“ plötzlich eine ganz persönliche Bedeutung. Ich hörte seine Stimme im Radio und dachte an diese Eine, so nah und so fern von mir, der diese Worte galten und deren Liebe leider unerwidert blieb. Ich liebte Filme mit Alain Delon und habe seine romantischen Todesszenen in „Les Aventuriers- Die Abenteurer“ und „Teheran -43- Killer sind immer unterwegs“ unzählige Male angeschaut, sobald diese Filme im sowjetischen TV liefen.

Auch gehört die Trilogie Jean-Christophe von Romain Rolland sowie alle Werke von Gustave Flauberts, Alexandre Dumas, Jules Vernes und Prosper Mérimée zu den schönsten Romanen meines Lebens, die ich als Jugendlicher gelesen habe. Und ich erinnere mich noch heute an den heroischen Tod von Gavroches, einem jungen Pariser aus Victor Hugos „Les Misérables- Die Elenden“, dem im Literaturunterricht an der sowjetischen Schüle, ideologisch bedingt, mehrere Stunden gewidmet wurden. Ja, Frankreich bedeutete für Russen schon immer viel mehr als nur ein Staat auf der Weltkarte. Trotz des Kalten Krieges, des Eisernen Vorhanges und der unterschiedlichen Ideologien hatte jeder von uns trotzdem sein persönliches Frankreich. Das Frankreich, das er liebte.

Nicht nur die Partei, auch die sowjetischen Intellektuellen sahen in Frankreich ein Symbol für die Freiheit und die Schönheit des Geistes, mit dem einzigen Unterschied, dass beides dort seine Perfektion auf der Erde gefunden hatte, während der Kommunismus bei uns immer noch danach suchte. Und wenn für den Rest der Welt alle Wege nach Rom führten, endeten diese für Sowjetrussen in Paris. Denn jeder, wirklich jeder Sowjetmensch träumte davon, Paris einmal zu sehen. Nicht New York, London oder Bonn. Nein. PARIS.

Diese Stadt verkörperte im sozialistischen Denken wie keine andere Stadt des kapitalistischen Westens all das Schöne und Unglaubliche aus der irdischen Welt, was ein sowjetischer Mensch unter Glück verstand und wovon er träumte, während man in der langen Warteschlange für irgendeinen Mangelartikel, wie Seife oder Toilettenpapier stand und die sowjetische Wirklichkeit statt eines sozialistischen Traums erlebte. Diese Sehnsucht sorgte im Volk für den berühmten Satz „Paris sehen und sterben“, den man nur schwer den Menschen im Westen erklären kann, was nur so viel bedeutet, wie die Erfüllung eines unerreichbaren Traums, nach dem der Rest des Lebens auf einmal jeglichen Sinn verliert, weil ohnehin nichts Besseres mehr folgen wird. Ich stelle mir schon vor, wie Marie -Cecile an dieser Stelle jetzt verwirrt und erschrocken mit dem Kopf schüttelt. So verzweifelt und radikal sind wirklich nur die Russen.

Nun gibt es die Sowjetunion schon seit 26 Jahren nicht mehr und das Oligarchen-Russland hat das Wirtschaftsmodell und die Ideologie seines einstigen Rivalen begeistert übernommen. Den Eisernen Vorhang gibt es auch nicht mehr. Inzwischen kann jeder Russe, sofern er das nötige Kleingeld dafür besitzt, die ganze Welt als Tourist bereisen, aber die Sehnsucht nach Frankreich und Paris bleibt nach wie vor in der russischen Seele und im Denken verankert. Diejenigen, die dort waren kehren meist verliebt und begeistert zurück. Denjenigen, die es niemals schaffen werden, bleiben, wie damals zu Sowjetzeiten, nur die Träume. Aber alle sind sich einig, Paris ist die beste Stadt der Welt. Dort sind Schönheit und Träume zu Hause.

Auch meine beste Freundin aus Russland – Sofie - träumt von Paris. Als ich sie vor Jahren fragte, was sie am liebsten tun würde, wenn sie mich und meine Familie in Deutschland besuchte, kam ihre Antwort wie aus der Pistole geschossen: - „Mit euch nach Frankreich reisen und Paris sehen“. Da wurde der Deutsche in mir für einen Moment fast beleidigt. Aber nur fast. Denn ich weiß, wie wir ticken.

2014 wurde die „ewige Liebe“ der Russen zur Frankreich erneut auf die Probe gestellt, als Präsident Hollande auf Drängen der Amerikaner das Mistral-Deal mit Russland wegen der Ukraine-Krise platzen ließ und die Herausgabe der beiden Hubschrauberträger dem russischen Präsidenten Putin verweigerte.

Ich verfolgte das Ganze in deutschen und russischen Medien und habe mit dem einen oder anderen Bekannten aus Russland darüber diskutiert. Am Ende sagte jeder von ihnen zu mir, er fände die Entscheidung der französischen Regierung schade, und ja, irgendwie fehlte Hollande schon einiges von de Gaulles Format, denn letzterer hätte sich niemals etwas von den Amerikanern vorschreiben oder diktieren lassen, aber sie LIEBTEN Frankreich trotzdem nach wie vor. Sie seien verrückt nach diesem feinen Volk und seiner charmanten Lebensart und Kultur.

Und ich fühlte mich auf einmal irgendwie erleichtert. Die Liebe zur Frankreich wird den Russen niemals vergehen. Ob als Amour éternel oder Amour fou. Spielt letztendlich keine Rolle. Diese Bindung ist ein Teil unseres Schicksals. Daran konnten weder der Napoleon- Feldzug 1812, noch der Krim-Krieg 1853 noch der geplatzte Mistral-Deal oder die Ukraine-Krise 2014 bis heute etwas ändern. Zum Glück. Und das ist auch gut so. Schließlich möchte ich auch Paris sehen, aber nicht danach sterben. Mit meiner Familie und Sophie, im nächsten Jahr….

[center]Ende
Roman Dell
01.06.2017-23.07.2017
[/center]

Quelle: Friedenauer Presse Berlin, Die Hauptmannstochter. A. S . Puskin, neu übersetzt von Peter Urban
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Als ich nach Deutschland kam, lebte ich zuerst in einem Übergangswohnheim für Spätaussiedler. Das Leben dort brachte mich mit verschiedenen Menschen zusammen, die mir später Figuren und Stoff zum Schreiben lieferten, dennoch ist die heutige Story keine biografische, sondern eine FIKTIVE Geschichte. Zinka ist keine real existierende Figur, aber sie setzt sich aus vielen realen Leben anderer Protagonisten zusammen und ist das Ergebnis meiner Beobachtungen und Fantasie, das ich Ihnen jetzt präsentiere.

[center]Zinka

(Eine Kurzgeschichte)[/center]


Ich erinnere mich, dass ich an diesem Sommertag, als Zinka mit ihrer 9-jährigen Tochter in unsere Notunterkunft (eine ehemalige britische Kaserne im ländlichen H…) in einem metallicgrauen Reisebus aus Unna-Massen gebracht wurde, unter fürchterlichen Zahnschmerzen litt. Es war mittwochnachmittags und jede Zahnarztpraxis in Deutschland bereits geschlossen. Meine Backe war stark angeschwollen und ich verfluchte meine eigene Feigheit, die mich davon abgehalten hatte, den Onkel Doc heute Morgen aufzusuchen. Die Ankunft Zinkas lenkte mich von den Schmerzen ab. Nicht nur mich allein. Alle Bewohner unseres mehrblockigen „Russen-Heimes“ in der Zeusstraße, ganz gleich ob Mann oder Frau, klebten jetzt neugierig an ihren Fenstern und starrten die „Neue“ an, während Zinka mit dem Kind in aller Ruhe durch den Innenhof zum Büro des Hausmeisters lief.

Wir empfanden Mitleid für sie. Noch eine weitere Spätaussiedlerin von der insgesamt 4,5 Millionen starken Armee der Russlanddeutschen, die das Land ihrer Urväter im Sturm erobern wollten. Man entnahm ihrem Gesichtsausdruck, voller Entdeckungsfreude und Erstaunen, dass sie noch ziemlich „frisch“ hier war, keine Ahnung von der Realität hatte und deshalb die gleichen, naiven Pläne und Träume aus der alten Heimat hegte, wie jeder andere von uns damals auch, bis man die andere Seite der Medaille sah.

Äußerlich wirkte sie sehr zart und sehr jung, nur ihr Gesicht war das Gesicht eines zu schnell erwachsen gewordenen Menschen… und irgendwie nuttig dazu. Trotzdem konnte ich gar nicht glauben, dass sie schon Mitte zwanzig…und kein Schulmädchen, sondern eine Frau und Mutter war.

Sie zählte zu jener berüchtigten Kategorie der „verdorbenen“ Frauen, vor denen die besorgten Mütter ihre geliebten Söhne immer warnen und behüten. Diese zarten Intellektuellenseelen und verwöhnten Muttersöhnchen, die sich nie auf der Straße geprügelt hatten, kein Wodka tranken, allesamt Puschkins und Mandelstams Gedichte liebten und 7 Tage in der Woche Geige spielten. Schon seltsam, dass ausgerechnet diese zartbesaiteten Menschen genau an solchen Gegensätzen wie Zinka Gefallen fanden, statt weiterhin vernünftig zu sein und sich nur mit ihresgleichen abzugeben.

Warum auch immer… ich gefiel Zinka auch. Sie kam schon am ersten Tag auf mich zu und fragte, ob ich ihr nicht mit der Waschmaschine helfen könnte. Die sollte kaputt oder undicht, auf jeden Fall nicht in Ordnung sein und Unmengen an Wasser verlieren. An so viel Aufmerksamkeit vom weiblichen Geschlecht überhaupt nicht gewöhnt, stimmte ich erstaunt und widerstandslos sofort zu.

Wir saßen im Waschkeller. Zinka rauchte eine starke russische Zigarette (ich kenne mich mit Marken leider überhaupt nicht aus) und ihre Rede strotzte nur so vor deftigen Ausdrücken und Schimpfwörtern, die sie, genauso geschickt wie selbstverständlich, ins Gespräch einbaute.
Gleichzeitig strahlte sie etwas Sündhaftes, Verdorbenes und Lusterregendes aus, was mich zu ihr wie ein Magnet zog. Verbotene Frucht eben. Bis dahin ging ich mit einem wohlerzogenen Mädchen aus, dessen Mutter uns nie aus den Augen verlor. Unsere Beziehung war „artig“ und „jungfräulich“.

Mit Zinka entdeckte ich alle, mir bis dahin unbekannte, Erkenntnisse eines „erwachsenen“ Lebens. Zum Beispiel, dass man ein Mädchen nicht nur auf die Wange, sondern auch auf den Mund küssen kann und der Zungenkuss der Beste von allen sei. Denn „Händchen halten“ und „Händchen küssen“ sei im 21. Jahrhundert inzwischen nicht mehr angebracht, sondern höchstens nur langweilig, albern und altmodisch. Vor allem bei einem Prachtweib wie Zinka.
Wir zogen uns in den Stadtpark zurück, wo ich im Schutz der Bäume ihre kräftige Taille, ihren Busen und ihren Hintern stürmisch umarmte und Zinka hastig küsste, so oft und überallhin, wo ich wollte, ohne von ihr dafür als „Schwein“ und „Primat“ bezeichnet oder sonst noch verurteilt und zurückgewiesen zu werden, was jedes anständige Mädchen an dieser Stelle sofort hätte tun müssen, wenn ihm auch nur etwas an seinem Ruf lag. Zinka wehrte sich nicht. Stattdessen ließ sie sich weiter von mir befummeln und kniff nur schamlos die Augen zusammen, als wollte sie der ganzen Welt damit sagen: „Zieht Leine! Verpisst euch! Ihr Heuchler! Ihr Moralapostel! Denkt was ihr wollt! Das ist mein Leben! Und mein Spaß!“

Sie roch nach billigen Zigaretten und Wein aus dem Mund und wirkte bei jedem unserer Dates irgendwie „benebelt“, aber mein Verstand, dieser Sauhund und Verräter, ignorierte diese „Macken“ und „Warnzeichen“ und gab dem Drang des „Fleisches“ und meinen „animalischen Instinkten“ mit Freude nach.

Sie erzählte sehr gerne von sich. Davon, wie schwer und kompliziert ihr Leben vor der Ausreise nach Deutschland in Kasachstan war. Ich hatte den Eindruck, dass Zinka keine Geheimnisse vor niemandem hätte. Ihre Offenheit schockierte mich.

- „Weißt du, bis ich im siebten Monat war, bin ich noch regelmäßig zum Schaukeln in den städtischen Vergnügungspark gegangen. Ich liebte Schaukeln und Attraktionen, weißt du. Die Kontrolleurin hat mich die ganze Zeit für ein Schulmädchen gehalten…bis der Bauch zu dick wurde. Dann nicht, natürlich. Mann, sind die damals alle vom Hocker gefallen, als meine Schwangerschaft rauskam! Schule, Eltern, Ärzte! Schwachköpfe! Das war ein Spaß! Die Arschgeigen haben echt geglaubt, mit sechzehn wäre man noch eine Jungfrau. Von wegen! Ich sag’s ja, Hurkatoren“- sagte sie einmal, während sie breitbeinig auf der Treppe im Heim saß, eine selbstgedrehte Zigarette rauchte und gleichzeitig den brühend heißen Tee aus der Riesentasse genussvoll trank.

Nach dem sie mit ihrem Monolog fertig war, spuckte Zinka zynisch vor ihre Füße und lachte: laut und ekelerregend. Mir wurde übel von ihren Worten. Fäkaliensprache und Jugendslang gehörten nicht zu meinem Lexikon. Ich sagte „Liebe machen“, wenn sie f…ken meinte, bezahlte mit Geld und nicht mit „Kies“ und hörte Beethovens Mondscheinsonate, während sie sich die Strophen aus dem neuen russischen Ganoven-Hit „Bytirka“ leise vor sich hin pfiff. Wenn sie so wie jetzt sprach, hatte ich keine Zweifel mehr, dass sie für mich ein absolut fremdes Wesen war und wir nicht wirklich zueinander passten. Nie und niemals. Und auch dass unsere Dates ihr überhaupt nichts bedeuteten. Sie brauchte lediglich einen Mann. Sie hätte mit jedem anderen an meiner Stelle „rumgemacht“.

Schon bald fühlte ich mich in meinem Verdacht bestätigt, dass der Begriff Treue für Zinka tatsächlich ein Fremdwort war. Als ich eines Morgens beim Gang zur Toilette an ihrer Tür im Flur vorbeiging, bemerkte ich wie ein dürrer, rothaariger Mann, mit Zahnbürste, Handtuch und nur in Unterhose bekleidet, aus ihrem Zimmer rauskam und mir bis zum Waschraum folgte. Durch den engen Türspalt sah ich für einen kurzen Augenblick einen durchgeschwitzten, nackten Körper auf dem Bettlaken liegen… Es war Zinka. Sie war betrunken und schlief.
An jedem Wochenende wurde der Parkplatz vor unserer Wohnanlage zu einer Disco unter freiem Himmel. Die ehemaligen Heimbewohner, überwiegend junge und alleinstehende Männer, kamen mit ihren Autos hierhin und ließen es die ganze Nacht ordentlich krachen. Sie tranken Wodka und Bier, drehten die Musik in ihren Autos voll auf und versuchten das eine oder andere gerade angetroffene Mädchen aus dem Heim anzubaggern. Zinka ließ sich nicht lange bieten.
Bis dahin waren es überwiegend die „eigenen“ Jungs aus dem Heim, die bei ihr auf dem Zimmer waren, mit ihr tranken und feierten. Nun zählten auch diese lauten und aggressiven Gäste - „die Ehemaligen“ - zum bunten Kreis ihrer Freunde.

Der einzige Versuch, diese ungebetenen Gäste mit ihren lauten Partys, Gewaltausbrüchen und Alkoholexzessen aus dem Heim zu verjagen scheiterte kläglich, nach dem der Mann der es wagte, ein ehemaliger Falschschirmjäger und Elitesoldat namens Artjom, der 2 Jahre in Afghanistan gedient hatte, seinen vor kurzem gekauften Gebrauchtwagen am nächsten Morgen ohne Räder und völlig demoliert auf dem vermüllten Parkplatz fand. Auf der mit Kot verschmierten Glasscheibe stand in großen Druckbuchstaben auf Russisch gekritzelt: Artjom. Du bist ein Schwanz!

Der Falschschirmjäger war völlig außer sich, konnte jedoch weder etwas beweisen noch etwas dagegen machen. Und jeden den er verdächtigte zu Brei zu schlagen, ging natürlich auch nicht. Zur Polizei zu gehen und eine Anzeige gegen Unbekannt zu ersttaten, nutzte ihm aber auch nicht viel. Zum einen setzte er damit seine Ehre und seinen Ruf als Mann und Elitesoldat aufs Spiel, da das „Singen“ unter Russen, ob mit oder ohne Grund, allgemein verachtet wird. Zum anderen, weil die Bullen sich sowieso in unserer „Russen-Ecke“ nur selten blicken ließen.
Die Disconächte liefen ungehindert weiter. Jetzt fanden sie sogar unter der Woche statt. Artjom - der Fallschirmjäger - gab auf und zog aus. Die restlichen Heimbewohner distanzierten sich von den Fremden. Bald war Zinka die Einzige, die noch zu den nächtlichen Parkplatzpartys der Ehemaligen ging. Sie trank Wodka aus der Flasche und lachte mit den Jungs, wenn schmutzige Witze erzählt wurden. Sobald ein Schmusesong aus dem Autoradio erklang, klammerte sich Zinka an dem nächstbesten Mann, der ihr gefiel, fest, schloss die Augen und ließ sich im Tanz und Rausch der Musik versinken. Der „Auserwählte“ durfte dann meistens später ihr auch auf das Zimmer folgen…

Ich bekam immer mehr Konkurrenz. Zuletzt in Gestalt von 4 durchtrainierten, kaukasischen Männern, die Zinka jeden Tag (fröhlich und frisch gestylt) vor der Haustür in einem weißen Audi-80 abholten und hin und wieder auch über Nacht blieben. Ich erspare euch die Details an dieser Stelle lieber und überlasse den Rest eurer Fantasie.
Nach diesen Vorfällen begann mein brennendes Interesse an Zinka sich sehr rasch abzukühlen. In mir drin tobten der Zorn und die Eifersucht eines gehörnten Romantikers. Ich zerbrach mir den Kopf, wie ich mich an Zinka rächen könnte und hasste sie für ihre Hinterhältigkeit und den gemeinen Verrat.

Ihr entging nicht, dass ich sie nicht mehr besuchte. Als Zeichen des guten Willens und als Versuch Frieden zu schließen, lud sie mich plötzlich auf einen Tee ein. Ich weiß noch, dass mein Herz dabei fast stehen blieb, nachdem ich einen Schluck aus der Riesentasse genommen hatte, in der sie vorher 8 Teebeutel eine Viertelstunde hatte ziehen lassen.

-Stark, was? Man nennt das Tschefir! Alter Häftlingstrick aus dem russischen Knast. Wirkt wie Alkohol. Als hättest du ein Glas Cognac in einem Zug runtergekippt! Tut gut. Hat mir mein damaliger Macker gezeigt - protzte sie stolz vor mir.- Ich nehme immer acht. Meine übliche „Dosis“.

Wenn ich Zinka umarmte, was immer seltener geschah, versuchte ich möglichst nicht daran zu denken, wie viele kräftige Männerhände das bereits vor mir getan hatten und, dass es in ihrem Leben schon immer sehr viele Männer gegeben hatte.
Nach und nach fing ich an mich für Zinka zu schämen und sie nach Möglichkeit zu meiden. Insbesondere nachdem sie bei den Bewohnern unseres Heimes einen „gewissen Ruf“ erlangt hatte. Nur ihre Tochter tat mir aufrichtig leid. Dieses kränkliche, dürre Mädchen, das sich eine neue Barbie-Puppe …sowie einen Vater und ein normales Familienleben wünschte.
Wenn Zinka immer wieder in ihren wöchentlichen Alkohol-Exzesse-Rhythmus verfiel, blieb das Kind gehorsam auf der Haustreppe sitzen, ohne die Mutter bei ihren Trinkgelagen zu stören und hörte die ganze Nacht den betrunkenen Stimmen und den dumpfen Geräuschen aus ihrem Zimmer zu.

Und einmal versetzte Zinka das ganze Heim in Angst ein. Es war so: Eines Tages sah ein Bewohner Zinkas Tochter schon wieder auf der Haustreppe vor der Wohnungstür ziellos herumsitzen und erkundigte sich, warum sie um diese Uhrzeit noch nicht in der Schule war.
-Weil meine Mama mich nicht dahin gebracht hat - sagte das Kind gutgläubig.
- Ah so etwas. Und was ist genau mit deiner Mama passiert, dass sie dich nicht zur Schule bringen konnte - folgte die nächste Frage.
Das Kind zuckte unschlüssig mit den Schultern.
- Keine Ahnung. Weiß ich nicht. Sie schläft. Sie hat gestern mit irgendwelchen großen Onkels vom Parkplatz viel Wasser aus der großen Flasche getrunken, die ich nicht anrühren darf. Aus so einer! - Sie zeigte mit dem Finger in Richtung der zerbrochenen Gorbatschow- Flasche, die durch den halbgeöffneten Türspalt zum Vorschein kam.- Und seitdem liegt sie und wacht nicht mehr auf....

Das war das berühmte letzte Tröpfchen, das das Fass zum Überlaufen brachte. Man verzieh Zinka schon einiges: ihr unmoralisches Verhalten, ihr Fluchen, und dass sie Gras rauchte und Alkohol trank, ging auch noch, so lange es in Maßen geschah…Aber das hier war etwas ganz Anderes. Eine ganz neue Dimension an Verfehlung und Verantwortungslosigkeit. Und sie sprengte jeden Rahmen. Das eigene Kind so zu vernachlässigen, dass man es, wie heute, beinah zur Waise gemacht hätte… Das ging gar nicht!!!
Die Öffentlichkeit war empört. Und sie reagierte. Noch am selben Abend wurde Zinka von ihren Eltern abgeholt, deren Existenz hier niemand vermutet hatte. Am nächsten Tag meldete der Hausmeister sie stillschweigend ab. Danach hörte ich nie wieder etwas von ihr. Zinka war wie vom Erdboden verschwunden. Und niemand vermisste sie.

Ich verließ die Zeusstraße ein halbes Jahr später. In dieser Zeit unternahm ich keinen einzigen Versuch, nach Zinka zu suchen oder sie irgendwie zu treffen. Ich vergaß, dass es sie überhaupt gab. Es war mir peinlich, jemandem zu gestehen, dass ich mich in ein Mädchen wie Zinka verliebt hatte, mit einer Frau wie sie zusammen gewesen war, obwohl sie mich das Küssen und das Lieben gelehrt hatte. Dass sie meine Freundin gewesen war, obwohl ich sie nie für eine hielt. Später traf ich ein anderes Mädchen. Wir passten in jeder Hinsicht zusammen. Nach unserer Blitzhochzeit war Zinka nur noch eine „Jugendsünde“ und Geschichte.

Als ich drei Jahre später, im Sommer, Zinka vor dem Eingang zum örtlichen Arbeitsamt begegnete, erkannte ich nicht sofort in dieser Fremden „meine“ Zinka aus der Kaserne wieder, die ich vor dem Fischteich im städtischen Park auf den Mund geküsst hatte. Sie hatte deutlich zugenommen, aber das stand ihr gut. Etwas Anderes war das Problem. Ihr gelbliches Gesicht, schwarze Ringe unter den Augen und ihre zittrigen Hände, mit denen sie sich gerade eine Zigarette anzündete, verrieten mir, dass sie alkoholabhängig, drogensüchtig und leberkrank war. Ihre Tochter erkannte mich als erste.
-Eugen! Guck Mal! Das hat mein neuer Papa mir heute geschenkt!
Sie stürmte voller Freude auf mich zu und zeigte mir stolz ihre Kunststoffpuppe. – Eine Barbie har er mir auch versprochen. Zu Weihnachten!

Doch ich starrte nur Zinka an. Unsere Blicke trafen sich. Sie hatte mich ebenfalls erkannt. Ich las das in ihrem Blick. Doch sie grüßte mich nicht. Stattdessen wandte sie ihren Blick schnell von mir ab und schenkte mir nur ein stummes, verschwörerisches Lächeln. Ich weiß bis heute nicht, warum sie das tat. Ich glaube nicht, dass sie mir für irgendetwas böse war, dass sie mein Verschwinden und meine Distanz für einen Verrat an ihr hielt. Oder dass sie mir übelnahm, dass ich niemals nach ihr gefragt habe. Warum auch? Ich fügte ihr keine Schmerzen zu, höchstens umgekehrt. Und ich spielte ihr nichts vor, nur um am ihren Körper zu kommen, wie andere Männer es gerne taten. Meine kurze Zuneigung zu ihr war echt. Dafür mochte sie mich. Wir waren uns gegenseitig nichts schuldig. In keiner Weise.
- Wer war das? - fragte der Mann an ihrer Seite. Seine Stimme klang barsch. Er war groß und unrasiert, wodurch er optisch noch finsterer und unfreundlicher wirkte, als er das ohnehin schon tat.
- Ein Bekannter - antwortete sie ausweichend, nahm ihn an die Hand und lief davon. Ihre Tochter folgte ihnen, ohne ihren „Schatz“ auch nur für eine Sekunde aus den Händen zu geben und musste sich dabei richtig anstrengen. Die Puppe war fast so groß wie sie selbst.
Und plötzlich tat sie mir leid. Ich fühlte mich ein wenig traurig und beschämt. Gleichzeitig empfand ich auch ein Gefühl der Freude. Ja, Freude! Ich freute mich aufrichtig für Zinka. Und war glücklich, dass sie endlich einen Mann gefunden hat, der bereit war und auch den Mut dazu hatte, mit ihr zusammen zu leben, an ihrer Seite zu bleiben, sie so zu lieben wie sie wirklich war und wie sie immer bleiben würde: unmoralisch und unverbesserlich. Jener Mut, der mir gänzlich fehlte…

Ende
Roman Dell
Russische Fassung
20.08.2007
Deutsche Fassung
26.07.2017-03.08.2017
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Beitrag von zuzu »

Jeden Morgen steige ich in die Straßenbahn ein. Meine Lieblingsbeschäftigung während einer Fahrt ist lesen und dabei heimlich die anderen Fahrgäste beobachten, ihren Gesprächen lauschen, sowie die Gesichter und Kleidung der Menschen studieren. Ein reiner Zeitvertreib oder pure Neugier ist das nicht. Ich sehe darin eher eine Schatzgrube und Inspirationsquelle, die mir lustige Geschichten wie diese liefert...

[center]Alles geht vorbei
oder
skurrile Geschichten aus der Welt des Undergrounds
Kurzgeschichte[/center]


Die Menschen haben die besondere Gabe, eine und dieselbe Sache unterschiedlich zu sehen und zu bewerten. Nehmen wir die öffentlichen Verkehrsmittel zum Beispiel. Dem überzeugten Autofahrer grault es allein schon bei der Vorstellung, jemals in seinem Leben mit Bus oder Bahn fahren zu müssen. Er würde dieses Gefühl von Freiheit und Komfort, das das eigene Auto mit sich bringt, niemals gegen die stickige Luft einer überfüllten Bahn freiwillig tauschen, auch wenn das Autofahren von Jahr zum Jahr immer teurer wird.
Andere wählen die Öffentlichen, aber aus wirtschaftlichen Gründen. Denn obwohl die Ticketpreise ebenfalls regelmäßig erhöht werden, ist ein Monatsabo immer noch günstiger als der PKW. Und man spart sich die Kosten für Sprit, Versicherung, Parkplatzsuche und Parkplatzgebühren und sonstigen Ärger nebenbei dazu. Einen kleinen Bonuspunkt haben die Öffentlichen für mich auch noch. Sobald ich einen Platz ergattert habe, brauche ich mich um nichts mehr zu kümmern, während der arme Autofahrer die ganze Zeit auf den Verkehr achten muss. Wozu die Arbeit, Freunde? Ein Grund mehr, weshalb ich die Bahn dem Auto IMMER vorziehen werde.

Meine Lieblingsbeschäftigung während einer Fahrt ist lesen und dabei heimlich die anderen Fahrgäste beobachten, ihren Geschichten und Gesprächen lauschen, sowie die Gesichter und Kleidung der Menschen studieren. Ein reiner Zeitvertreib oder pure Neugier ist das nicht. Ich sehe darin eher eine Inspirationsquelle. Denn so eine tägliche Routinefahrt mit der Bahn kann manchmal für wahre Überraschungen sorgen und einen sogar auf philosophische Gedanken bringen. Was die Jugend und die Zeit angeht, zum Beispiel.

Beides vergeht wie ein schöner Traum und zwar schneller als einem lieb ist. Und Schwups… erwacht man als Enddreißiger eines Morgens plötzlich aus seinem Dornröschenschlaf, findet sich sichtlich gereift in dieser Bahn auf dem Weg zu Arbeit wieder und darf jetzt neidisch auf die nachgerückte Jugend blicken, die eine Kopie von dir vor zehn Jahren hätte sein können, nur dass man selbst auf einmal nicht mehr dazu gehört. Eine Kopie? Na ja, sagen wir fast. Wir hatten damals zwar auch Handys, aber noch keine Tabletts oder Smartphones. Aber der Rest stimmt. Die Probleme und Sorgen sind meist dieselben. Digitales Zeitalter hin oder her. Das beweist mir das Leben immer wieder aufs Neue, indem es mich zum Zeugen von Geschichten wie diese macht. Ich spreche jetzt von dem Mädchen, dass ich vor Jahren, an einem regnerischen Donnerstag, in der Straßenbahnlinie 301 traf.

Sie telefonierte mit einer Freundin. Und zwar in der Lautstärke bei der das Lauschen nicht mehr nötig war. Die ganze Bahn bekam auch so alles mit. Es ging um ihr Leben, das momentan einer „reinsten Katastrophe“, nein, einem „Riesenweltuntergang“ glich.

- „Ich bin am Ende Susi! Ich kann es nicht mehr!“ - klagte sie laut in den Hörer.- „Nico will nichts mehr von mir wissen. Das Auspuffendrohr hat heute Morgen mit mir per SMS Schluss gemacht. Jetzt sei mal ehrlich, wie „asi“ ist das denn, per SMS mit der Freundin Schluss zu machen? Der Dreckskerl hat keinen Auspuff in der Hose, um mir das persönlich zu sagen. Er sagte, er war gestern mit Claudia zusammen und findet, sie küsst viel besser als ich…Was, quatsch nicht? Doch! Hat er mir doch gerade gesimst… Was? Ich mich rächen? Wie denn? Oh, nee Biene! Dieser Sergej aus Kasachstan ist zwar süß, aber er will mehr von mir. Ich aber nicht von ihm… Erzähl keinen Mist! Zwischen uns ist nichts. Ich schwöre dir! Der ist nur ein guter Kumpel für mich. So zum Quatschen, weißt du… Was sagst du? Hammer! Ah… wo wir jetzt gerade darüber sprechen, weißt du ob Marco jetzt Single ist? Nein, nicht der Grufti- Marco! Ich meine Marco - den Kickboxer. Ist er immer noch mit dieser Bitch aus der 10 b zusammen? Voll krass, Süße. Was findet er an ihr so toll? Ich halte das Mädel für so etwas von billig! Trotzdem sind alle Kerle scharf auf sie. Und mich beachtet niemand. Selbst dieser Versager hat mich gerade abserviert. Das ist voll ungerecht! Man sollte die Tussi einmal ohne Make-Up und ihr Nuttenklamotten sehen. An mir ist wenigstens alles echt. Weißt du was, mir reicht es! Die Jungs sind so doof und primitiv!!! Ich bin mit der Männerwelt fürs Erste durch. Mir geht’s jetzt richtig scheiße! Ich habe viel Stress und tausend Termine um die Ohren. Ich muss mir heute die Nägel machen, Shoppen, mit Vanessa telefonieren, für die Klausur lernen, Haare föhnen, auf meine Schwester aufpassen. Ich weiß gar nicht, wann ich das alles schaffen soll! Der Tag hat nur 24 Stunden. Und dann ist da noch meine Mutter. Sie will, dass wir heute Oma im Heim besuchen, obwohl die Alte schon seit Jahren Demenz hat und niemanden mehr erkennt. Echt jetzt, ne! Als ob ich keine anderen Sorgen hätte… Soll ich dir was sagen? Mir ist jetzt alles scheißegal! Ich glaube, ich werde sowieso bald sterben. Ich habe seit drei Tagen diese komische Schwellung im Gesicht. Total rot. Nurcan sagt, das ist bestimmt Krebs oder so. Davon stirbt man. Deshalb gehe ich morgen zum Hautarzt. Aber meine kleine Schwester, die ist voll behindert, die glaubt nicht daran. Die sagt, das wäre nur der Pickel, den ich mir vor dem Spiegel ausgedrückt habe, als ich zu Janins Party gehen wollte. Warte Mal ab! Die werden alle doof gucken, wenn ich wirklich krepiere. Insbesondere dieses Auspuffendrohr Nico! Der hat es echt verdient!“

Ich sehe schon. Ihr schmunzelt auch und denkt euch im Stillen euren Teil dazu: „Was für Stress? DAS nennt sie STRESS??? So einen Stress würden wir alle gerne haben“. Ich gebe zu, ein wenig naiv und kindisch klingt das schon, doch ich bitte euch, nicht zu schnell über die Kleine zu urteilen. Denn steckte nicht jeder von uns einmal in ihrer Haut? Ich kann mich auch an die Zeiten erinnern, in denen ein „Korb“, den man von dem „Mädchen seiner Träume“ bekam, einen jedes Mal wie ein Blitzschlag traf und wochenlang außer Gefecht setzte. Und man nur noch den Wunsch hatte, sich in seinen vier Wänden zu verkriechen, der Welt einen Stinkefinger zu zeigen und seine Wut und seinen Liebeskummer in der Musik zu ertränken, indem man Still Loving You -, ein echter Herzausreißer-Hit von Skorpions, gefühlte X-Millionen Mal abspielte. Und zwar so laut, dass die Fensterscheiben des Nachbarhauses zu platzen drohten. Alles schon gehabt.

Das Gemeine an der Jugend und am Erwachsenwerden ist aber, dass man so etwas nicht einfach wegklicken kann, wie eine lästige Werbung auf YouTube. Diese Schmerzen, die Wut, der Verrat, die Eifersucht und die Enttäuschung gehören zum Gesamtpaket namens „Leben“ dazu. Als Halbrusse und somit automatisch ein Pessimist, habe ich früher auch jede Zurückweisung und Enttäuschung gleich als Riesenlebensdrama empfunden, bis ich mir den Rat des russischen Barden und Schauspielers Mikhail Bojarsky zu Herzen genommen habe, der in seinem Lied sang:“ Alles geht vorbei. Sowohl die Trauer als auch die Freude“.
Ein genialer Song. Seitdem geht es mir prima. An dem Satz ist wirklich etwas Wahres dran, aber vielleicht bin ich auch einfach nur etwas ält…reifer geworden. Das ist das Mädchen aus der Bahn inzwischen bestimmt auch. Da bin ich mir ziemlich sicher.

Neue Fahrt - neues Glück. Dieses Mal sind es zwei Schüler, die unerwartet in mein Blickfeld rutschen. Der eine sieht aus, als hätte die zornige Mutter ihn gerade aus dem Bett rausgeschmissen, während sein Kollege munter und frisch wie gebannt ins Schulheft blickt. Er ist es auch, der für den eingestiegen Freund sofort Platz macht. Nach einer komplizierten Begrüßungszeremonie (mehrere Handzeichen, Handschlag, Küsschen links, Küsschen rechts, Umarmung und Victory Zeichen), kommen die Beiden endlich ins Gespräch. Ich gebe euch hier nur die Originalfassung der Unterhaltung wieder. Hört und denkt, was ihr wollt.
- Was geht ab, Bro? Du siehst Scheiße aus!
- Bin isch auch!
- Warst wohl gestern zu lange in der Hütte, was?
- Jau! Korrekt, Mann! Zu viel Alkohol. Zu viel Dance. Zu viel Party! Und ganz eindeutig
zu wenig Schlaf. Mann, habe ich eine dicke Birne heute. Ich könnte echt kotzen.
- Hattest du etwas mit Chantal? Die war ziemlich abgefüllt gestern?
- Was geht disch das an, Mann? Und woher weißt du das überhaupt? Sag mir lieber,
wo warst du denn gestern? Alle haben auf dich gewartet, du -Opfer!
- Wer ist alle?
- Janine, Nicole, Kathrin, Micha, Alex, Thomas, ich. Die ganze Clique. Alle.
- Ging nischt, Mann! Hab für den Vortrag gebüffelt. Wir beide müssen doch heute ein
Referat halten.
- Was????
- Jau, Bro. Erinnerst du dich nicht, was der Deutschlehrer am Freitag sagte. Wir sollten
doch bis Montag ein paar Sätze zum Thema Gestik schreiben. Und gleich wird abgefragt.
- Isch bin am Auspuff, Alter! Isch bin so was von am Auspuff!!!
- Bist du nischt. Hab doch fertisch! Heul nischt, du-Penner!
- Dann schieb Mal dein Heft rüber! Was bedeutet der Scheiß eigentlich?
- Meinst du Gestik?
- Ja, was denn sonst!
- Das ist ganz einfach, Bro! Gestik ist so etwas wie eine Gebärdensprache- Wenn du dich
statt Wörter mit Zeichen verständigst.
- Äh???
- Na, da ist doch einfach. Was machst du, wenn du deine Ex mit ihrem neuen Lover in der
Hütte siehst?
- Sie kriegen beide einen Stinkefinger von mir gezeigt. Darauf kannst du Gift nehmen!
- Siehst du Bro! Das ist die Scheißgestik. Du hast der Fuckbraut den Stinkefinger gezeigt,
anstatt zu ihr „Schlampe“ zu sagen. Kapiert? Und jetzt schreib endlich ab und trödele
nicht. Wir müssen am Musiktheater aussteigen.

Während meine Sitznachbarin, eine leicht ergraute Dame, ihre Verachtung und Empörung kaum verbergen kann und sofort warnend und missbilligend in die Richtung der Beiden blickt, bleibe ich persönlich entspannt und gelassen. Was soll diese ganze Aufregung? Ich finde die Jungs höchstens nur amüsant, aber keineswegs böse oder gefährdet.

So schlimm ist die Jugend von heute nun auch wieder nicht. Auch unsereins ging damals jedes Wochenende in die Hütte (* eine bekannte Diskothek in Gelsenkirchen) und hat manchmal ebenfalls „zu doll“ gefeiert. Wir ließen uns auch Tattoos stechen oder Piercing machen, haben die verrücktesten Sachen gemacht und schrille Outfits getragen und natürlich… auch diesen lächerlichen Jugendjargon benutzt. Nur die Vokabeln waren damals andere. Alter statt Bro, Joint statt Dope, abhängen statt chillen. Was nun?

Keine zehn Jahre später ist davon so gut wie nichts mehr übriggeblieben. Die Zeit ist der wirksamste Lehrer. Niemand entgeht ihrer Macht und ihren Lektionen. Am Ende wird sie mit jedem, auch noch so starren Dickkopf oder Freigeist, auf die eine oder andere Art fertig. Auch wir waren damals rebellisch, hielten uns für cool und witzig und haben geglaubt, wir könnten diesen Moment der Jugend ewig anhalten, niemals alt, niemals langweilig, niemals wie unsere Eltern werden. Und siehe Mal einer an: WIR SIND JETZT WIE UNSERE ELTERN. Schön brav und bürgerlich geworden. Viele von uns haben jetzt eigene Kinder und Familien. Die wilden Zeiten sind vorbei. Statt wie damals zu feiern, backen einige von uns heute lieber mit ihren Kindern Plätzchen zusammen, spielen im Sandkasten, stricken, basteln, sitzen in der Schaukel und posten die glücklichen Gesichter ihrer Sprösslinge, (wie einst die Bilder von den Partys), auf Facebook.

Überhaupt hat das Leben etwas von einem Riesenrad. Alles dreht sich, geht vorbei und kommt irgendwann Mal wieder. Es besteht aus einer nie endenden Wiederholung: Sonnenaufgang und Sonnenuntergang, Herbst und Winter, Sommer und Frühling, Tod und Geburt, Photosynthese und Wasserkreislauf. Wir - Lebewesen sind nichts weiter als immer wieder wechselnde Teilchen in seiner Bahn, die dem festgelegten Ablauf des Universums folgen. Auch diese Jungs werden es lernen und zu spüren bekommen. Und vielleicht sitzen sie zehn Jahre später selbst in dieser Bahn und regen sich dann über die anderen auf, wie meine Sitznachbarin über sie gerade. Wer weiß das schon.

Und manchmal weiß ich selber nicht, was ich von der einen oder anderen erhaschten Geschichte in der Bahn halten soll. Wie etwa von diesem Gespräch, das ich einmal zufällig mitbekommen habe. Dabei habe ich die beiden Mädchen zunächst übersehen. Sie wirkten wie zwei Musterschülerinnen aus einer Klosterschule, also absolut normal, keine auffälligen Klamotten, kaum Schminke, nahezu unsichtbar…bis eine von ihnen zu reden begann.

- Was machst du am Wochenende?
- Ich habe Hausarrest.
- Wieso denn das?
- Meine Mutter hat mich beim Rauchen erwischt. Ich muss echt aufpassen, was ich
demnächst auf Facebook poste.
- Was ist passiert?
- Ich habe ihr gesagt, dass ich zu Jennys Geburtstagsparty gehe und dort übernachte.
Stattdessen war ich beim Marcel zu Hause und hab da ein Foto von mir auf der
Fensterbank seines Schlafzimmers gepostet, mit dem Bierglas in der Hand und einer
Kippe im Mund.
- Und?
- Die hat es gesehen. Es gab Stress. Deshalb darf ich am Wochenende nicht raus.
Pädagogische Maßnahme, weißt du.
- Mach dir nichts daraus. Das kann man doch ganz schnell lösen. Du musst nur die
Privatsphäre –Einstellungen in deinem Account ändern. Tust ein Häkchen rein, dass nur
deine engsten Freunde in deinem Profil alles sehen können. Und fertig. Deine Mum kann
dich kreuzweise.
- Das ist es ja. Das kann ich nicht machen. Meine Mutter IST nämlich in der Einstellung
„engster Freund“ gespeichert. Ich kann die Alte doch nicht rausschmeißen oder sperren,
wie jeden anderen Auspuff draußen?
- Ups! Trotzdem sehe ich kein Problem. Dann musst du dir halt einfach ein zweites Konto
ohne Profilbild anlegen. Oder du nimmst dir ein Filmposter oder irgendein Bollywood- Star
als Avatar. Dort kannst du dann alles posten. Außerdem bist du schon 18, Biene! Genau
wie ich. Ab 18 haben die Eltern nicht wirklich etwas zu sagen…

Wer jetzt denkt, das wäre der „Klopfer“, muss noch ein wenig warten. Das Beste kommt bekanntlich zum Schluss:

- Wie sieht’s bei dir aus? Wolltest du nicht am Samstag zum Rhein in Fire nach Düsseldorf?
- Ja schon, aber mein Freund will nicht dahin.
- Warum? Das ist doch etwas für junge Menschen?
- Schön wäre es! Er ist 37. Ich sage es dir, der Typ ist ein richtiger Stubenhocker. Er macht
nichts Anderes als stundenlang vor der Playstation zu sitzen und irgendwelche Terroristen
auf dem Bildschirm zu killen. Das ist voll ätzend!
- Dann fahr doch selber hin!
- Der will nicht, dass ich alleine ausgehe. Er ist ziemlich eifersüchtig.
- Mach es doch heimlich. Er bekommt das doch eher nicht mit, wenn er die ganze Zeit nur
vor der Glotze sitzt.
- Doch schon. Ich wohne bei ihm... seit ich Stress zu Hause habe.
- Das ist Scheiße. Wo hast du denn diesen Langweiler aufgegabelt?
- Gar nicht! Der war früher mit meiner Mutter zusammen…

Unglaublich! Dabei haben die Beiden wirklich so unschuldig ausgesehen. Ich hätte niemals gedacht, dass am Ende so etwas rauskommt. So schnell kann man sich von dem menschlichen Äußeren täuschen lassen.
Jetzt soll der liebe Leser aber auf keinen Fall denken, dass man in der Bahn nur noch solche schrägen Vögel und verrückten Typen wie vorhin trifft. Genau genommen ist das absolut umgekehrt. Was Ihr gerade erlebt habt, sind die besagten „Rosinen“. Der Rest vom Kuchen ist ziemlich normal.

Wenn Sie immer die gleiche Bahn zur gleichen Zeit nehmen, werden Sie früher oder später unwissentlich zum Zeugen des Lebens anderer Menschen, wovon täglich ein Stück vor ihren Augen abläuft, auch wenn die Mitfahrenden selbst, nach wie vor, anonym bleiben. Sie sehen die Fahrgäste ein- und aussteigen, bekommen mit, wie sie wachsen oder altern, welches Buch oder welche Zeitung sie lesen, wann jemand mit seinem Handy spielt, sich ärgert oder über die Arbeitskollegen lästert und sind selbst ein Teil von diesem Prozess. So geht es mir zumindest. Ich fühle mich umgeben von vertrauten Gesichtern.

Da ist zum Beispiel jemand, mit dem ich vor Jahren in einem Wahlbezirk als Wahlersatzhelfer zusammensaß. Sie steigt jeden Morgen mit einem Becher Kaffee in der Hand. Sie erinnert sich nicht mehr an mich. Ich an sie aber schon. Damals war sie noch ein Mädchen. Frisch und sorglos. Jetzt ist sie eine erwachsene Frau geworden und hat bereits ein Kind bekommen, das sie ab und zu bei sich führt. Obwohl sie noch keine vierzig ist, hat das Leben es schon geschafft, die ersten Spuren auf ihrem Gesicht zu hinterlassen. Ein paar Falten und einen leicht verbitterten Blick.

Sie ist nicht die einzige, die ich aus der Welt des Undergrounds inzwischen kenne. Hin und wieder entdecke ich in der Menschenmenge auch das Gesicht einer anderen Frau, von der ich weiß, dass sie als Arzthelferin irgendwo in der City arbeitet. Dazu jede Menge Kollegen, die genau wie ich im öffentlichen Dienst tätig sind. Man erkennt sie meist an der frischen WAZ-Zeitung, die sie gleich nach dem Hinsetzten mit einem verwaltungstypischen Griff auf den Knien ausfalten oder an den Gesprächen, bei denen sie fast automatisch Worte oder Abkürzungen aus dem Beamten-Jargon benutzen, die einem Nichteingeweihten überhaupt nichts sagen.

Nicht nur die Fahrgäste in der Bahn, auch die Menschen draußen gehören zu dieser Welt des Undergrounds dazu. Ich spreche von dem Mann in Erle, der immer wieder Ausschau nach seinem Auto hält und das eigene Fahrzeug akribisch inspiziert und begutachtet, während die 301 wie eine weiße Anakonda gerade an seinem Haus langsam vorbei schleicht. Er ist pünktlich wie eine Schweizer-Uhr. Und sein „Kontrollgang“ fast eine Tradition. Ohne die wäre diese Fahrt keine Fahrt.

Und neulich ist mir auch etwas Interessantes passiert. Ich glaube, ich bin selbst zum Gegenstand und Objekt von Betrachtungen geworden. Alles fing damit an, dass ich auf dem Rückweg nach Hause einen guten Arbeitskollegen in der Bahn traf. Wir kennen uns noch von früher, als ich noch im selben Dienstgebäude wie er saß. Trotz eines deutlichen Altersunterschieds, teilen wir die gleiche Leidenschaft für Literatur, Geschichte, Kultur und Politik und verbringen die gemeinsame Fahrzeit in lebhaften Diskussionen. Mit ihm kann ich die Zeitgeschichte, die vor meiner Geburt stattfand und die ich nur als Kapitel in einem sowjetischen Schulbuch kenne, aus dem Mund eines westlichen Zeitzeugen und aus einem anderen Blickwinkel erleben und erfahren. Unsere Themen hängen meist von dem aktuellen politischen Geschehen ab. Mal ist das Putin, Trump, Wahlkampf in Deutschland, Bürgerkrieg in Syrien und in der Ukraine oder die Spannungen mit Nordkorea. Ein anderes Mal spulen wir die Zeit einfach zurück und unterhalten uns lieber über Lenin, Fidel Castro, Che Guevara, den Zerfall der Sowjetunion, die Prawda, die DDR und das Alltagsleben im Sozialismus. Es gibt immer so viel zu besprechen und die Zeit dafür ist verdammt kurz.

Heute erzählte mir der Kollege von seiner letzten Reise nach Portugal, die ihm außerordentlich gefallen hat. Dann sprachen wir über den Archipel Gulag und Solschenizyn und er wollte in diesem Zusammenhang von mir wissen, ob papierosy in Russisch dasselbe wie Zigaretten auf Deutsch bedeutet, oder ob es da noch einen Sachunterschied gibt. Ich schwärmte von dem Buch „Lärm der Zeit“, in dem es um den sowjetischen Komponisten Dmitrij Schostakowitsch und die Kunst in der Diktatur geht. Daraufhin zeigte er mir das Buch, das er jetzt gerade las, damit ich mir auch Titel und Autor merken konnte.

Wir waren so in unserem Gespräch vertieft, dass wir kaum mitbekommen haben, wie ein junges Mädchen neben uns Platz nahm und unsere Unterhaltung aufmerksam verfolgte. Sie warf uns hin und wieder neugierige Blicke zu und wurde rot im Gesicht. Sie lächelte verlegen, als ich sie zufällig dabei ertappte, wie sie uns von der Seite anstarrte und belauschte. Erst beim Aussteigen ließ sie die Bombe „platzen“:
-„ Übrigens, vielen Dank für das aufschlussreiche Gespräch! Richtig interessante Themen. Es war mir ein Vergnügen, euch die ganze Zeit zuzuhören“ gestand sie, während sie sich auf den Weg zur Tür machen wollte.
Ich stand ebenfalls auf. Es war auch meine Haltestelle. Wir drängelten uns durch die vollgestopfte Bahn durch.
-Gehen Sie vor. Schließlich habe ich nicht so viele Taschen wie Sie. Sie müssen sich an dem Griff festhalten können, falls die Bahn wider Erwarten plötzlich zu scharf bremst. Ich will nicht, dass Sie mir noch umfallen, sagte sie halbernst, halb im Scherz.
-Wäre das nicht genau die Stelle, wo man in Bollywood- Filmen immer zu singen beginnt? -konterte ich.
-Dann singen Sie!- sagte die Kleine frech und stieg aus.

Sie schien wirklich nicht auf den Mund gefallen zu sein. Und in dem Moment ging mir dieser Gedanke durch den Kopf: Was ist, wenn ich gerade an Jemanden gerate, der dasselbe Hobby wie ich zu pflegen scheint und auch immer auf der Suche nach neuen Gesichtern und Geschichten ist. Darum bereue ich es zutiefst, das Mädchen nicht sofort danach gefragt zu haben, ob sie in Wirklichkeit nicht eine Schriftstellerin ist. Vielleicht sind mein Kollege und ich jetzt die Helden in ihrer Geschichte. Das wird für mich vorerst ein Rätsel bleiben. So verrückt ist manchmal das Leben in der Bahn.

Und falls ich demnächst gefragt werde, wo nehme ich nur solche Geschichte her, kann ich hier ohne zu lügen die Wahrheit sagen:“ Fahrt Bahn! Fahrt Bahn!“

[center]Ende
Roman Dell
06.06.2017-20.06.2017[/center]
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Ein guter Freund von mir sagte zu mir neulich, dass der Wert der Erinnerungen und Begegnungen, die wir im Laufe des Lebens haben, für uns erst später erkennbar wird. Meist zu spät, um etwas unternehmen oder ändern zu können. Und dann bleibt die Trauer und das Schuldgefühl zurück mit denen wir weiterleben müssen. Ich kann mich diesem nur anschließen. Vor 11 Jahren bin ich auch einem Menschen begegnet, der mich nachhaltig prägte, so dass ich später eine Geschichte darüberschrieb. Jene Geschichte, die Sie heute lesen.

[center]
Die Spuren seines Lebens


(Kurzgeschichte)

[/center]

Es war ein typisches Landhaus in einer typisch ländlich gelegenen Straße, irgendwo in Deutschland. Idyllischer Bau aus den Sechzigern, versteckt im Grünen der Bäume am Rande der Stadt. In einer solchen Gegend ist die Grenze vom Ländlichen hin zum Städtischen oft verwischt.

Eine ältere Frau öffnete uns die Tür. Sie war klein und hatte die Gesichtszüge einer guten Oma aus einem alten Märchen. Sie wirkte sehr freundlich und vertrauensvoll und war uns sofort sympathisch.

- „Sie kommen bestimmt wegen der Anzeige?“, sagte sie nach der üblichen Begrüßung und bat uns ins Haus hinein. – „Sie sind oben. Wir haben alles auf den Boden abgestellt, weil die Regale abgebaut werden mussten. Sie können alles haben.“

Wir stiegen die lange und steile Treppe hinauf und folgten der Frau bis zum letzten Stockwerk. Da blieb sie stehen und holte den Schlüssel aus der Tasche ihrer Schürze und steckte ihn ins Schlüsselloch. – „Hier war seine Wohnung“. - sagte sie. Die Tür ging auf und wir traten hinein…

Bücher. Ein Meer von Büchern. Dicke und dünne, kleine und große, teure und billige Ausgaben. Taschenbücher und gebundene Folianten. Lernbücher, Romane, methodische Literatur, Zeitschriften, Lexika und Ratgeber. Ich fühlte mich vom Umfang der Sammlung überwältigt. So viele Bücher, Berge von Büchern. Bücher überall. Er müsste …

„Mein Sohn war Lehrer“, hörte ich ihre Stimme neben mir, als hätte sie meine Gedanken erraten. Sie ließ sich nieder. „Manfred hat Deutsch und Religion unterrichtet. Er starb an Asthma vor dreizehn Jahren. Seitdem hat niemand mehr dieses Zimmer betreten. Dieses Jahr bin ich achtzig geworden. Meine Tochter will, dass ich jetzt bei ihr in Hamburg wohne. Wir haben das Haus deshalb vor kurzem verkauft. Nach Weihnachten bin ich aus dem Ruhrgebiet weg und komme nicht mehr hierher zurück. Die Bücher kann ich leider nicht mitnehmen. Meine Tochter lebt in einer kleinen Wohnung und hat selbst nicht so viel Platz. Ich habe es bis jetzt nicht geschafft, auch ein einziges davon zu berühren. Ich denke, er hätte nichts dagegen, wenn jemand seine Bücher bekommen würde. Wichtig ist nur, dass derjenige sich wirklich dafür interessiert und sie nicht gleich auf dem Flohmarkt für fünfzig Groschen verscherbelt. Ich brauche mich vor dem Manfred wegen dieser Entscheidung nicht zu schämen. Als Lehrer hätte er das sicher nur begrüßt. Nehmt euch ruhig alles, was euch gefällt. Ich bin in meinem Zimmer, wenn Sie mich brauchen.“

Sie ließ uns allein. Vor mir erstreckte sich ein Meer von Wissen. Ein Riesenschatz, von dem ich bisher nur hatte träumen können. Dieser Schatz gehörte jetzt uns allein. Ich beugte mich, griff wahllos in die Menge der Bücher und holte mir eine kleine Lektüre da raus. Es war „Antike Geschichte“ von Herodot. Ein dünnes graues Heft mit der Abbildung Babylonischer Tore auf dem Titelblatt. Unter anderen Umständen hätte ein solcher Fund mich früher grenzenlos glücklich gemacht, aber nachdem ich den Preis und den Hintergrund dieses „Glücks“ kannte, war meine Freude plötzlich dahin. Ich war traurig. Diese alte Frau und ihr verstorbener Sohn taten mir leid, obwohl ich diesen Mann nicht persönlich gekannt hatte. Erst seit wenigen Minuten wusste ich, dass er vor 13 Jahren gestorben war. In der Anzeige des städtischen Wochenblatts, auf das mich ein Bekannter aufmerksam gemacht hatte, stand nur: „Bibliothek wegen Haushaltsauflösung an Literaturinteressenten zu verschenken…“. Welches Schicksal sich dahinter verbarg, war aus diesen Zeilen nicht zu ersehen. Und mehr wusste ich im Grunde auch nicht.

Dieses „Erbe“ machte mich wehmütig und löste bei mir spontan Schuldgefühle aus. Was ich jetzt so großzügig mitnehmen durfte, waren Dinge, die ihm wohl viel bedeutet hatten, ihm Lebensfreude geschenkt hatten und Spuren seiner vertrauten Welt und seines Lebens waren. Es war alles, was von ihm übrig blieb. Mit Ausnahme der Menschen, die sich an ihn erinnerten, ihn geliebt oder ihn persönlich gekannt hatten.

In diesen Augenblicken denkt man automatisch über das eigene Leben und die Unvermeidbarkeit des Todes nach. Und wenn man bedenkt, dass nichts in der Welt ewig und von Dauer ist, können die Bücher einen auch nicht mehr darüber hinwegtrösten. Alles ist vergänglich. Und alles stirbt. Man kann diesem Schicksal nicht entkommen. Alles was von ihm übrig blieb, sah man jetzt hier, auf 23 qm Wohnfläche verstreut.
Das war ein trauriges Bild. Dieses Zimmer voller Bücher, Einsamkeit und stiller Leere. Keine Freude der Welt, Bücher, Essen, Vergnügungen, Menschen und Luxusgüter können uns davor bewahren, eines Tages aus dem Leben zu verschwinden. Aufzuhören zu existieren. Nicht mehr da zu sein. Und alles, was dann noch bleibt, ist nur diese Spur aus Sachen, die wir geliebt und besessen haben. Und diese Sachen werden wir hier lassen müssen, weil wir ins Jenseits, soweit eins überhaupt existiert, nichts aus dem irdischen Leben mitnehmen können. Sie sind das letzte Zeugnis, dass es uns gab. Irgendwann mal. Und eine schwache Spur, die mit der Zeit nach und nach verblasst, bis sie ganz ausbleibt….

In diesem Zimmer lebte die Traurigkeit. Das Gefühl eines Lebens, das voller Träume und Sehnsüchte war und in der Blüte seiner Kraft plötzlich erlosch, so dass sie für immer unerfüllt blieben. Diese Schwermut und der Schmerz, die Nostalgie nach dem, was mit seinem Tod verloren ging, schwebten hier in der Luft und machten sich auch bei uns bemerkbar. Es war ein seltsames Gefühl. Obwohl er selber nicht mehr hier war, trug jeder einzelne Gegenstand dieser Einrichtung die Spuren seiner unsichtbaren Anwesenheit in sich. Wurde zu seinem Schatten und gab uns das Gefühl, dass er uns gerade beobachtete.
Plötzlich wollte ich wissen, was für ein Mensch dieser Manfred gewesen war. Welche Gedanken und Gefühle er hatte, wie er gelebt und geliebt hatte. Was sein Leben geprägt und bestimmt hatte. Alle Sachen und Dinge in diesem Raum waren ein Spiegelbild dessen, was ihm zu Lebzeiten einmal viel bedeutet hatte. Trugen Bilder und Informationen für die „Nachwelt“ in sich, waren Ergänzungen seines Portraits. Ein Lebensbild, das ich für mich, heute und jetzt, sehen wollte.

Ich begann in seinen Büchern zu stöbern. Sortierte sie nach Themen, Sprache und Interessen aus. Nach und nach erfuhr ich mehr und mehr von ihm. Zum Beispiel, dass er jung und wissbegierig gewesen war und Fächer wie Geschichte, Naturwissenschaft oder Kunst über alles geliebt hatte. Die Vielfalt an Titeln in dieser Sammlung ließ keine Zweifel daran. Und die Fremdsprachen. Er liebte Fremdsprachen und beherrschte sie auch. Latein, Englisch, Italienisch und Französisch. Er besaß viele Lektüren, Reiseführer und Wörterbücher in diesen Sprachen. Fast ein ganzes Regal allein für Latein.
Und religiös war er auch. Bücher, die er zu seinem persönlichen Thema gemacht hatte. Sie gingen über das übliche Maß eines Religionslehrers hinaus. Neben Bibeln, Katechismen und anderer Fachliteratur entdeckte ich viele wissenschaftlich-theologische Schriften, Lektüren über die Religionen der Welt, Sachbücher über den christlichen Glauben, den Islam, den Buddhismus und die Lehren des Judentums.

Politik, Weltfrieden, und das Leben außerhalb der westlichen Welt hatten ihn ebenfalls sehr interessiert. Er las offensichtlich gerne politische Biografien und Selbstzeugnisse großer Staatsmänner, glaubte an die „Perestroika“ von Gorbatschow, begeisterte sich für Weltabrüstung und soziales Engagement, liebte Geografie und interessierte sich für die östliche Kultur. Auch Kunst und Geschichte waren ihm nicht fremd. Noch mehr liebte er jedoch die deutsche und die Weltliteratur: Goethe, Schiller, Kafka, Borchert und Brecht. Er besaß jedes einzelne Buch von ihnen.

Auch „Liebe“ gab es in seinem Leben. Die Liebe und die Sehnsucht nach einer Frau. Er wünschte sich beides zu haben und wollte darüber genau Bescheid wissen. Wie man die Liebe auf Dauer erhält, wie eine Beziehung zwischen Mann und Frau funktioniert, was man als Paar beachten sollte. Schlaue Bücher, medizinische Bücher, Fachliteratur über weibliche und männliche Sexualität und Psychologie. Irgendwann einmal wollte er vielleicht auch einmal Kinder und eine Familie haben. Einen Ratgeber für junge Eltern, andere pädagogische Bücher hatte ich rechts abgestellt. Zusammen ergab sich daraus ein mittelgroßer Stapel in der Ecke des Zimmers. Große Stapel seiner nie in Erfüllung gegangenen Wünsche und Träume. Warum hat das Leben ihm nichts davon gegönnt? Steckten all diese Träume immer noch in diesem Turm aus Büchern? All die Hoffnungen und Pläne, die zusammen mit ihm starben? Was machte es für einen Sinn, dass ein Mensch wie er so jung sterben musste? Wo er doch so wenig vom Leben und dieser Welt mitbekommen hatte.

Nun sah ich ein Meer. Ein Meer von Büchern, das zum Sinnbild und zur Spur seines irdischen Lebens und seiner Existenz wurde. Aber die Antwort auf meine Frage gab dieses Meer hier nicht her. Ich musste rätseln und interpretieren.
Mit jedem neuen Buch, das jetzt in meinen Händen lag, hatte ich immer mehr das Gefühl, den Mann, diesen Menschen, der mir all das hier überlassen hatte, ein bisschen näher kennengelernt zu haben, zumindest einen Teil von ihm.

Die große Sehnsucht und das Streben nach Glück. Egal ob es sich dabei um Liebe, Hoffnung, Frieden oder Harmonie handelte. Vieles davon wird man ohnehin niemals in seinem Leben vollständig erreichen, aber das Streben danach ist der einzige Antrieb und Sinn. Das hat ihm sicher Kraft gegeben. Wir Menschen leben nun Mal von Liebe und Hoffnung.
Nachmittags waren wir mit dem Aussortieren und Beladen endlich fertig und wollten uns mit der ersten Bücherladung im Auto auf den Weg machen. Mein Freund holte schon sein Autoschlüssel aus der Tasche. Wir gingen nur kurz herunter, um der netten Hausherrin Bescheid zu sagen, dass wir noch ein oder zweimal kommen müssen. Die alte Dame bot uns sofort eine Tasse Kaffee und Spekulatius-Kekse an. Mein Freund lehnte höfflich ab und schlug mir vor, dass ich besser hier, bei der alten Oma bleibe und auf ihn warte, während er schnell die Bücher zu mir nach Hause wegbringt. Das würde uns nämlich mehr Platz im Auto verschaffen und unter Umständen die dritte Tour komplett einsparen. Er selbst hatte leider keine Zeit, weder für Kaffee noch für Kekse und sollte sich stattdessen eigentlich beeilen. Seine Spätschicht fing in 2 Stunden an.
Ich willigte ein. Er murmelte „Bis gleich“ und fuhr los.

Wir saßen in ihrem Wohnzimmer und unterhielten uns. Sie gab mir ein Album mit schwarzweißen Bildern, aus der Zeit als sie noch in Preußen lebten, kurz bevor „der Russe“ kam und sie vertrieb, und fragte bei mir von Zeit zurzeit nach, ob mich ihre Geschichte nicht langweilte. „Ich mag alte Bilder“, sagte ich. „Das Leben darauf wirkt so echt, nostalgisch und intensiv. Nicht so verfälscht oder künstlich wie unseres heute.“

-„Dann zeige ich Ihnen noch ein paar davon. Ich habe jede Menge davon hier. Und das hier ist übrigens mein Sohn“, sagte sie.- War mein Sohn- korrigierte sie sich sofort und reichte mir ein kleines Foto rüber. –„Hier ist er fünf.“

Ich betrachtete langsam dieses Bild. Das Kind, das dort abgebildet war, sah aus wie ein Junge, aus dem später ein berühmter Schriftsteller oder Dichter werden könnte. Er hatte lange goldene Locken und lachte: ansteckend, unschuldig und breit.

- Hier ist er achtunddreißig, kurz bevor die Krankheit ausbrach. - Sie gab mir ein neues Bild. Ich sah ein kleines farbiges Passfoto mit Fransen an den Rändern. Sein Gesicht. Dieselben Locken, aber jetzt schon kastanienbraun. Ein müder Blick, aber sehr schöne Augen. Gütige Augen. So viel Wärme und Liebe darin. Gleichzeitig aber auch etwas, ein Gefühl, als wollten diese Augen noch viel mehr, etwas Vertrautes sagen….

Ihre Stimme war ruhig, aber man sah ihr an, dass das Unglück vor dreizehn Jahren für sie immer noch gegenwärtig war, und dass sie darunter litt. Sehr litt. Als wäre sein Tod gestern und nicht vor dreizehn Jahren gewesen.
Ich trank weiter den Kaffee und wartete, bis mein Freund mit dem Wagen wiederkam. Dann luden wir den Rest auf. Bevor wir fuhren, verabschiedete ich mich noch einmal von ihr. Und sie schüttelte jedem von uns die Hand. Ich entdeckte seine Präsenz in ihren Gesichtszügen. Warum auch immer, der Schmerz dieser Frau war mir nicht fremd. Er nahm mich auch mit. Er ging auf mich über.

Ich fühlte mich plötzlich für diese Bücher verantwortlich. Persönlich verantwortlich. „Ich werde sie alle hüten und lesen, und das was da steht mir einprägen und weitergeben“ dachte ich mir.
Als der Wagen losfuhr, stand sie immer noch an der Schwelle und winkte uns so lange, bis die erste Kreuzung kam und sie gänzlich aus dem Blickfeld verschwand. All diese Zeit schaute ich diese alte, trauernde Frau an und winkte ebenfalls zurück. Ich wollte, dass sie weiß, dass die Bücher ihres Sohnes bei mir gut aufgehoben sind. Dass die Spuren seines Lebens bei mir nicht verloren gehen werden. Das ich seinen Nachlass würdig verwalten und behandeln werde. Diese Spuren seines Lebens, die ich jetzt fest in meiner Hand hielt…

[center]Ende

Roman Dell
28.11.2009

[/center]
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Beitrag von zuzu »

Die heutige Geschichte ist eine besondere Geschichte. Ich schrieb diese Novelle nach Berichten einer deutschen Bekannten, die in den 80er Jahren die Sowjetunion besuchte und mir 25 Jahre später ihre Eindrücke über meine Heimat und diesen Vorfall in einem russischen Zug nach Leningrad schilderte. Ich war dermaßen von Viktors Geschichte und ihrer emotionalen und gleichzeitig nüchternen Erzählweise und Wahrnehmung der Sowjetunion beeindruckt, dass ich beschlossen habe daraus eine Russland-Erzählung zu machen, die aus der Sicht eines Nichtrussen von einem Russen geschrieben ist. Das Ergebnis sehen Sie jetzt auf Ihrem Bildschirm. Es sind meine Worte, aber ihre Geschichte.


[center]Victor, ein Einzelschicksal - aus einem sowjetischen Leben[/center]

[center](eine Erzählung)[/center]


In den russischen Zügen gab es von Zeit zu Zeit einen frischen Tee. Genauer gesagt, das heiße Wasser dafür. Die Fahrgäste, (in Gabis Fall war das nur eine kleine ausländische Touristengruppe, höchstens 30 Mann stark), stellten sich in eine lange Warteschlange im Flur an und warteten geduldig auf die Schaffnerin ( „Provodniza“)- eine vollbusige, stämmige Frau in dunkelblauer Uniform, die stolz und sich ihrer Macht bewusst am Hahn des großen Warmwasserspenders agierte. Sie nahm ihre Aufgaben als Ordnungshüterin und Gästebetreuerin im Wagon sehr ernst, was man ihrem meist grimmigen Gesichtsausdruck zweifelsohne entnehmen konnte.
Als Gabi endlich dran war und die Zugdame ihr den Becher mit „Kipjatok“ (Heißwasser) voll machte, sagte sie langsam und deutlich „Danke schön“ auf Russisch. Ein halbwegs akzentfreies und grammatikalisch richtiges „Spasibo“ aus dem Mund einer Ausländerin zu hören, dazu einer Deutschen, ließ die Schaffnerin trotzdem kalt. Sie erwiderte Gabis Dankeswort nicht zurück. Stattdessen nahm sie ihr wortlos ihr Glas ab und füllte es auf. Sie zeigte sich während der Arbeit völlig unbeeindruckt und behielt weiterhin ihre eiserne Miene. Kein Lächeln. Kein Witz. Einfach fürchterlich. Ein Russe, den Gabi viele Jahre später kennen lernte, erklärte ihr, dieses Benehmen sei in Russland völlig normal und keineswegs persönlich gemeint, weil lächelnde oder zu höfliche Menschen im Dienst dort für gewöhnlich nicht ernst genommen werden. Ein grundloses Lächeln im Dienst und privat galt überall als verpönt, profan und äußerst unseriös. Aber damals wusste sie nichts davon. Sie hielt das einfach für grob und unfreundlich, ja fast hämisch und jenseits der hoch gepriesenen und allgemein gelobten russischen Gastfreundlichkeit, von der sie ebenfalls so viel gehört hatte.
Das Russland, das sie bisher aus westdeutschen Büchern und Zeitungsberichten kannte, hatte immer ein mildes und freundliches Gesicht. Das Russland vor Ort war ein Land von Widersprüchen und Kontrasten, Tiefen und Höhen, grenzenloser Menschenliebe und gleichzeitiger Gleichgültigkeit, sowie voller magischer Kraft, die einen Fremden völlig überraschend erfassen konnte und je nach Situation sich als böse Überraschung oder als Segen entpuppen konnte und absolut unberechenbar war. Ein Land, das selbst in Alltagssituationen immer noch eine Spur von Abenteuer bereithielt und jeden auf der Hut sein ließ. Hier und da, jederzeit.
Das war nur eines von mehreren Dingen, die Gabi in diesen 8 Tagen im April 1983 über den Alltag in der Sowjetunion lernen musste. Nichts in diesem Land war für das westliche Auge logisch oder voraussehbar. Nichts entsprach dem gewohnten Standard. Wenn sie ihre bisherigen Reiseeindrücke und Gefühle in Farben hätte ausdrücken sollen, wären ihr nur zwei Farben dazu eingefallen: grau und weiß.
Grau war die Menge der Menschen, die ihr während ihres Besuchs auf dem Roten Platz begegneten. Die für die Ewigkeit erstarrten Gesichter der Kremlgarde vor dem Lenin- Mausoleum. Die groben Steine, mit denen der berühmteste Platz der Sowjetunion gepflastert war. Der Himmel mit dichten Wolken, der die ganze Zeit finster über Moskau hing und Angst und Unruhe verursachte. Die fast leeren und nur spärlich ausgestatten Schaufenster der Kaufhäuser. Die Plattenbauten, die wie ein Zwillingspaar waren, weil jedes Haus sich kaum von dem anderen unterschied.
Das nach nichts schmeckende Hotelessen, das den Deutschen täglich serviert wurde, war meistens eintönig und kalt. Das war ein weiterer Schrecken und ein Übel, das sie in all diesen Tagen über sich stoisch ergehen ließ. Vermutlich wurde ihre Gruppe irrtümlich für Deutsche aus der DDR gehalten und nach der Kategorie „Ost“ bedient. Das bedeutete einen Riesenunterschied. Vor allem in Sachen Service. Den Westdeutschen versuchte man das Paradies auf Erden vorzuspielen, für die Ossis gab’s nur die Realität. Schließlich gehörten sie zu dem gleichen Lager. Da stand Verwöhnung nicht auf dem Plan. Jetzt wusste sie, in welcher Haut ihre Brüder jenseits der Mauer steckten. Es war das Grau. Und Grau war schlimm.
Weiß war dagegen ihre Reisetour mit dem Ikarus-Bus. Sie hatte Menschen im Fluss baden und schwimmen sehen. Anders als auf dem Roten Platz wirkten diese Menschen hier völlig entspannt. Sie planschten im Wasser, legten sich gemütlich in die Sonne, waren nicht so finster oder verkrampft …und sie lachten. Dieses Lachen vermisste sie bei den Menschen hier am meisten. Russen schienen für sie alle beherrscht und emotionslos zu sein. Ständig mit ihren trüben Gedanken oder in sich selbst vertieft. Aber vielleicht waren sie nur mit den Ausländern so.
In Sankt Petersburg empfing man sie wesentlich freundlicher und zeigte viel mehr Toleranz. Das Hotel, die Bedienung, das Essen, die Menschen. Schöne Häuser und ungewöhnlich große und saubere Fenster. Alles war von ganz anderem Niveau. Anders als in Moskau war diese Stadt mehr von der Eleganz und Schönheit des alten zaristischen Russlands als von der Strenge und der Furcht der neuen Weltmacht Sowjetunion geprägt. Sie ging an einem großen Palast vorbei, der sich in Wirklichkeit als eine Marineakademie entpuppte. Auf den Fensterbänken standen Matrosen und wuschen die Fensterscheiben mit Seife und Lappen in der Hand. Ihre Hände waren rau und rötlich vor Kälte geworden. Trotz des Frühlings war es hier in Russland im April nicht besonderes warm, was man zum Teil dem nebeligen Fluss Neva zu verdanken hatte.
Diese jungen Männer in schwarzer Uniform mit weißen Hüten wirkten zuerst sehr erwachsen und streng. Auf den zweiten Blick sah man die Kinder, die in diesen nach Art von starken Männern verkleideten Menschen steckten. Das merkte man besonders deutlich an ihren Augen und Gesichtern, die neben den Spuren des Lebens immer noch etwas von ihrer unschuldigen Jugend behielten. Die Kadetten waren sehr laut. Gelegentlich schrien sie etwas in Richtung vorbeigehender Mädchen, wenn eins von ihnen den Jungen besonders schön erschien und kassierten sofort ein mürrisches Zischen von ihrem Vorgesetzten, einem dürren, schwarz gekleideten Offizier, der einen Schnurbart trug und ihre Arbeit argwöhnisch begutachtete. Aber was sie da sagten, verstand sie sowieso nicht.
Sie verliebte sich auf Anhieb in diese Stadt. Auch wenn die Sonne in Leningrad, (so hieß die Stadt nach der Revolution), weniger oft als in Moskau zu Hause war, trug diese ehemalige Hauptstadt mehr Wärme, Freude und Licht in sich, als ihr größter Konkurrent auf dem Roten Platz.
Einmal sah sie ihre Zimmerbedienung, als sie das Hotelterritorium mit einer weiteren Russin verließ. Nachdem sie ihre Uniform ausgezogen hatten, hatten sie gleichzeitig auch die Strenge und die Regungslosigkeit ihres Gesichts und ihres Wesens abgelegt. Das Zimmermädchen half ihrer Freundin in den Mantel und lachte, als Letztere trotzdem danebengriff. Wenn sie nicht im Dienst waren, lachten die Russen sehr herzhaft. Immer. Das war das, was Gabi so an den Beiden faszinierte und was sie trotzdem bis heute noch nicht verstanden hat. Warum unterdrückten sie ihre Lebensfreude?
In Moskau hatte sie einmal gesehen, wie ein Chinese aus der Warteschlange zum Mausoleum raustrat und den Roten Platz auf eigene Faust erforschen wollte. Die Wachen vor der Mauer lebten auf. Ein Soldat rief ihm etwas auf Russisch zu und deutete ihm mit dem Finger, wieder in die Reihe zurückzukehren, wofür der arme Mann fast über den ganzen Platz und nur an der Markierung entlang sich auf den Weg machen musste.
Der große Führer der Russen, Lenin, blieb ihr nur wegen der Kälte in Erinnerung, die sie fast umgebracht hätte. Die Warteschlange bewegte sich nur ganz langsam und man durfte dabei nicht aus der Reihe treten. Als sie an dem Glassarg vorbeikam, sah sie nur einen Augenblick lang das Gesicht eines Mannes, das wie eine Maske versteinert war und asiatische Züge hatte. Seine Haare und sein Kinnbart waren rot. Er sah wie eine Puppe aus. Das war Lenin. Sie war enttäuscht.
Auf dem Markt versorgte sie sich mit bunten Babuschkas,- großen mehrteiligen Puppen aus Holz, die die Russen selbst Matrjoschkas nannten und kaufte außerdem russische Bonbons und zwei Dosen des im Westen so begehrten schwarzen und roten Kaviars. Die Bonbons schmeckten ihr nach Zahnarzt. Den Kaviar wollte sie später in einem der Feinkostläden in Gelsenkirchen weiterverkaufen. Das deckte zwar nicht im Geringsten die obligatorischen Kosten der Reise, (1200 DM für den schlechten Service war für sie eine Menge Geld), gab ihr jedoch ein lauwarmes Gefühl der Genugtuung, die man als kleiner Bürger empfängt, wenn man ein kleines Geschäft für sich günstig abgewickelt hat.
Auf demselben Markt wurde sie auch zum ersten Mal Opfer eines Betrugs, das ihr dennoch so gekonnt und charmant vorkam, dass sie sich mehr amüsiert als betroffen fühlte. Ein alter Kaukasier mit einer Zigarette im Mund fragte sie nach einem Feuerzeug. Er gab ihr mit Gesten zu verstehen, dass seine Streichhölzer jetzt alle waren. Seine Kleidung sah sehr abgenutzt aus. Ein alter Strickpullover, ein abgewetztes Sakko drüber, eine Stoffhose die schon einiges ausgehalten hatte. Unter den Fingernägeln staute sich Dreck. Sein gebräuntes Gesicht umrahmte der berühmte kaukasische Bart.
Sie gab ihm das Feuerzeug und erklärte, dass das ein Präsent sei, ein Wort, das jeder Russe ohne Fremdsprachenkenntnisse sofort verstand. Als sie nach mehreren Stunden den Markt verließ, traf sie ihn vor dem Marktausgang wieder. Er stand da vor seinem Stand und verkaufte…Feuerzeuge. Genau die Feuerzeuge die ihm die Ausländer wie sie im Laufe des Tages, erfüllt von Mitleid und Sympathie, geschenkt hatten. Das war irgendwie…typisch Russland.


[center]XXX[/center]

Die Zugreise nach Leningrad erinnerte sie an einen schlechten Agenten-Film. Gefahren wurde nachts und bei vernagelten Fenstern. Man brachte sie in der Dämmerung zum Bahnhof. Es war stockdunkel und sie konnte nur eine Unmenge von leeren Gleisen sehen. Aber keinen anderen Zug außer ihrem: weit und breit. Es musste ein abgelegenes Stück vom Bahnhof gewesen sein, dieser Ort, an den man sie gebracht hatte, wo sie kein Russe und auch kein neugieriges Auge sehen konnten. Ihr Zug war ein Sonderzug, den man für die ausländischen Gäste zur Verfügung stellte. Da fuhren keine Einheimischen mit. Das machte Gabi besonders stutzig. Sie wusste nicht, ob sie sich dadurch geehrt oder ausgesondert fühlen sollte. Irgendwie war das alles nicht ganz normal.
Sie teilte ihr Coupé mit einer Freundin und einem älteren Ehepaar, das, wie Gabi vermutete, wahrscheinlich aus Hessen kam. Der alte Mann ging ihr besonders auf die Nerven. Es schien fast so, als hätte er immer noch nicht begriffen, dass er hier in Russland und nicht auf Mallorca seinen Urlaub verbrachte. Jeden Satz fing er mit den Worten „Ich meine „an. Außerdem verlangte er nach Sachen, die hier kein Mensch im Stande war, ihm zu geben, beschwerte sich über die Reisebedingungen und sein Essen und sagte ständig, er brauche frisches Wasser für sein Gebiss, bis sie es nicht mehr ertragen konnte und laut und deutlich ihm ins Gesicht sagte: „Es sei ihr scheißegal was er braucht. Sie habe Hunger und ihr sei auch kalt und er solle endlich ein Mann sein und seinen Mund halten, weil hier alle - und nicht er allein- leiden.“ Danach hatte sie Ruhe vor dem Ehepaar.
Nachdem sie sich Wasser für den Tee geholt hatte, stellte sie fest, dass sowohl in dem Coupé als auch bei der Schaffnerin kein Tee zu finden war. Der ganze Zug lag im Dunkeln. Die Russen sparten am Strom. In dem Abteil selbst war es dagegen sehr warm. Die Heizkörper hatten keine Regler. Sie liefen gar nicht oder wie jetzt auf Hochtouren. Bei dieser Hitze kam man schnell ins Schwitzen.
Dazu kam noch eine weitere „fröhliche“ Meldung des Tages an. Das einzige Klo im Wagon war kaputt. Die Spülung weigerte sich, zu funktionieren. Und…man hatte nicht vor sie zu reparieren. Die Auskunft bei dem Personal brachte nichts. Es war nur eine kurze Fahrt, ließ man dort ruhig sagen. Schlappe 6 Stunden lang. Deshalb konnte die Sache im Prinzip warten. Nur bei einer Fernstrecke wären der Aufwand und eine sofortige Aufhebung gerechtfertigt. Und eine Fernstrecke begann in Russland erst ab einem Tag. Aber nutzlos blieb die Beschwerde trotzdem nicht. Die Deutschen machten das Personal auf sich aufmerksam. Gabi musste feststellen, dass die Schaffnerin, nicht der einzige Provodnik in ihrem Zug war. Schon in Kürze, bekamen sie einen Russen-Besuch in ihrem Wagon und so lernte sie auch Viktor kennen: einen Mann, der der eigentliche Held dieser Geschichte ist.

[center]XXX[/center]

Es war um die Mitternacht, als sie seine hagere Gestalt zum ersten Mal durch den Zug wandeln sah. Er war ein großer Mann, so um die ein Meter achtzig, aber für seine Statur viel zu dünn. Sein Haar war bereits grau und kurz geschoren. Er trug eine dicke Hornbrille und eine Eisenbahnmütze auf dem Kopf. Seine blaue Uniform war bis zum Kragen fest zugeknöpft. Er hielt vor jedem Abteil an und klopfte an der Tür und warf einen raschen Blick darein, als wollte er sich vergewissern, ob mit den „Nemzen“, so heißen die Deutschen auf Russisch, alles in Ordnung ist.
In dem Nachbarabteil wurde kräftig getrunken. Gabi stand gerade im Flur und rauchte, als er auch vor deren Tür stehen blieb und sie öffnete. Die beeindruckende Reihe der geleerten Wodka-, Bier- und Weinflaschen machte ihn keineswegs zornig. Anders als seine bisherigen Amtsgenossen zeigte er sich nicht so abweisend oder distanziert. Er hatte für das, was er bei den Deutschen sah sogar eine männliche Solidarität und Verständnis. Seine dünnen, fest zusammen gepressten Lippen umspielte ein leichtes Lächeln. Er murmelte etwas auf Russisch. Selbstverständlich wusste keiner was damit gemeint war, aber dieser Mann erschien den Anwesenden irgendwie angenehm. Man entschloss sich spontan den Russki auf ein Glas einzuladen. Er sprach weder Englisch noch Deutsch, aber eine neue Flasche Wodka auf dem Tisch und ein Handwinken waren genug, um diese Geste als eine internationale Einladung zum Trinken auf Brüderschaft richtig zu interpretieren. Sie traute ihren Augen nicht, als sie sah, wie er tatsachlich hineinging. Bei dem, was sie bisher so gesehen hatte, war das, was er gerade machte, äußerst wagemutig oder ziemlich unvernünftig.
Man wies ihm einen Platz zu und reichte ihm die Flasche. Sie war voll. Schließlich ist die Trinkfestigkeit aller Russen weltbekannt. Er weigerte sich keineswegs diese Flasche anzunehmen, als man ihm Alkohol im Dienst anbot. Es schien so, als hätte er vielmehr auf diese Einladung gewartet, so schnell ging er auf das Angebot ein. In seinen Augen stand unverhüllte Neugier. Er hatte bestimmt noch kein einziges Mal mit Ausländern getrunken.
Aus dem Flur konnte sie seine schmächtige Gestalt durch die offene Tür verfolgen. Eine Viertelstunde später machte die nächste Flasche die Runde. Er trank alles, was man ihm gerade gab und mischte gern. Wodka, Bier, Wein, Sekt. Hauptsache Alkohol. Schon bald, sah man ihm die ersten Anzeichen auftretender Trunkenheit an. Sein abgemagertes, knochiges Gesicht bedeckte Schweiß. Auch seine dunkelblaue Uniform war verschwitzt. Nach jeder Runde gab es eine kleine Steigerung. Das Glas wurde immer voller. So sehr die Russen Alkohol schätzen und auch trinkfest sind, aber so eine gewaltige Mischung aus Wein, Brandwein, Bier und Sekt machte selbst solche Trunkenbolde wie sie schnell fertig. Bei der nächsten Runde trug er schon keine Jacke mehr. Dann wurde seine Krawatte locker, die später ganz verschwand. Die Mütze legte er schon nach einer Stunde ab. Zum Schluss vermisste er seine Brille.
Sie hörte dummes Gelächter in dem Wagon und fühlte, wie in ihrem Inneren die Aufregung gegenüber diesen schamlosen Menschen stieg, die den Russen zu diesem Trinkgelage provozierten und nun auch noch zum Affen machten, obwohl sie wussten, welcher Gefahr er dabei ausgesetzt war. Seine Landeleute wären sicher wenig erfreut darüber, wenn sie ihn, so wie jetzt, sehen würden. Er lief ins offene Messer. Der Schaffner selbst merkte aber nichts davon. Er kam langsam in Rage. Auch wenn er kein Deutsch sprach, fand nach der ersten Flasche ein aufregender Dialog zwischen zwei Blockkulturen statt. Er deutete mit der Hand
auf seine Brust und sagte: Viktor. Sowjetunion. Und fügte zu allgemeiner Bewunderung hinzu: Gut.
Freundschaft, Hände hoch, Brüderschaft und Hitler kaputt bildeten seine gesamten Deutschkenntnisse, die er offensichtlich aus russischen Kriegsfilmen aufgeschnappt hatte. Die Deutschen erwiderten mit „Karascho“- Gut, „Na sdorowje“- Zum Wohl, und dem weltberühmten „Raboti, Raboti“- Arbeiten, womit sie eigentlich das Leeren der neuen Flasche meinten.
Irgendwie tat er ihr leid. Der Mann merkte nicht, wie er langsam nicht mehr Herr seiner Sinne wurde. Zwei oder drei Mal kam er kurz raus. Verschwitzt, mit verrutschtem Hemd und nach Tabak stinkend. Sein Gang wurde jedes Mal wackeliger. Nachdem er drei Stunden weg war, traute sich seine Kollegin zum ersten Mal ins Abteil. Sie warf ihm umsonst besorgte Blicke zu. Er ignorierte sie einfach. Als sie leise aber dennoch sehr deutlich – Viktor - nach ihm rief, drehte er den Kopf in ihre Richtung und winkte ihr zu, blieb jedoch weiter sitzen. Beim dritten Mal flippte er aus und brüllte etwas laut vor sich hin. Auch wenn kein einziger hier Russisch konnte, erkannte jeder der Anwesenden den Inhalt und den Sinn seiner Botschaft trotzdem sofort: Verpiss dich!
Da geriet die Frau außer sich. Sie knallte die Tür laut zu und gab sich auf ihrem eigenen Terrain geschlagen. Und Viktor trank weiter. Jetzt vernachlässigte er seinen Dienst. Er dachte gar nicht mehr daran, zum Beispiel, seinen Durchgang durch die Abteile fortzusetzen, nach dem Einhalten der Ordnung zu schauen, die das Trinken alkoholischer Getränke im Zug strengstens untersagte, für Wasser und frische Handtücher zu sorgen oder die Klospülung in Ordnung zu bringen, was man nach dieser Annäherung von ihm erhofft hatte.
Die Deutschen schienen ihm sehr sympathisch zu sein. Sein breiter Mund mit den dünnen blutlosen Lippen hörte nicht auf zu lachen. Dabei kamen zwei seiner vorderen Goldzähne zum Vorschein. Was jeden Zahnarzt in Deutschland erschrecken würde, bedeutete hier in Russland ein enormer Stolz. Es zeigte vor allem, dass dieser Mann viel Geld hatte. Ästhetische Gründe zählten nicht. Er bot den Deutschen seine Zigaretten an. Sie hätten jeden holländischen Grasschmuggler gelb vor Neid werden lassen. Die Wirkung war bombastisch. Stark, billig und ein Geschmack wie bei einem Joint.
Noch interessanter war die Art, wie er lachte. Seinem Alter nach dürfte er kaum älter als 36 gewesen sein. Das war die Zahl die er auf dem Stück Zeitungspapier mit Bleistift schrieb. Optisch sah er jedoch viel älter aus. Sein Gesicht bekam schon erste Falten, war grau und müde, irgendwie kraftlos. Obwohl er sehr groß war, wirkte er trotzdem ziemlich dünn. Sein Körper war dürr und abgemagert. Gabi hätte ihn locker auf Mitte vierzig geschätzt. Dennoch konnte dieser Mann sehr ansteckend lachen. Wenn er das tat, war der Klang seiner Stimme so offen und herzhaft wie der eines Kindes. So lachen Menschen, die niemals etwas Böses im Schilde führen. Ihm blitzte der Schalk aus den ruhigen, nachdenklichen Augen. Seine Offenheit war entwaffnend. Und diese Menschen sollten der Feind des Westens sein? - dachte Gabi, bevor sie in ihr Abteil zurückging.



[center]XXX[/center]

Als der Zug endlich in Leingrad ankam, war Viktor bereits voll betrunken. Er konnte sich deshalb kaum selbstständig auf den Beinen halten. Man griff ihm unter die Arme, damit er den Zug verließ. Von da aus folgte er seinen Gastgebern ins Hotel, was ihm seitens seiner Kollegin einen missbilligenden und mehr als zweideutigen Blick, und seitens der Deutschen leichte Verwunderung brachte. Sowohl die ersten als auch die Zweiten meinten, Viktors Alkoholpegel und die damit verbundene Schmerzgrenze sei bereits erreicht. Es war genug. Er sei bereits zu weit gegangen. Aber er war unersättlich. Der Mann schien unglaublich viel zu vertragen.
Zum ersten Mal in seinem Leben saß er an einer polierten Holztheke in einer luxuriös ausgestatteten Bar und einem Luxushotel, in dem sonst nur Ausländer verkehrten und kein russischer Fuß außer denen des Personals den Boden betrat. Jetzt überschritt er buchstäblich die Grenzen zu einer anderen Welt. Aber dieses Glück dauerte nicht lange.
Er machte es sich auf einem Hocker zwischen zwei Deutschen bequem und kam gerade in den Genuss eines Gins, als man eine Frau mit zwei hochgewachsenen Männern in Uniform in die Lobby reingehen sah. Die Frau war die Hotelmanagerin und das Musterbild eines Funktionärs. Sie trug ein graues Kostüm. Ihre mittel bis dunkelblond gefärbten Haare hatten, nach der in Russland sehr verbreiteten Mode, eine Dauerwelle. Sie mochte 50 oder 55 sein. Ihre Miene war eisern und sie zeigte keine Emotion, außer dass sie empört und verärgert war. Hinter ihr standen zwei Soldaten.
Gabi, die zu diesem Zeitpunkt unten an der Bar war und nach einer Limonade fragte, erkannte sofort, dass diese Männer nicht von der Miliz – der russischen Polizei - waren. Auch deren Gesichter waren finster und teilnahmslos. Die Frau deutete mit dem Finger in Viktors Richtung….
Sie griffen ihn von hinten an, womit sie ihn völlig überraschten. Viktor war gerade dabei, ein Wort / oder einen Satz aus seinem, nach dieser Zugunterhaltung enorm gestiegenen deutschen Wortschatz an den Mann zu bringen, als man ihm unter die Arme griff und ihn grob und fest einhakte. Das Ganze geschah blitzschnell und wortlos. Wie bei einem Speznas-Einsatz. Eine russische Eliteeinheit. Er konnte sich noch nicht mal wehren. Sein Gesicht zeigte ein Höchstmaß an Überraschung und Verwunderung, wie es ein Mensch empfindet, wenn er vor lauter Glück nichts um sich herum merkt und dann plötzlich aus allen Wolken fällt und auf der Erde eine harte Landung erlebt.
Noch immer hat sie dieses Gesicht vor Augen. Sein letzter Blick. Diese Augen. Nicht erschrocken. Nein, eher verdutzt, fassungslos und leicht verwirrt. Die Schutzlosigkeit und die Apathie, mit der er sich in Gewahrsam nehmen ließ, brachten jeden, selbst einen hartgesottenen Kerl, zum Weinen. Nur diese Männer in Uniform nicht. Sie kannten kein Mitleid.
Viktor wurde fortgezerrt und in eine schwarze Wolga gepackt. Es war das Letzte, was Gabi sah, bevor die Tür des Autos rasch zuging und der Wagen mit quietschenden Reifen losfuhr. Sie konnte nur hoffen, dass sie ihn wirklich in eine Ausnüchterungszelle brachten…

[center]XXX[/center]

Seitdem ist eine Menge Zeit vergangen. Die Sowjetunion ist zerfallen. Russland ist jetzt ein unabhängiges Land. Angeblich frei, sehr westorientiert und sogar demokratisch. Die Menschen reisen jetzt frei um die Welt. Es gibt neue Russen, westliche Läden und deutsche Autos. Und neue Milliardäre. Die hat Russland jetzt auch schon. Der eiserne Vorgang ist vorbei. So ist zumindest der Eindruck, den die Russen selbst und die Welt bekommen sollten. Moskau prahlt mit grellen Farben und nennt sich voller Stolz eine Megapolis - die Stadt der Superlative, eine Superstadt. Hin und wieder wird im deutschen Fernsehen der eine oder andere Bericht über Russland ausgestrahlt. Sie zeigen weniger Euphorie. In den tiefsten Provinzen des Reichs, aber auch in der Hauptstadt des neuen Russlands kann man immer noch live erleben, wie eine zerbrechliche Babuschka auf der Straße Sonnenblumenkerne und Blumen verkauft und ihre Rente dadurch ein wenig aufstockt. Dafür kauft der eine oder andere frischgebackene Öl- Milliardär aus Russland eine Superyacht, eine Fußballmannschaft, ein Schloss oder eine Insel. Je nachdem, worauf er gerade Lust hat. Russland ist und bleibt ein Land der rauen Gegensätze. Das hat sich bis heute nicht verändert.
In diesen Augenblicken erinnert sich Gabi immer an ihre eigene Reise in die Sowjetunion. Das Land, das sie mit äußerst gemischten Gefühlen verließ. Diese Kadetten am Fenster, die armen Babuschkas auf der Straße, eine schmutzige Frau im Zug, die Kohlen in den Ofen nachgelegt hat, das Land allgemein, das so zerfetzt und dabei dennoch emotional so ergreifend war. All das konnte sie nicht mehr aus ihrem Gedächtnis löschen. Unangenehm blieb dagegen die Kälte in den Knochen, die eisigen Gesichter der Flughafenbeamten und diese schreiende Schutzlosigkeit, der jeder Mensch dort ausgesetzt war.
Dabei muss sie immer wieder an diesen Abend im Hotel und an den Mann aus dem Zug denken und sich fragen, was aus ihm am Ende geworden ist. Ob sie ihn damals doch gehen ließen, die Miliz und die KGB-Leute, oder ackert er sich immer noch kaputt in einem dieser gefürchteten Straflager am Ende der Welt. Ein Einzelschicksal aus der Masse und deshalb so nichtig und unbedeutend, vergessen, verloren, und völlig wertlos, wie so vieles in Russland…

[center]Ende

Roman Dell
07.07.2010-09.07.2010[/center]
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Beitrag von zuzu »

In der heutigen Erzählung kreuzen sich die Wege einer russischen Spätaussiedlerin und einer deutschen Familie auf dem Flohmarkt , was zu einer Familiengeschichte mit einem mehr als unerwarteten Ergebnis führt.
Der Autor und das GG-Team wünschen den GG-Lesern einen angenehmen und erholsamen Sommer. Schreibt uns, ob diese Story euch gefällt.


[center]Der wichtige Moment
(Kurzgeschichte)[/center]

Für meine liebe Schwester Viktoria, die mir den Anstoß zu dieser Geschichte gab.

[center]XXX[/center]

Am Samstag ging Larisa immer gern zum Flohmarkt, der in ihrer Stadt traditionell zweimal in der Woche unter freiem Himmel in der Nähe einer großen Sportarena stattfand. „Der Friedhof der überflüssigen Dinge“, wie ihr Mann Vadim den Trödelmarkt im Scherz nannte, versetzte sie jedes Mal in eine melancholische Stimmung. Larissa liebte es, stundenlang in diesem Haufen Trödel auf dem Boden zu wühlen, der Menschen, die sie nicht kannte gehört hatte und jetzt wie ein funkelnder Märchenschatz vor ihren Füßen ausgebreitet lag und „entdeckt“ werden wollte: Umzugskisten mit aussortierten Büchern, Schallplatten, CDs und Videofilmen, Anziehsachen für Groß und Klein, Tischdecken, Taschen, Uhren, Schuhe, Schmuck, Kosmetik, Deko, Schreibwaren, Blumenvasen, Tee- und Kaffeesets oder Spielzeug aus längst vergangenen Zeiten. All diese Sachen ähnelten in der Tat den Schicksalen vieler Menschen, die genau wie sie auch einmal jung, gebraucht und unverbraucht gewesen waren und dann später alt, kaputt oder mangels Bedarf, vom Leben entsorgt und weggeworfen wurden und jetzt ihr trauriges Ende hier fanden.
Vadim teilte diese „philosophische“ Ansicht nicht und meinte nur, dass seine Frau damit ziemlich übertreibe und es sowieso eine „typisch russische“ Eigenschaft sei, selbst in unbedeutenden Dingen des Alltages dauernd nach einem tieferen Sinn, etwas Höherem oder einer verschlüsselten Botschaft des Himmels zu suchen, statt einfach nur unbedacht zu leben und sich des Lebens zu erfreuen, wie alle normale Menschen es in der Regel tun. Alle… außer ihr.
Als einzige Russin und Schöngeist in dieser riesengroßen Familie war sie stolz darauf, „anders“ zu ticken als der Rest ihrer liebeswürdigen aber ebenso einfältigen Verwandtschaft, was wiederum zu gelegentlichen Reibereien mit ihrem Mann führte, der in Larissas Anspruch auf Raffinesse und Intellektualität nichts als herablassende Arroganz einer Möchte-Gerne-Aristokratin gegenüber den bäuerischen Tugenden und der schlichten Art seiner plattdeutschen Sippe aus Kasachstan sah.

Dieses Mal kam sie mit einem bestimmten Ziel hierhin. Larissa suchte ein Geschenk für ihre Nichte. Leonie hatte sich von ihrer Lieblingstante eine Barbie-Puppe zum Geburtstag gewünscht. Nach fast zehn Jahren in der neuen Wahlheimat, dank ihrer spartanischen Genügsamkeit sowie den zahlreichen Nachtschichten und Überstunden von Vadim, wurde ihr Traum vom Eigenheim in Deutschland für beide endlich zur Realität. Ende April hatten sie ein schönes Reihenhaus in einer Gegend bezogen, die in ihrer Stadt als gutbürgerlich und idyllisch galt, wo sie jetzt einen deutschen Beamten und einen türkischen Anwalt zu Nachbarn hatten und sich ab sofort zur Mittelschicht (und als Beispiel einer gelungenen Integration) zählen durften. Es fehlten nur noch die eigenen Kinder. Sparen mussten sie trotzdem weiter. Jetzt sogar noch mehr als früher. Darum suchte Larissa gezielt nach Sachen, die gebraucht wie neu aussahen und so wenig wie möglich kosteten, um das auf Jahre im Voraus aufgestellte Budget nicht überzustrapazieren.

Sie hatte Pech. Heute war das Angebot ziemlich dürftig. Keine Barbies, weit und breit. Sie hatte kaum noch Hoffnung und hatte fast schon das Ende des Basars erreicht, als sie diesen Teddybären plötzlich in einer Kiste entdeckte. Er teilte seinen Platz in einem wackeligen Karton mit einem schmutzigen rosa Regenschirm, Puzzle-Schachteln, losen Lego-Steinen und kaputten Teilen eines Spielzeugs, die sich nicht mehr genau zuordnen ließen und war über diese bunte und lumpige Nachbarschaft alles andere als glücklich. Der Teddy wirkte ziemlich einsam und vernachlässigt. Sein süßer brauner Schnauzer schrie förmlich nach einer Adoption.
Sie bückte sich, packte den Bären am Bein und zog ihn vorsichtig aus der Kiste heraus. Es war ein prächtiges Exemplar. Und dazu noch von Steif. Sie sah das bunte Logo der Fima und den magischen Satz Made in Germany auf dem Waschzettel stehen. So etwas gab es auf dem Flohmarkt nur ganz selten. Meistens nur billige China-Ware, mit der die ganze Welt inzwischen überschwemmt zu sein schien. Der Teddy war in einem hübschen, grünen Overall gekleidet und trug mehrere bunte Anstecker auf der Brust. Vermutlich hatte das Kind, dem er einst gehört hatte, nicht allzu oft oder gar nicht damit gespielt, denn der Teddy sah erstaunlich neu, fast unberührt, aus. Kein Staub, keine Flecken, kein Alters- oder Waschpulvergeruch. Nichts von dem, was für ein Spielzeug vom Trödelmarkt typisch oder bezeichnend war. Ein Überraschungsfund. Ideal als Geschenk und Mitbringsel!

- „Hallo! HAAALLOOOO!!! Ist niemand da? Was kostet der Teddy? Kann mir das bitte jemand hier sagen? „- rief Larissa, ohne ihre Beute aus den Händen zu lassen, während sie gleichzeitig Ausschau nach dem Verkäufer hielt.
Sie irrte sich. Es war eine Verkäuferin. Larissa musste ihre Frage gleich zweimal wiederholen, das letzte Mal sogar ziemlich laut, bevor eine Ewigkeit später ein zerzauster Mädchenkopf aus dem Fenster eines alten VW Golf II auftauchte, der am Rande des Bazars, nicht weit vom Verkaufsstand, im Schatten der Bäume abgestellt worden war.
Das milchweise Gesicht des Mädchens wurde fast vollständig von blonden Haaren verdeckt. Außerdem trug sie eine große Ray Ban- Sonnenbrille, deren Spiegelgläser beim Reflektieren mit der Sonne wie Silber glänzten. Nur die Kinnpartie und die Lippen waren gut zu erkennen. Die Spuren verwischten Lippenstifts und die frische Rötung um den Mund verrieten, dass noch jemand außer ihr im Wagen saß und sie gerade beim Knutschen gestört worden waren. Aber dieses letzte, pikante Detail störte sie kaum. Das Mädchen sah überhaupt nicht verlegen oder schüchtern aus. Eher umgekehrt. Sie trat sehr locker und selbstbewusst auf.
„Ah der da! Hallo erstmal! Du kannst mir 2 Euro für den Teddy geben. Ich ziehe bald bei meinem Freund ein. Der ganze Schrott muss vorher raus, weißt du?“ gab das Mädchen danach zur Antwort.

Der Deal stand. Der Preis war sehr gut. Und es gab auch sonst nichts Weiteres zu bereden. „Dann sollte sich Leonie eben mit einem Teddybären statt einer Barbie-Puppe zufrieden geben“ dachte Larissa still nach, in deren eigener Kindheit im provinziellen Tscheljabinsk der Perestroika-Zeit selbst ein hässlicher Teddybär aus sowjetischer Produktion ein nicht realisierter Kinderwunsch blieb und drückte dem Mädchen die gewünschte 2 Euro-Münze in die Hand, bevor das Kuscheltier in ihrem Rucksack verschwand und sie sich auf den Weg zur Bushaltestelle machte.

Erst am Abend erinnerte sich Larissa plötzlich an den Kauf vom frühen Morgen. Vadim war schon zu Hause. Er war von der Abendschicht gekommen und hatte vorhin eine ordentliche Portion Bortsch und Manti verdrückt sowie sein Lieblingsdessert, Apfelstrudel, (eine Erinnerung an seine zahlreichen Oma-Besuche während der Sommerferien auf dem Land). Anschließend hatte er das Ganze mit einem Riesenbecher schwarzen Tee mit drei Würfeln Zucker heruntergespült. Wie fast alle Russlanddeutsche bevorzugte auch er eine willkürliche Mischung aus russischen, kasachischen und deutschen Gerichten, die Larissa für ihren Mann täglich zubereitete.

Nun machte er es sich mit dem Tablett auf dem Ledersofa gemütlich und wollte gerade im Internet auf einer kostenlosen russischen Streaming-Seite nach einem Actionfilm oder einer Serie suchen, die er sich gleich in Ruhe reinziehen würde. Seine Standartbeschäftigung jeden Abend. Für die „Schnulze“, wie er abschätzig Larissas Lieblingsgenre - Drama und Liebesfilm - nannte, hatte er nichts übrig. Wenn Filme wie Pretty Woman oder Titanic im Fernsehen kamen, blieb Larissa immer allein auf dem Sofa. Vadim war sofort weg. In diesem Moment fühlte sie sich immer einsam und frustriert. Warum mussten Männer im Osten immer solche Machos und so ungehobelt sein? Nein, ein schlechter Mann war Vadim ganz sicher nicht, er arbeitete viel und sorgte gut für sie, aber seine Verachtung für alles Sentimentale verletzte sie zutiefst. Er konnte doch ihr zuliebe auch etwas Romantisches mit ihr anschauen, so wie einheimische Männer es mit ihren Frauen tun. Aber davon konnte sie nur träumen. Dafür kannte sie ihren Vadim schon viel zu gut.

Die Hausarbeit half ihr dabei sich abzulenken. Larissa holte den Teddy aus dem Rucksack raus. Am nächsten Wochenende waren sie zum Geburtstag ihrer Nichte Leonie eingeladen. Die Vorbereitungen zur Kinder-Party liefen bereits auf Hochtouren. Sie wollte sich das Spielzeug deshalb vorher in Ruhe anschauen, damit es bei der Geschenkübergabe keine böse Überraschung gab. Zuerst zog sie dem Teddybären den Overall aus. Dann fing sie an, den Stoff von allen Seiten vorsichtig abzutasten. Auf dem Rücken stießen ihre Hände plötzlich auf eine unnatürliche Schwellung. Auf der Stelle, wo sie diese Wölbung entdeckt hatte, begann der Stoff unter ihren Fingern laut zu knistern. Das erschien Larissa verdächtig. Für gewöhnlich knistern die Kuscheltiere immer am Bauch oder am Po, aber niemals am Rücken. Das war eigenartig.“ Was könnte da nur drin sein?“ dachte sie.

Dass in dem Rücken des Tieres etwas versteckt war, daran hatte sie keine Zweifel mehr. Ihre Spannung stieg. Jetzt musste sie nur herausfinden was. Sie fühlte sich ein wenig unbehaglich dabei, diesen (fast neuwertigen) Teddy deswegen aufschlitzen zu müssen, aber ihre Neugier war stärker. Sie griff ungeduldig nach einer Schere. Mit geübten Griffen fing sie an, die groben Nähte am Rücken des Stoffbären aufzulösen, bis etwas Weißes zum Vorschein kam. Sie erstarrte kurz, aber nur kurz. Dann schob Larissa Ihre Finger tief in den Bären rein und zog rasch einen Zellophanbeutel aus dem Hohlraum in seinem Rücken raus. Der Zellophanbeutel war undurchsichtig und klein. Und er knisterte. Darum dieses sonderbare Geräusch.
Sie drehte den Überraschungsfund in ihren Händen und blieb einen Augenblick nachdenklich und unentschlossen. Sollte sie diesen geheimnisvollen Beutel jetzt wirklich aufmachen? Was ist, wenn dieser Gift oder Drogen enthielt? Keine Überraschung, sondern etwas Unangenehmes und Böses war?

- Hoppla! Was ist da in dem Beutel drin, Lara? Sicher, dass die Eltern des Kindes keine Narcos waren? Weißt du noch, dieser Film, wo die Typen ein halbes Kilo Koks für ihren Sohn in einem Kuscheltier versteckten, damit er als Erwachsener ins Drogengeschäft einsteigen kann, meldete sich Vadim vom Sofa. Er hatte gerade (wie passend) eine US-Serie über Drogenhandel gefunden und schaute diese jetzt. Es war als würde er Larissas Gedanken gerade lesen.
Sie ignorierte seinen idiotischen Kommentar. Ihre Aufmerksamkeit galt jetzt allein ihrem Fund.- „Soll ich dein Geheimnis lüften oder nicht?“ -sprach sie laut.
Sie entschied sich für das Erste und öffnete den Zellophanbeutel…

[center]XXX[/center]

Mit den Drogen oder Gift lag sie falsch. Sie waren nicht drin. Dafür hatte der Überraschungsfund Larissa andere interessante Dinge zu bieten. Ihr neugieriger Blick fiel dabei sofort auf drei grüne Papierstreifen, die wie Geld aussahen. Wieso wie? Es war Geld! Und zwar kein Spielgeld, sondern echte Geldscheine. Neben dem Geld war ein Parfümpröbchen platziert worden, wie man sie von den großen Parfümerieketten wie Pieper oder Douglas kennt. Das letzte Schatzstück in der Wundertüte war eine dünne gelbe Halskette mit einem Riesenanhänger, deren schwertförmige Form Larissa an einen Eiszapfen erinnerte. Die Kette war um eine schmale Papierrolle gewickelt und schimmerte im Schein der elektrischen Lichter wie Rotgold.

Mit zittrigen Händen legte Larissa nach und nach ihre Beute auf den Tisch. Zuallererst das Geld. Es roch nach Druckfarbe und sah so frisch und neu aus, als käme es gerade aus dem Rachen eines Bankautomaten. Dreihundert Euro! Sie konnte ihr Jubeln nicht unterdrücken. Dreihundert Euro waren kein Vermögen aber ein sehr gutes Taschengeld, von dem die Eheleute sich jetzt etwas Nettes kaufen könnten, was das strenglimitierte Budget für das Haus nicht mehr hergab. Eine neue Handtasche für Larissa oder eine modische Sportjacke für Vadim oder ein romantisches candle light dinner in einem der besten Restaurants ihrer Stadt, das zu einem prächtigen Schloss in einem Park gehörte. Ihre Wunschliste war ziemlich groß.

Als nächstes war das Pröbchen dran. Sie kannte die Marke. Es war ein Hello Kitty Duft, das sowohl bei Erwachsenen als auch bei Jugendlichen recht beliebt war. Wie praktisch! Nicht ganz ihr Geschmack, aber dafür umsonst. Im schlimmsten Fall könnte sie das Parfüm einfach weiter verschenken. Vadim hatte genug Verwandte. Sie packte das kleine Fläschchen zu den Scheinen.
Bei dem Schmuck war sie zunächst etwas misstrauisch. Sie hielt die Kette für eine billige Fälschung, schon wegen der Größe des Steins, bis sie den Stempel auf dem Verschluss entdeckte, den sie (vermutlich vor Aufregung) zunächst völlig übersehen hatte. Die winzig kleine Ziffer 333, die auf der Innenseite des Goldes eingraviert war. Das Gold war echt.
Demnach sollte der Stein in der Fassung des Anhängers auch echt sein. Sonst machte es überhaupt keinen Sinn. Aber wer war so verrückt und packte solche wertvollen Sachen in ein einfaches Kuscheltier? Mussten sie plötzlich fliehen? Oder drohte der Familie ein Besuch vom Gerichtsvollzier und sie hatten deshalb alle Wertgegenstände im Teddy versteckt und das Versteck irgendwann mal vergessen? Eine bessere Erklärung fand sie im Moment nicht.

Der leicht vergilbte Brief löste das Rätsel. Larissa rollte das Papier auf dem Tisch aus und strich das Blatt mit den Handflächen glatt. Dann begann sie zu lesen. Die Sprache der geheimnisvollen Botschaft war Deutsch, die Hand des Verfassers jedoch eine ziemliche Klaue und darum für einen Nicht-Muttersprachler nur sehr schwer leserlich. Nach und nach gelang es ihr trotzdem, den Inhalt des Briefes wie ein Enigma-Code zu knacken.
„Meine Lieblingsenkelin Melanie!“- las sie den ersten Satz. „Während ich Dir diesen Brief schreibe, bist du noch keine zehn Jahre auf der Welt. Ich hoffe, dass du mein Geschenk in einem wichtigen Moment finden und dich am Kauf erfreuen wirst. Ich füge dennoch zur Sicherheit eine Parfümprobe und die Halskette mit dem großen Amethyst- Anhänger dazu, die dir im Geschäft doch so gut gefallen haben, um auf Nummer sicher zu gehen. Dieser kleine Schmuckladen in der Albrecht-Dürer-Straße, wo wir schon einmal den Glitzernagellack und Ohrringe für dich geholt haben. Die hast du damals selbst ausgesucht. Weißt du es noch? Erinnere dich daran, wie lustig wir die Zeit doch zusammen verbrachten.
Auch wenn deine Eltern und ich heute im Streit sind, wird das nichts an meiner Liebe zu dir ändern. Du wirst nach wie vor meine Lieblingsenkelin bleiben. Ich hoffe, du bist alt genug, um das zu verstehen. Lass dir von Niemandem etwas Anderes einreden. Vergiss mich nicht! Du bist alles, was ich habe! Ich küsse und umarme dich! Deine dich immer liebende Großmutter, Ursel!
Larissa legte die Papierrolle zur Seite und hielt kurz inne. Sie musste das Gelesene erstmal verarbeiten. Diese im Grunde ganz schlichten Sätze, ihre wuchtige Kraft, der Schmerz und das Bedauern, die von Oma Ursels Brief ausgingen, trafen Larissa stärker und intensiver als jeder noch so geschliffene Satz von Dostojewski, den sie bis dahin für den unschlagbaren Meister in der Darstellung des menschlichen Leidens hielt. Doch manchmal bedarf das Leben keiner großen Literatur, sondern nur weniger und vor allem einfacher Worte, um das Herz eines Menschen mit Schmerzen und Trauer zu erreichen, es wie eine Eierschale zerbrechen zu lassen.

Dieser Brief war, nicht nur emotional, ein kleiner Schock für sie. Sie musste gestehen, wie wenig sie doch über die Deutschen wusste. Nämlich gar nichts. Und das, obwohl sie seit fast zehn Jahren in ihrem Land lebte. Nein, Larissa hatte ihre Gesellschaft nie gemieden. Sie hielt nichts von einer Parallelgesellschaft. Doch ihr Kontakt zu den Einheimischen blieb immer oberflächlich. In ihrer alten Wohnung, einem fünfstöckigen Sozialbau aus dunkelgrauem Backstein, half sie der alten Frau Wallenstein immer regelmäßig, ihre Einkäufe in die vierte Etage zu tragen, wenn der Aufzug wieder kaputt war und sie die schweren Schritte der alten Frau draußen hörte. Und wenn sie einer anderen Nachbarin - Frau Dick - beim Treppenwischen im Flur begegnete, erwiderte sie ihre höfliche Begrüßung „Grüß Gott“ stets mit dem Standardsatz „Danke Frau Dick! Ihnen auch einen guten Morgen!“ Dann folgte ein kurzes Small-Talk. Danke schön. Bitte schön. Wie geht es Ihnen heute? Sehr gern. Bis dann. Doch das war’s dann auch schon.

Ansonsten blieben die Deutschen für sie weiterhin wie exotische Wesen von einem anderen Planeten. Immer höflich und zuvorkommend aber genauso kalt und distanziert. Sie verband mit diesem Volk nur Vernunft, aber niemals Herz. Darum kam ihr nie in den Sinn, dass diese Menschen, die sich vor zu viel Nähe und Emotionen wie vor einer ansteckenden Krankheit hüteten, auch etwas fühlen und empfinden könnten.

Dieser Fetzen Papier stellte ihr bisheriges Bild auf den Kopf. Er bewies ihr das Gegenteil und gewährte der Russin einen intimen Blick in den privaten Alltag und in die Gefühlswelt dieser (nur scheinbar) regungslosen Menschen, die sie geschickt hinter der Fassade der eigenen Undurchdringlichkeit vor allen Fremden verbargen. Jetzt fühlte sie sich beschämt. Wie konnte sie die ganze Zeit nur so arrogant und selbstgerecht sein, dass sie den Deutschen die Unfähigkeit zu fühlen und zu lieben unterstellte.

Im Moment konnte sie an nichts Anderes als an die alte Frau und ihren Brief denken, der in Wirklichkeit kein Brief, sondern der Hilferuf einer verzweifelten Oma war, die unter der Trennung von ihrer Enkelin litt und das kleine Mädchen anflehte, sie nicht zu vergessen. Ihre unbeschreibliche Trauer und ihr Schmerz konnten niemanden gleichgültig lassen. Vor allem keine Frau. Besonders eine russische.

Darum stellte Larissa sich immer wieder diese quälende Frage, was in aller Welt so Schlimmes und Irreparables zwischen den Eltern und der Großmutter des Mädchens in der Vergangenheit vorgefallen sein konnte, dass es eine unmenschliche Strafe wie diese rechtfertigte, einer Großmutter zu verbieten ihre Lieblingsenkelin zu sehen, wenn doch selbst den Schwerstverbrechern im Knast das Recht auf Familienbesuche zustand, so dass sie ihre Mütter, Frauen oder Kinder gelegentlich sehen durften. Der Zynismus dieser Entscheidung überstieg Larissas Vorstellungsvermögen von Grausamkeit.

Solche Menschen schienen eine für sie elementare Sache nicht verstehen zu wollen, nämlich dass das Leben für alle Wesen zu kurz ist und Menschen um uns herum, die wir jetzt wegen einer unbedeutenden Kleinigkeit, eines unbedachten Wortes oder einer Meinungsverschiedenheit so leicht aus dem Herzen streichen und verbannen, schon morgen vielleicht nicht mehr unter uns sind. Und zwar für immer. Das ist das wirklich Schlimme und Irreparable. Alles andere wäre zu lösen und einfach nur lächerlich.

Sie musste dabei sofort an ihre eigene Oma denken, die schon seit Jahren tot war. Sie starb kurz, nachdem Larissa zu ihrem Mann nach Deutschland geflogen war und das Brautpaar in Dänemark geheiratet hatte, weil man seitens der Behörden in Deutschland mögliche Schwierigkeiten beim Ausstellen eines Ehefähigkeitszeugnisses und einer Aufenthaltsgenehmigung befürchtet hatte . Sie hatte die zugesandten Hochzeitsfotos von ihrer einzigen Enkelin nicht mehr zu Gesicht bekommen. Der Briefumschlag mit den Bildern kam einen Monat später, als die Großmutter Irina bereits auf dem Friedhof begraben lag.
Was hätte Larissa heute nicht dafür gegeben, um Oma Irina jetzt wieder bei sich zu haben. Doch nun war alles zu spät. Der ungeklärte Konflikt im Brief war für sie deshalb völlig übertrieben und überhaupt nicht nachvollziehbar. Sie konnte sich niemals eine ähnliche Situation drüben vorstellen.

Wenn das Datum auf dem Blatt tatsächlich stimmte, und sie damals noch keine 10 war, musste die Enkelin aus dem Brief heute 19 Jahre alt sein - rechnete Larissa schnell im Kopf zurück. Das war ungefähr auch das Alter des Mädchens im Wagen. War sie diese Melanie oder hatte der Teddy schon öfter den Besitzer gewechselt? -fragte sie sich fieberhaft. Doch sie verwarf diese Idee gleich und biss sich verärgert auf die Lippe.

Jetzt bereute sie es, die Verkäuferin nur flüchtig angesehen und nicht genug ausgefragt zu haben. Dann wäre alles viel einfacher gewesen.

-Wow! Dreihundert Euro!!! Das nenne ich ein Glückskauf! Die 2 Euro haben sich echt gelohnt. Was hast du mit der ganzen Kohle vor? – rief ihr Vadim erstaunt zu, als er mit der ersten Folge von Breaking Bad im Internet fertig war und jetzt müde zu Bett ging.
Seine, eher beiläufig, an sie gerichtete Frage machte Larissa auf etwas aufmerksam, woran sie in der kurzen Zeit noch gar nicht gedacht hatte. Dazu war sie auch emotional noch gar nicht in der Lage gewesen. Dabei wäre das das Erste, was ihr in den Sinn hätte kommen sollen: Wenn Larissa jetzt dieses Geld in der Hand hielt, bedeutete das im Umkehrschluss …, dass der Brief von Oma Ursel die Enkelin damals nicht erreicht hatte. Das Mädchen hat nichts gewusst. Weder von dem Leiden, noch von dem Geschenk ihrer Oma, geschweige denn von dem Wunsch nach einer Versöhnung. Denn die Botschaft, die eigentlich für Melanie bestimmt war und jahrelang im Teddybären verschollen lag, wurde heute… erst von Larissa entdeckt und gelesen.

-Geht dich überhaupt nichts an- antwortete sie gereizt.- Geh du lieber schlafen! Das wirst du schon früh genug erfahren.
- Bist jetzt wohl ganz wie die Deutschen? Eine eman-zi-pierte Frau – gab Vadim leicht eingeschnappt und die deutsche Aussprache lustig nachahmend zurück. Er hatte mit solchen unerwarteten Launenschwankungen seiner Frau, und das kurz vor Mitternacht, wirklich nicht gerechnet.

Sie wusste auch selbst nicht, warum sie vorhin so heftig reagieren musste. Vielleicht weil sie jetzt schon Zweifel hatte, ob sie dieses Geld behalten durfte, nachdem sie die Vorgeschichte kannte, wo sie sich doch schon so viel davon erträumt hatte. Vielleicht ging es ihr aber auch einfach nicht gut. Das war keineswegs gelogen. Larissa fühlte sich in der Tat unwohl. Sie schämte sich, dass sie, wenn auch nicht wissentlich, die Überraschung von Oma Ursel gerade zunichtemachte, die die alte Frau mit so viel Liebe und Gründlichkeit für ihre Enkelin vorbereitet hatte. Dass sie Melanie die Feierlichkeit und den Überraschungseffekt dieses Moments wegnahm. Etwas besaß, was ihr nicht rechtens gehörte. Das war niemals Larissas Absicht gewesen. Schließlich hätte sie nie gedacht, dass der Teddybär in der Trödelkiste auf dem Flohmarkt eine so abenteuerliche Geschichte haben könnte.

Larissa versuchte sich ein letztes Mal an die Gestalt des Mädchens zu erinnern, doch sie konnte sich lediglich die rissigen Bilder von zerzausten Haaren, Ray-Ban Brille und Kinnpartie, aber nicht ein ganzes Gesicht ins Gedächtnis zurückrufen. Weshalb auch? In den Gesichtszügen der Verkäuferin war nichts Bemerkenswertes zu entdecken gewesen. Sie war ein Mädchen von nebenan. Ein Mädchen wie alle. Man könnte tausenden Gesichtern wie ihres auf der Straße begegnen, ohne sich eines davon zu merken. Aber es war immerhin etwas. Die Umrisse. Die einzelnen Fragmente. Damit konnte man zur Not etwas anfangen. Bei Oma Ursels Aussehen dagegen, blieb ihr nur das Raten. Wie sah sie aus? Ob sie diesen süßen Seniorinnen ähnelte, die man immer hübsch gekleidet und ordentlich frisiert, jeden Sonntag in den Cafés der Stadt beobachten konnte, wo sie genüsslich Kaffee tranken, über die guten alten Zeiten tratschten und Erdbeerkuchen mit Sahne verschlangen? Oder war sie eine junge Oma, die Auto fuhr, ein gesellschaftliches Leben pflegte, liberal und nicht konservativ war? Beides war gut möglich. Noch viel wichtiger war jedoch die Frage, ob die alte Frau…noch lebte.

Larissa würde gerne das Ende dieser Geschichte erfahren. Ob Oma Ursel sich mit ihrer Familie am Ende versöhnt hatte und ihre Enkelin doch noch sehen durfte? Das ging aus dem Brief leider nicht hervor.

Larissa las den Brief der alten Frau wieder und wieder, bis ihre Entscheidung gereift war. Dann schaute sie auf die Uhr. Diese zeigte halb eins nachts. Sie fühlte sich plötzlich müde und kraftlos. Dieser Tag heute hatte eindeutig zu viele Überraschungen gebracht. Dann fing sie an die Fundstücke, eins nach dem anderen, vorsichtig in den Verschlussbeutel zurückzulegen. Morgen früh hatte sie einiges vor. Zum Beispiel den Zellophanbeutel in den Rücken des Teddybären zurückzustopfen und die Schnittstelle dann wieder zuzunähen. Und danach online zu gehen und einen Aufruf bei Facebook zu posten und das Mädchen mit zerzausten Haaren und Ray Ban Brille, die ihr am Samstagmorgen einen braunen Teddybären an der Flohmarkt-Arena für 2 Euro verkauft hatte zu bitten, sich so schnell wie möglich bei ihr zu melden, weil das einen wichtigen Menschen in ihrem Leben betrifft. Den Rest würde sie Melanie dann bei einem persönlichen Treffen später erklären. Und wenn all das nicht half, würde sie nächsten Samstag selbst zur Arena fahren. Vielleicht würde sie dem Mädchen da nochmal begegnen.
Und auch wenn die Chance, diese Person unter den siebzehn Millionen anderen Menschen im Nordrhein- Westfalen wiederzufinden, genau so gering und illusorisch wie die Suche nach einer Nadel in einem Heuhaufen war, glaubte sie trotzdem einzigrichtig gehandelt zu haben und hoffte im Stillen auf ein Wunder. Ihr blieb sowieso keine andere Wahl. Es wäre doch schade (und das wollte und durfte Larissa auf keinen Fall zulassen), dass der „wichtige Moment“, den Großmutter Ursel mit so viel Liebe und Herzblut für ihre Enkelin vorbereitet hatte, in deren Leben niemals eintrat…

[center]Ende
Roman Dell

22.04.2018-03.06.2018[/center]
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Beitrag von zuzu »

Der Sommer ist jetzt endgültig vorbei und da kommt eine neue Geschichte von Roman Dell:

Manchmal braucht man Zeit, um einen Vergleich ziehen zu können. Das stellte ich bei der Geschichte „Märchenland“ fest, in der ich meinen Kulturschock beschrieb, den ich mit zwölf in der Sowjetunion erlebte, als ein deutscher LKW-Fahrer aus Gelsenkirchen mir Fotos von seiner Heimatstadt zeigte. Diese Welt unterschied sich dermaßen von dem sowjetischen Alltag, dass ich damals für einen Moment glaubte, mich in einem Märchenland zu befinden. Mein Verstand weigerte sich, diese Idylle als Realität wahrzunehmen. Zwanzig Jahre später konnte ich plötzlich russische Fernsehprogramme in Deutschland empfangen und habe erneut einen Kulturschock erlebt. Jetzt war es Russland,- nicht Deutschland, das mich vollkommen in Erstaunen versetzte… Denn ich erkannte meine alte Heimat nicht mehr wieder… Ich präsentiere euch die Fortsetzung von Märchenland. Hier ist sie: Märchenland: Zwanzig Jahre später.

[center]Märchenland: Zwanzig Jahre später.

Kurzgeschichte
[/center]
Für meine liebe Frau Svetlana, die mir Idee und Anstoß zu dieser Geschichte gab.

[center]XXX[/center]

Meinen ersten Kulturschock erlebte ich mit zwölf in der Sowjetunion, als ein deutscher LKW-Fahrer aus Gelsenkirchen, der mit dem Hilfskonvoi des Roten Kreuzes in Schachty unterwegs war, mir Fotos von seiner Heimatstadt zeigte. Was ich damals gesehen habe, hat mein Weltbild bis in seinen Grundfesten erschüttert. Diese, wie geleckt, sauberen Straßen und glänzenden Autos, die bunten Häuser und akkurat gepflasterten Bürgersteige, die vollen Kaufhäuser und Lebensmittelgeschäfte, die schrille Werbung und die Neonbeleuchtung unterschieden sich dermaßen von dem bescheidenen sowjetischen Alltag, dass ich für einen Moment tatsächlich glaubte, mich in einem Märchenland zu befinden. Mein Verstand weigerte sich, diese traumhafte Idylle als irdische Realität wahrzunehmen.

Der zweite folgte zwanzig Jahre später als ich nach einer langen, medialen Isolation von meinem Geburtsland plötzlich mehrere russische TV-Sender über die Satellitenschüssel in Deutschland frei empfangen konnte. Jetzt war es Russland, das mich vollkommen in Erstaunen versetzte, denn ich erkannte meine alte Heimat nicht mehr wieder…

Das postsowjetische Russland das ich im Frühling 1995 verlassen hatte, war mir für immer als eine graue Betonlandschaft mit verfallenen Häusern, stilgelegten Fabriken, kaputten Asphaltstraßen und pompösen Granitmonumenten in Erinnerung geblieben, deren Anblick bei jedem nur noch Trauer und Hoffnungslosigkeit auslöste. Ein in Gewalt und Chaos versunkenes Land mit Millionen verzweifelten und hungrigen Menschen. Farbenarm und spärlich beleuchtet. Ein (selbst für das russische Auge) ziemlich düsterer und unheimlicher Ort an dem die ersten Autos, Waren oder Werbung aus dem Ausland einem damals wie Aliens vorkamen und genauso fremd, grotesk und verloren erschienen, wie eine einsam flackernde US-Fahne auf dem Mond, umgeben von der bedrohlichen Finsternis des Universums.

Wen wundert es? Unsere einzige „Werbung“ bis dahin waren die Symbole und Ehrenmale des Sozialismus: kräftige Arbeiterinnen und Bäuerinnen oder Bergmänner und Stahlarbeiter, die für eine bessere Zukunft ihrer Heimat das Unmögliche taten. Dazu noch Skulpturen von Kriegshelden und Lenin-Monumente oder Riesenplakate mit den Parolen der Partei, die nahezu alle öffentlichen Gebäude und Plätze in der UdSSR schmückten. Es war das Bild, das ich bis heute in meinem Gedächtnis trug. Ein Werbespot im Fernsehen, der den Zuschauern das Aroma eines frisch gebrühten Kaffees schmackhaft machte oder eine bunte Reklameeinlage in der Tageszeitung, welche die Verbraucher über die Angebote und Rabatte im örtlichen Supermarkt informierte, kamen darin nicht vor. Wie der Begriff Werbung überhaupt. Was sich ziemlich leicht erklären ließ, da die Aufgabe der Wirtschaft und des Handels im Sozialismus ausschließlich darin bestand, die pauschale Versorgung der Massen mit existenzwichtigen Gütern sicherzustellen, und nicht, wie im Westen, den persönlichen Konsum des Einzelnen zu fördern und den Gewinn zu maximieren.

Man hatte sich auch eine unerhörte Aufgabe gestellt, die niemand zuvor gewagt hatte: einen neuen Menschentypus zu erschaffen, der sich an höheren Zielen und Werten orientiert und materiellen Dingen und Wohlstand nur eine geringe Bedeutung in seinem Leben einräumt. So war es zumindest gedacht.

Dementsprechend wurde auch das TV-Programm gestaltet. Sowjetisches Staatsfernsehen hatte zur Aufgabe, den Charakter und die Ideale der Menschen zu formen, statt ordinäre Wünsche oder Begehrlichkeiten zu wecken, was jedoch keineswegs bedeutete, dass es dort deshalb nur Plenumsreden oder Militärparaden zu sehen gab. Wenn man den unentbehrlichen Teil mit der Ideologie außer Acht ließ, war das sowjetische Fernsehen nicht viel anders als jedes andere Fernsehen auf der Welt und sein Programmangebot war sogar ziemlich vielfältig und bildungsinformativ. Und alles andere als langweilig, wenn ihr mich fragt.

Für alle Kolchosbauern und Landbewohner der Sowjetunion gab es eine eigene Bauern-TV-Sendung: Ländliche Stunde. In dem Programm Der Mensch und das Gesetz wurde ausführlich über den täglichen Kampf des Staates gegen Spekulanten, Betrüger und andere kriminellen Elemente berichtet, für die es in einer sozialistischen Gesellschaft keinen Platz gab, weshalb sie gnadenlos ausgemerzt werden mussten. Lieber gestern als heute.
Wer exotische Tiere und die Natur liebte, fand beides reichlich in der Sendung Im Tierreich, die am Wochenende ausgestrahlt wurde und immer mit dem wunderschönen Musikstück Lerch des argentinischen Komponisten Ariel Ramírez begann, das von dem Orchester Paul Mauriat gespielt wurde.

Dafür, dass die Sowjetunion ein abgeschottetes Land war, zeigte das heimische Fernsehen eine nahezu unerklärliche Liebe für geografische Sendungen. Im Klub der Kinoreisenden präsentierten uns die wenigen prominenten Bergsteiger, Segler oder Wissenschaftler unseres Landes zusammen mit dem Moderator Juri Senkewitsch ferne und exotische Traumwelten: isländische Geysire, arktische Eisberge, karibische Strände, schneeweiße Berggipfel des Himalayas oder rauchende Vulkane Polynesiens, die für die meisten Bürger im Normallfall unerreichbar waren, (nicht nur aus wirtschaftlichen sondern auch aus politischen Gründen), denn mit dem Wegfall des Eisernen Vorhanges und der Reisefreiheit „für alle“ rechnete damals wirklich keiner. Also blieb uns nichts anderes übrig als diese paradiesische Schönheit weiterhin nur auf den Bildschirmen unserer Fernsehgeräte zu bewundern und uns still darüber zu ärgern, dass das im wahren Leben für uns höchstwahrscheinlich immer ein Traum bleiben wird. Ich brauche nicht zu sagen, wie sehr diese „Berufsreisenden“ im Volk beneidet wurden.
Internationales Panorama befasste sich mit der Politik und den Weltereignissen im Ausland. Das „Ausland“, das man dort zu sehen bekam, bot ein ziemlich trauriges Bild und ließ die Existenz eines „Märchenlandes“ wie Deutschland nicht einmal im Ansatz vermuten. Die Welt außerhalb der Sowjetunion war ständig von Hunger, Kriegen und Problemen überschattet: Der Kampf der Sandinisten gegen die Contras in Nicaragua, Unruhen im Gaza-Streifen, der andauernde Bürgerkrieg in Libanon oder das menschenverachtende Apartheid- Regime in Südafrika. Also nichts Gutes. Statt eines „schönen Lebens“ und toller Supermärkte bekam der Zuschauer daheim nur brennende Häuser, frierende Bettler und Obdachlose oder zornige Polizisten zu sehen, die Protestdemos und Studentenkrawallen rund um den Globus mit Gummiknüppeln, Wasserwerfern und Tränengas auflösten. Die hässliche Fratze der Weltimperialismus.

Nach Bildern wie diese schätzte man sich wirklich glücklich und froh, in einem wohlbehüteten Land wie die Sowjetunion zu leben, was einen trotzdem nicht daran hinderte, weiterhin heimlich von einer Reise ins kapitalistische Ausland zu träumen, das wie alles Verbotene und Unbekannte verlockend war und Neugier und Sehnsüchte weckte. Eigentlich völlig irre und doch ein ganz typisches Beispiel von Zerrissenheit und Widerspruch im Alltag im Sozialismus.
Kein Wunder, dass die Bilder des Märchenlandes bei mir einen Kulturschock ausgelöst haben. Ich schäme mich heute nicht mehr dafür. Der sowjetische Mensch war weder primitiv noch unterentwickelt oder ungebildet. Er las viel und besaß ein exzellentes Allgemeinwissen. Es war nicht unsere Schuld, dass wir ein „anderes Ausland“ kannten.

Das Sowjetische Fernsehen bestand nicht nur aus Politik. Es war auch ein Familienfernsehen mit pädagogischer Funktion. Für kleine Menschen gab es zwei Sendungen: ein viertelstündiges Programm Gute Nacht Kleine mit einem kurzen Zeichentrickfilm zum Schluss, der alle Kinder landesweit punkt 20:15 jeden Abend ins Bett begleiten sollte, sowie die wöchentliche Sendung Beim Märchen zu Gast, in der Märchenfilme aus allen Ländern gezeigt wurden. Die wahren Highlights im Leben jedes sowjetischen Kindes. Das Fernsehen konnte sogar auch nach Bedarf als Nachhilfelehrer genutzt werden. Tagsüber bestand sein Angebot überwiegend aus Bildungs- und Lehrprogrammen für Mathematik, Physik, Chemie, Biologie sowie Spanisch, Italienisch, Englisch, Französisch oder Deutsch. Wobei mir bis heute nicht klar ist, welches praktische Nutzen hierbei die Fremdsprachen hatten, wenn die wenigen Ausländer, die die Sowjetunion überhaupt besuchten, sich sowieso nur in Moskau oder Leningrad aufhalten durften und deshalb unmöglich in der Provinz anzutreffen waren. Und die Brüder aus dem sozialistischen Lager sprachen ohnehin alle Russisch.

Die Fans von Quizspielen kamen ebenfalls auf ihre Kosten. In dem Programm Was, Wo, Wann spielte die Mannschaft der Wissenden im TV gegen die Mannschaft der Heimzuschauer, die eine Quizfrage stellten, für die eine Lösung innerhalb einer Minute gefunden werden sollte, meist in Form eines kollektiven Disputes und Gedankenaustauschs.
Natürlich schauten alle Jungs in meiner Klasse gerne die Militärsendung Ich diene der Sowjetunion, in der jede Menge Panzer, Flugzeuge, Hubschrauber und anderer Militärtechnik zu sehen war und sie wollten alle danach Falschschirmjäger oder Marinesoldaten werden, weil diese „cool wie Rambo“ waren und Karate konnten.

Zum Lachen ging man in Gorbatschows Sowjetunion auch nicht mehr in den Keller. Dafür gab es Satireprogramme wie Rund um das Lachen oder Anschlag, Anschlag, sowie Studenten-Comedy-Sendungen wie Klub der Lustigen und Schlagfertigen, die eine zensierte und mäßige Kritik an den Staat erlaubten.

Genau wie Das Große ARD- Wunschkonzert in Deutschland gab es auch in der UdSSR eine ähnliche Musik-Show namens Hit des Jahres mit insgesamt 12 Ausgaben und einer großen Jahresgala zur Silvesterzeit, in der die besten Sänger des Landes mit dem Lied auftraten, das von den Zuschauern jeden Monat nominiert worden war.
Die beste Senderzeit gehörte traditionell einem Filmklassiker, der immer nach der Abendausgabe der Nachrichtensendung Zeit kam. Meist ein bekannter historischer Film mit patriotischem Inhalt, wie etwa Alexander Newski, Die Jugendjahre Peter des Großen, Junges Russland, Mikhaylo Lomonossow, Geboren aus der Revolution, Vorwärts Gardemarinen oder 17 Augenblicke des Frühlings. Ich könnte diese Liste noch lange fortsetzen. Alle Sendungen natürlich komplett FSK und ohne Werbung.
Pünktlich um Mitternacht war es aber auch schon vorbei mit der Bildung und Unterhaltung. Da sollte der sowjetische Mensch nämlich brav ins Bett gehen, um am nächsten Tag, frisch und ausgeruht, zum Wohle des Heimatlandes wieder arbeiten zu können. Und damit er ja bloß nicht in Versuchung kam, länger als nötig aufzubleiben, half der Vater Staat auch hier gerne nach…, indem er den kompletten Senderbetrieb im Land bis 06:30 Uhr morgens einstellte.
Wer sein Fernsehgerät dann noch angelassen hatte, bekam nur das berühmte Testbild mit bunten Balken in allen Farben zu sehen und durfte im wahrsten Sinne des Wortes „in die Röhre“ gucken. So sah der TV- Alltag in der Sowjetunion aus.

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Das Russland, das ich jetzt dank der SAT-Schüssel täglich in meinem Wohnzimmer sah, hatte nur wenig Ähnlichkeit mit dem Land aus meiner Kindheit. Eigentlich war es genau das Gegenteil davon. Allein schon visuell. Die graue Betonlandschaft von damals hatte sich inzwischen in ein Tal voller Farben verwandelt. Im russischen Alltag gab es jetzt auch Werbung von McDonalds, Media Markt oder Ikea, die hier ihre Filialen eröffneten. Der kaputte Asphalt wurde in fast allen großen Städten des Landes (zumindest von den zentralen Plätzen) verbannt und gegen sandgraue Pflastersteine nach westlichem Muster ausgetauscht. Die Straßen selbst waren immer noch schlecht, aber dafür überfüllt mit Autos und die russische Sprache bekam jetzt ein neues Wort: Stau. Zu Sowjetzeiten völlig undenkbar schien das Auto inzwischen kein Luxus mehr, sondern tatsächlich nur ein Verkehrsmittel zu sein. Und jetzt waren es die alten sowjetischen Modelle, die man in diesem bunten Meer von Toyotas, Fords und BMWs suchen musste und die einem befremdlich und wie Aliens vorkamen. Ein weiteres Zeichen des rapid gestiegenen Wohlstands der Gesellschaft.

Die Marktwirtschaft hatte das Gesicht des Landes spürbar verändert. Der Sowjet-Look aus meiner Kindheit löste sich allmählich auf. Da wo gestern noch Ehrenmahle des Sozialismus standen, blickte man heute auf internationale Banken, Geschäfte und Cafés. Über dem Himmel von Moskau ragten riesige Wolkenkratzer des Internationalen Geschäftszentrums „Moskwa City, “ die im Dunkeln wie ein Weihnachtsbaum leuchteten und die Stadt selbst nannte sich jetzt voller Stolz Megapolis. Hier hörte das Leben auch nachts niemals auf. Ob Luxusboutiquen, Fitnessclubs oder Friseursalons. Alles war rund um die Uhr geöffnet.

In ganz Russland wurden mitten unter den grauen Hochhäusern der Chruschtschow- Ära moderne Wohnkomplexe mit teuren Penthouse-Wohnungen aufgezogen, die einen geschlossenen Hof mit Einfahrtstor und Security hatten. Kleine „Glücksinseln“ für die Neureichen. Wer noch mehr Einfluss oder Reichtum besaß, ließ sich ein luxuriöses Haus außerhalb der Stadtgrenzen bauen. Ganz im Stil der berühmten Rublewka - einer russischen Villengegend für Regierungsmitglieder und Oligarchen im Westen Moskaus. Eine Klasse, der das heutige Russland gehörte.

Auch beim Fernsehen gab es eine Menge Veränderungen. Von vielen Sendungen, die ich als Kind so gerne geschaut habe, haben die meisten den Machtwechsel und die Wirtschaftskrise der „wilden 90-ger“ nicht überlebt. Darunter auch die von mir so geliebten Der Klub der Kinoreisenden, Hit des Jahres und Märchen zu Gast. Der Rest wurde der neuen Ideologie angepasst und erschien seitdem im „überarbeiteten“ Modus. Wie etwa das Programm Der Mensch und das Gesetz, in dem man weiterhin „kriminelle Elemente“ jagte und bekämpfte, nur mit dem Unterschied, dass man das jetzt zum Wohle einer…kapitalistischen Gesellschaft tat.
Anders als die Kultur- oder Musikprogramme erwiesen sich die Satiresendungen als besonders hartnäckig und überlebensfähig. Wer hätte das nur gedacht? Neben dem schwarzen Humor zu Missständen im Alltagsleben (die nach wie vor vorhanden waren) oder den klassischen Witzen über Kaukasier, Juden, Ukrainer und lästige Schwiegermütter (Lieblingsthemen der Russen) wurden dort seit neuestem auch ausländische Politiker wie Angela Merkel oder Barak Obama, sowie der Westen generell, auf die Schippe genommen und Parodien auf den russischen Präsidenten gezeigt, die seine Macht, sein Intellekt und seine Überlegenheit gegenüber den westlichen Kollegen lobten und hervorhoben.

Gleichzeitig stellte ich überrascht fest, dass Russland (trotz seiner angeblichen Differenzen mit dem Westen) nahezu alle erfolgreichen Unterhaltungsprojekte aus dem Ausland übernommen hatte. Im russischen Staatsfernsehen liefen jetzt auch Sendungen wie The Voice, Wer wird Millionär, Russian Ninja Warrior oder Big Brother, die mir bereits aus Deutschland bekannt waren. Auch haben die russischen Fernsehmacher die Talkshows für sich entdeckt, die beim Volk scheinbar sehr gut ankamen.

In der beliebtesten Abendsendung des Landes Lasst sie reden, (einer russischen Kopie der skandalösen, amerikanischen Jerry Springer Show) wurde täglich über Gesellschaftsthemen oder Ereignisse diskutiert, die alle Russen zurzeit beschäftigten: Ehebrüche, Scheidungen und Streitigkeiten unter Promis, soziale und politische Probleme, sowie skurrile Fälle, schockierende Verbrechen oder familiäre Konflikte.

Schon beim kurzen Reinschauen wurde mir übel. Die Teilnehmer der Show schienen in der Masse ziemlich unausstehliche Menschen zu sein, die sich dauernd zankten und gegenseitig beschuldigten und dabei nicht selten alle Normen des guten Benehmens vergaßen. Manchmal kochten die Emotionen so hoch, dass sogar die Security auf die Bühne geholt werden musste, wenn die verbale Auseinandersetzung plötzlich in ein Handgemenge überging. Vor jeder Werbepause sagte der Moderator mit theatralisch-künstlicher Spannung in der Stimme dem Publikum einen weiteren Teilnehmer an, der sensationelle Details zu enthüllen hatte.
Die Zuschauer im Studio zeigten kaum Verständnis und Mitgefühl für die Probleme der Gäste sondern ähnelten eher den spießigen und gelangweilten Besuchern der Gladiatorenspiele im alten Rom, die in diesem peinlichen Spektakel Zerstreuung und Unterhaltung suchten und nur darauf warteten, sich mit ihren abfälligen Kommentaren, Belehrungen und Moralpredigten auf die „Opfer“ zu stürzen. Hier wurden fremdes Unglück und Tränen aber auch menschliche Niedertracht und Dummheit zur Schau und Belustigung angeboten. Dabei ging es den Machern der Show nicht um seriöse Berichtserstattung oder die Lösung des Problems, was eine Sendung wie diese wenigstens gerechtfertigt hätte, sondern allein und einzig um Sensationsjournalismus, der jeden Anstand und Moralvorstellungen zu Gunsten von Likes und Quoten verwarf.

Auch ein anderes beliebtes Programm der Russen - Lass uns heiraten- lief nach einem ähnlichen Muster ab. Mit dem Unterschied, dass an Stelle von Promis oder Freaks dort ein potenzieller Bräutigam oder eine Braut eingeladen wurden, die einen Heiratskandidaten aus drei Bewerbern wählen sollten und dabei eigene Verwandte und das Fernsehteam als „Berater“ zur Hilfe hatten, das aus einer prominenten sowjetischen Schauspielerin, einer professionellen Ehevermittlerin und einer TV-Astrologin bestand. Statt den einsamen Herzen zu ihrem Glück zu verhelfen, wurde jeder Programmkandidat von den drei Damen sofort unter die Lupe genommen und einem strengen Verhör unterzogen, deren Fragen etwa so lauten konnten:
Schauspielerin-Haben Sie ein eigenes Haus oder eine Wohnung, mein Lieber? Warum nicht? Mit vierzig sollte ein Mann längst solide sein. Sie sind doch kein mittelloser Student oder Muttersöhnchen?

Ehevermittlerin- Ist Ihre Wohnung in der Hauptstadt oder in der Provinz? Fürchten Sie nicht, dass ihre Zukünftige nur hinter Ihrer Immobilie in Moskau her ist und Sie gar nicht liebt?
Schauspielerin-Welches Auto fahren Sie? Haben Sie ein Auto?
Ehevermittlerin- Wo arbeiten Sie? Gehört Ihnen eine Firma oder sind Sie ein Angestellter? Wie hoch ist ihr Einkommen? Was verdienen Sie monatlich?
Astrologin- Was können Sie ihrer Partnerin anbieten? Ihre Außerwählte ist jung und schön. Das sind Sie nicht. Haben Sie genug Geld oder wird es bei euch einen getrennten Haushalt wie im Westen geben?

Ehevermittlerin- Warum hat es bei Ihnen bis jetzt so lange mit der Partnerschaft nicht geklappt? Sie sind schon fünfunddreißig. Und nicht wirklich hässlich. Wo ist der Haken?
Astrologin- Ich muss Sie warnen. Ihre Ehe wird scheitern. Skorpion und Stier passen überhaupt nicht zusammen. Sie werden ihren Gatten lebend fressen.

Ihre Taktlosigkeit ekelte mich an. Der sowjetische Zuschauer in mir war entsetzt. Wie konnte es passieren, dass ein Familienfernsehen des größten Landes der Erde, das einst für Bildung und Kultur stand und das Beste in Menschen hervorbringen sollte, so tief fallen konnte? Was war nur mit den Russen los? Wo ist dieser mitfühlende, gütige Sowjetmensch meiner Kindheit geblieben, der altruistisch und hilfsbereit war, und das reine und unschuldige Herz eines Eingeborenen hatte? Oder haben die Menschen sich die ganze Zeit nur verstellt?

Auch wenn die Sowjetunion verschwunden war und eine ideologische Konfrontation nicht mehr bestand, waren Russland und der Westen immer noch keine Freunde und patriotische Propaganda nach wie vor wichtig und nötig. So wichtig, dass es an Stelle von Internationales Panorama jetzt mehrere Sendungen gab, die sich um die Aufklärung der Bürger kümmerten. Insbesondere die Mittags-Talk-Show Die Zeit wird zeigen und Politischer Abend mit Waldimir Solowjew. Dort diskutierten Experten und ausländische Gäste (sowohl aus dem pro-westlichen als auch dem pro-russischen Lager) stundenlang über den Ukraine -Konflikt, Merkels wackelnden Thron, Demokratie-Defizite im Westen oder den baldigen Untergang des amerikanischen Imperiums, (der partout nicht kommen wollte) und gerieten dabei dauernd in Streit miteinander. Ja, die Welt da draußen war immer noch eine düstere Welt, nur dass man jetzt statt frierender Obdachlosen oder vertriebener Demonstranten die Bilder von randalierenden Flüchtlingen oder jubelnden Lesben und Gays zeigte, die laut Redaktion inzwischen ganz Europa unter ihre Kontrolle brachten und die traditionellen Werte und die Gesellschaft bedrohten. Mit Ausnahme Russlands, natürlich. Russland sei die letzte Hoffnung der Menschheit, weil das Leben hier noch in Ordnung sei und das auch in Zukunft so bleiben solle. Deshalb sollten alle mit Russland kooperieren. Ohne Russland hätte die Welt, wie sie jetzt ist, nicht den Hauch einer Chance…

Das kam mir irgendwie bekannt vor. Ein Schelm, wer etwas Böses denkt.
Kein Wunder, dass selbst die Blindpatrioten irgendwann genug davon hatten und lieber doch etwas Anderes sehen wollten. Etwas, das für ihr alltägliches Leben nützlich wäre. Die Verbraucher-Sendung Der Kontrollkauf zum Beispiel.
In diesem Programm wurden verschiedene Lebensmittel und Produkte von einem Team aus Käufern und Experten auf das Preis-Leistung Verhältnis hin geprüft, um die Bürger vor Wucher und Betrug im Handel besser zu schützen. Für jemanden wie mich, der in den riesen Warteschlangen der Perestroika-Zeit vor leeren Läden aufgewachsen war und deshalb von Kindesbein an daran gewöhnt war, ALLES zu essen, war es ein richtiger Schock, meine Ex-Mitbürger auf einmal mit dem Einkaufswagen durch den Supermarkt spazieren zu sehen, (der sich kaum von einem im Westen unterschied) während sie über die Geschmacksunterschiede der Parmesankäse fünf verschiedener Hersteller ausführlich diskutierten und sich statt glücklich und zufrieden, sehr kritisch und wählerisch zeigten. Das musste ein Sowjetmensch sich erstmal reinziehen. Für ihn war Käse… einfach nur Käse. Und darüber hinaus gab es nichts. Und dann bitte schön so etwas: Prallgefüllte Theken und Regale, hunderte Lebensmittel und Artikel, grelle Farben und strahlende Beleuchtung. Jede Ware in Folie verpackt und mit Strichkode versehen. Eine Kasse mit elektronischer Wage und Scanner. Alles schön und sauber, wie in Deutschland. Träumte ich, oder gab es das wirklich?

Es fiel mir schwer zu glauben, dass es solche Läden jetzt auch in Russland gab und dass jeder Bürger sich die Waren dort problemlos leisten konnte. Der sowjetische Skeptiker in mir hatte da seine Zweifel. Zu Recht. Es war einfach viel zu schön, um wahr zu sein. Ich hielt das Ganze für eine typische Inszenierung, wie man sie noch aus der Sowjetzeit gut in Erinnerung hatte und war mir fast sicher, dass es sich auch bei diesen Shop-Tempeln in Wirklichkeit um einige wenige Prestigeobjekte des Landes handelte, die es höchstens in Moskau und St. Petersburg gab. Also suchte ich Rat bei Sofie, einer guten Freundin in Russland, die endlich Klarheit schaffen sollte. Ihre Antwort kam schnell und hat mich ziemlich überrascht…

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„Ja, solche Einkaufszentren gibt es mittlerweile wirklich. Und in Schachty übrigens auch. Wenn auch nicht so viele und so gute wie in Moskau“ – schrieb mir Sofia per WhatsApp, nachdem ich sie mit tausend Fragen überschüttet hatte. – „Dort findet man alles: von der Gurke bis zum Fernseher. Und die Preise sind auch unterschiedlich. Etwas ist billig, etwas ist teuer. Man muss kalkulieren und vergleichen“. Sie persönlich kauft da nur ein, wenn es satte Rabatte und Angebotswochen gibt. Schließlich muss sie als alleinerziehende Mutter einer Tochter gut mit ihrem Geld wirtschaften.

Dann stimmte es wirklich. Also doch keine Inszenierung. Ihre Worte lösten in mir widersprüchliche Gefühle aus. Einerseits freute ich mich riesig für die neue Generation von Russen, die den Parmesankäse nicht mehr, wie wir, nur als wissenschaftlichen Artikel in der Großen Sowjetischen Encyclopedia kannten, sondern diesen tatsächlich im Laden probieren und kaufen konnten. Auch war mir bewusst, dass es solche Läden und dieses Sortiment in der Sowjetunion niemals gegeben hätte. Nicht so lange man den Konsum als „Laster“ und „Wecken von Begehrlichkeiten“ verstand.

Andererseits wurde ich nicht das Gefühl los, dass als Preis für diesen Wohlstand und Überschuss im Gegenzug ein großes Stück der russischen Seele für immer verloren ging, die weltweit als Mysterium gilt und die Menschen daheim in guten und in schlechten Zeiten wie ein Feuer wärmte. Das tat weh. Die Menschen lebten jetzt besser als früher, aber sie selbst wurden schlechter. Und ein Fernsehen wie dieses trug noch mehr zur weiteren Degradierung der Gesellschaft bei.

Tief in mir drin, war ich enttäuscht und fassungslos über diese traurige Entwicklung in Russland. Ja, das stimmt, der Sowjetmensch lebte damals in einer Diktatur. Und ja, es ist wahr, ihm wurden täglich seine Portion Propaganda und Gehirnwäsche vom Staat verabreicht… Aber er hatte dennoch ein anspruchsvolles und bildungsinformatives Fernsehen. Nun war Russland angeblich frei. Und demokratisch angeblich auch. Aber es gab jetzt deutlich mehr Propaganda als damals… und das Fernsehen ist erschreckend inhaltsleer und niveaulos geworden. Wie absurd und welche Ironie des Schicksals!

Die Russen von heute hatten andere Vorbilder als wir: Statt historisch-patriotischer Filme und Biopics wie Alexander Nevski oder Mikhaylo Lomonossow bekam der Zuschauer zu Hause die unzähligen „Meisterwerke“ der jüngeren Regisseure vorgesetzt, die vom Leben der Oligarchen, Geschäftsleute, Edelnutten oder kriminellen Autoritäten handelten und alle nach dem gleichen Muster gestrickt waren. Ein junger Mann/Frau muss sämtliche Hürden auf dem Weg zum Erfolg überwinden und wird dabei von bösen Konkurrenten oder vom Sowjet- System bekämpft, die seinen/ihren Aufstieg in die Liga der Mächtigen und Superreichen mit allen Mitteln zu verhindern versuchen. Solche Gestalten waren jetzt die neuen „Helden“ Russlands. Nicht die Volkshelden, Wissenschaftler oder Kosmonauten. Und schon gar nicht der kleine Mann, der dieses Land seit Ewigkeiten auf seinen Schultern trägt.

Die nahezu makellosen Bilder im russischen Fernsehen verwirrten mich. Und auch die Menschen dort waren so anders als die Sowjetmenschen, die ich kannte. Irgendwie zu selbstsüchtig, zu egoistisch, grob und gefühllos, also überhaupt nicht nett. Sie bevorzugten alles Ausländische, schätzten ihre Zeit und ihr Geld, hielten nichts von sozialistischer Solidarität und Selbstaufopferung, lebten in Designerwohnungen, trugen löchrige Jeans und T-Shirts mit unsinnigem Aufdruck, hatten Piercing oder Tattoos, experimentierten mit ihren Frisuren und ihrer Haarfarbe, benutzten im Gespräch modische Fremdwörter wie Parking, Trolling, brutal oder kreativ und sahen generell viel zu westlich und überhaupt nicht russisch aus. Mann musste schon genau hinsehen um sie als Russen zu „entlarven“. Auch dieser schwere leidvolle Blick eines sowjetischen Menschen, den ich als Kind vergeblich in den Gesichtern der Deutschen suchte, war bei ihnen nicht mehr zu sehen. Nur die satte Zufriedenheit des Wohlstandes.
Wie im Falle des Märchenlandes damals, wurde ich erneut vor die quälende Frage gestellt, was ich von diesem „neuen“ Russland halten sollte. Ob ich mich mit den Veränderungen dort abfinden musste oder weiterhin mit den nutzlosen Erinnerungen an die verschwundene Sowjetunion leben sollte. Und falls ich mich für die neue Wirklichkeit entscheiden sollte, ob das nicht ein Verrat an der Sowjetunion wäre, der nach wie vor ein großer Platz in meinem Herzen und meinen Erinnerungen gehörte. Keine leichte Entscheidung, finde ich.

Auch darf man dabei die Macht der Bilder nicht unterschätzen, mit denen das Staatsfernsehen die Zuschauer täglich fleißig überschüttete. Jede News-Ausgabe enthielt mindestens eine Erfolgsmeldung. Fast wie in den alten Sowjetzeiten. Jedes auch noch so kleinste Ereignis wurde medial groß ausgeschlachtet. Gestern war das die Einweihung einer weiteren Computerschulklasse, die, wenn man dem Fernsehen Glauben schenken sollte, inzwischen fast schon zur Standardeinrichtung jeder Schule in Russland gehörte. Heute die Eröffnung eines neuen Krankenhauses oder einer Forschungsklinik mit modernster ausländischer Technik. Morgen die Fertigstellung einer U-Bahnstation, einer Autobahn, eines Betonwolkenkratzers oder Atomkraftwerkes.

Selbst die Internetanbindung und Netzempfang schien in Russland inzwischen (sogar in dem letzten sibirischen Dorf am „Auspuff der Welt“ kein Problem mehr zu sein. Anders als im hochentwickelten Deutschland, wo es selbst in den Großstädten immer noch hier und da Funklöcher gibt und das Internet, laut Merkel „ Für uns alle noch ein Neuland ist“ … Was natürlich überhaupt nicht stimmt. Aber guckt mich nicht so böse an! Ich gebe doch nur die Worte der Kanzlerin wieder. Im „Reich der Bären“ konnte man fast alles „online“ erledigen: bei einer Bank einen Kredit beantragen, online shoppen, ein Taxi oder Handwerker nach Hause bestellen und sogar… Bußgeld bei der Verkehrsbehörde per kostenpflichtige SMS oder App von seinem Handy oder Smartphone aus bezahlen und dabei noch 10% Rabatt vom Staat dafür bekommen und davon profitieren. Damit wurde zuletzt sogar groß im Fernsehen geworben.
In einem russischen Online-Magazin fand ich eines Tages einen reißerischen Bericht darüber, dass die Kinder an einer Moskauer Schule ihr Mittagsessen-Menu in der Kantine seit kurzem online zusammenstellen können, um sich so die Zeit und das Warten zu ersparen. Und das in einem Land, das 1995 noch nicht mal das Wort Computer kannte… und nun mit Kaspersky das beste Virenschutzprogramm der Welt entwickelte, die Nato hackte und mit Hackerangriffen und Fake News sogar Donald Trump via Facebook zu seinem Einzug ins Weiße Haus verholfen haben soll. Ganz schön pfiffig, dieser russische Bär!

Dieses Russland erinnerte mich eher an eine Szene in einem Science-Fiction- Film als an das Russland, das ich kannte. Welches Bild war falsch und welches real? Konnte ich den Berichten im Fernsehen überhaupt trauen? Oder sah es nur in Moskau und St. Petersburg so toll und rosig aus, aber nicht in dem Rest des Landes. Im „echten“ Russland. Wo endete der Traum? Und wo fing die Wirklichkeit an? Diese Hochhäuser, Läden, das westliche Flair. War Russland jetzt auch ein Märchenland geworden? In nur weniger als 20 Jahren? War so etwas überhaupt möglich?

Ich fragte mich gerade, ob es nicht der sowjetische Skeptiker in mir war, der Schuld daran trug, dass ich allem positiven in Russland grundsätzlich misstraute, als die neue WhatsApp von Sophie kam. Sie entschuldigte sich dafür, dass sie so lange nichts geschrieben hatte. Ihre Kleine musste für mehrere Tage in die Kinderpoliklinik. Verdacht auf Lungenentzündung. Die Beiden wurden erst heute Nachmittag aus dem Krankenhaus entlassen. Ihrer Tochter ging es wieder gut.

Beim Wort Kinderpoliklinik musste ich mich unwillkürlich an meinen eigenen Aufenthalt dort erinnern, als ich im zarten Alter von 5 Jahren wegen Zahnschmerzen und angeschwollener Wange zum Zahnarzt musste, der zusammen mit dem Hals-Nasen-Ohren Arzt, Augenarzt, Kinderarzt und anderen Medizinern in dem riesigen Gebäudekomplex praktizierte. Ich mochte die Praxis des Zahnarztes auf Anhieb nicht. Dort kamen herzzerreißende Schreie und ein unangenehmer Arzneigeruch heraus. Dann wurde die Tür plötzlich weit aufgerissen und ich sah einen dicken Buben mit tränenüberströmtem Gesicht, der den Zahnarztsessel mit seiner Mama, erlöst, auf wackeligen Beinen verlassen durfte, damit meine Wenigkeit als Nächste drankam.
Vor dem Zahnarzt lagen mehrere, glänzende Metallgegenstände ausgebreitet, deren Verwendung mir damals unbekannt war, die jedoch bedrohlich und wie Folterwerkzeuge aussahen: Haken, Schere, Zange, Bohransätze. Mein Blick fiel dabei sofort auf die weiße Spuckschale, in der mehre blutverschmierte Wattestäbchen und der Zahn meines Vorgängers zu sehen waren…

An diesem Tag erhielt ich meine erste Lektion in Sachen Leben. Und diese lautete: Nur deine Mutter geht mit dir wie mit einem Prinzen um. Die Welt da draußen tut das nicht. Liebe und schätze deine Mama! Anstatt meine Wange, wie meine Mutter, sanft zu berühren, befahl der Dock mir meinen Mund weit zu öffnen, kroch mit seinen Fingern dorthin und drückte die Schwellung von ihnen auf… Ich sah tausend Sterne. „Hör auf zu schreien! Er ist fast raus. Die Schwellung wird danach zurückgehen. Und die Schmerzen auch. Aber wenn du nicht ruhig bist, schicke ich dich zurück nach Hause!“ - brüllte er und holte den wackeligen Zahn kurze Zeit später mit zwei Fingern raus. Die „Folterwerkzeuge“ blieben mir erspart.

Seitdem habe ich eine starke Abneigung gegen die russischen Ärzte und Krankenhäuser. Ich verbinde sie mit einem nach Arznei riechenden Flur, einem braunen Holzboden mit Löchern, mit ständiger Kälte und Durchzug, verrosteten Eisenbetten, sowie eilig gemalten Bildmotiven an den grünen und bereits abgeblätterten Klinikwänden, die weinende Kinder beruhigen sollten, aber mit ihrer Hässlichkeit genau das Gegenteil bewirkten. Ganz zu schweigen von wenig einfühlsamen Ärzten und unfreundlichen Krankenschwestern, die in ihren knielangen weißen Kitteln und High Heels Pumps wie Models durch die Gegend schwebten, statt zu rennen und jede Frage mit der Aufforderung „Sie nicht bei der Arbeit zu stören“ abwimmelten. So habe ich die Kinderpoliklinik damals in Erinnerung behalten, während Mama und ich durch die Krankenhausblocks stumm wanderten. Aber was rege ich mich überhaupt noch auf! Das war damals. Gewiss sah die Klinik heute anders aus. Die eine oder andere Reportage in der russischen Abendschau hat mich am Ende doch überzeugt. Inzwischen war ich nicht mehr so skeptisch.

Die zweite WhatsApp enthielt ein Foto. Ich lud das Bild von Sofie hoch und sah sie eine Sekunde später zusammen mit ihrer kleinen Tochter im Krankenzimmer unserer Poliklinik an der Bettkante sitzen. Und zwar genau wie ich es bei meiner Wandertour durch die Klinik damals in Erinnerung hatte: verrostete weiße Metallbetten, löchriger brauner Holzboden, dieselben hässlichen Motive und die abgeblätterte Grünfarbe an den Wänden… Und das Märchenland, an das ich fast schon zu glauben schien… war plötzlich wieder verschwunden.

[center]Ende
Roman Dell
27.05.2018- 05.10.2018.[/center]
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Beitrag von zuzu »

[center]Libelle[/center]

Liebe Freunde! Nach einer langen Pause (manchmal müssen Worte und Gefühle einfach reifen, bevor man sie zum Papier bringt) gibt es wieder eine neue Erzählung von mir. Diese Geschichte ist etwas anders als meine bisherigen satirischen Kolumnen bei den Gelsenkirchener Geschichten. Ich hoffe, dass sie euch trotzdem gut gefällt.

(Erzählung)

In die dritte Klasse musste Aslan in Novy Urengoy gehen, wohin die Verwandtschaft ihn gesandt hatte, um dort beim ältesten Bruder seines Vaters zu wohnen, solange die Lage in der Republik sich nicht wieder beruhigt hatte. Onkel Ahmet lebte schon seit Jahren in Westsibirien, wo er für diverse und immer wieder wechselnde staatliche und private Baufirmen und Subunternehmen als Ingenieur arbeitete und hauptsächlich große Industrieobjekte und Werkanlagen zu betreuen hatte. In der Stadt wurde Naturgas im großen Stil gefördert. Hier gab es das große Geld und ausländische Investitionen und die wirklich guten Fachleute hatten keinen Grund sich über ihre Gehälter zu beklagen, selbst dann, als im Rest von Russland Wirtschaftskrise und Hyperinflation wüteten.

Schließlich wurde auch Onkel Ahmet „reich“ und kaufte sich eine 4-Zimmer-Wohnung in einer der besten Neubausiedlungen der Stadt. Die Wohnung war hell und geräumig, mit riesen Fenstern und schneeweißen Heizkörpern, die frisch nach Farbe rochen. Hier wurde Aslan sofort ein eigenes Zimmer zugeteilt.

Das andere Zimmer bewohnten Ainat und Fatima, die zwei erwachsenen Töchter des Onkels. Im folgenden Jahr würden sie die Schule abschließen und er machte sich deshalb jetzt schon Gedanken, wo die Beiden danach studieren sollten. Dabei ging er ständig die Namen aller Bekannten und Verwandten seines Taips* ( Klans) im Kopf durch, die Beziehungen in den Großstädten besaßen (am besten jene aus St. Petersburg oder Moskau), denen man eine solche verantwortungsvolle Aufgabe, wie Unterbringung und Aufsicht über zwei erwachsene, unverheiratete Schwestern, bedenkenlos anvertrauen konnte.

Aslan mochte Novy Urengoy sofort nicht. Der Sommer dauerte im Norden höchstens vierzig Tage, Herbst und Frühling waren so gut wie nicht da, dafür war der Winter besonders hart und lang, und schien dadurch beinah die einzig existierende Jahreszeit überhaupt zu sein. So kam es ihm zumindest vor. Außerdem sehnte er sich stark nach seinem Vater, dem Haus, den Freunden - Yunus und Zelimkhan -, und seinen geliebten Bergen, die er nun hatte verlassen müssen.

Auch fehlten ihm die warmen Chepalgash, runde, heiße Pfannkuchen aus Weizenmehl mit Zwiebeln und Hüttenkäsefüllung, die er jeden Morgen von seiner Großmutter im Dorf zum Frühstück aufgetischt bekommen hatte. Ein traditionelles Gericht aller Inguschen und Tschetschenen. Irina, Onkel Ahmets russische Frau, hatte auch schon oft versucht, diesen Kuchen für Aslan zuzubereiten, aber ihr gelang es nie, den vertrauten Geschmack und das Wohlaroma aus seiner Heimat hinzubekommen, wie er die vom Zuhause immer kannte und bis heute in Erinnerung behalten hatte. Ihr Chepalgash ähnelte, sowohl geschmacklich als auch optisch, eher den russischen Blinis als dem warmen tschetschenischen Fladenkuchen, der traditionell mit geschmolzener Butter bestrichen serviert wurde.

In der Schule wurde Aslan im Großen und Ganzen sehr freundlich empfangen und aufgenommen. Die Klassenlehrerin stellte ihn kurz seinen Klassenkameraden vor und setzte ihn mit Viktor, dem besten Schüler in seiner Klasse, zusammen, einem dicken Jungen mit rosigen Wangen und kurzgeschorenem Kopf, der dem Neuling in der ersten Zeit bei dem Lernstoff helfen sollte.

Trotz seines slawischen Namens hatte Viktor eine typisch asiatische Augenform. Er stammte aus dem hiesigen Kleinvolk der Nenzen und lernte in seiner Freizeit klassisches Ringen. Aslan freundete sich sofort mit ihm an. Die restlichen Schüler waren ihm ebenfalls freundlich gesinnt. Den Krieg im Kaukasus kannte man hier nur aus den Zeitungen.

Außer Nenzen gab es an der Schule auch noch Russen, Ukrainer, Tataren, Chuvaschen und Yamalen, sowie eine etwa tausendsiebenhundert Mann große tschetschenische Diaspora in Novy Urengoy, von deren Existenz Aslan zunächst gar nichts wusste. Alle schienen in Frieden miteinander zu leben, wie einst zur Sowjetzeit. Nur der dürre, schlaksige Junge mit dem wirren rötlichen Haar und der Fratze eines Rowdys, ein Schüler aus der Parallelklasse, versuchte Aslan zu provozieren und nannte ihn in der Pause verächtlich "Ziegenmelker" und "wilder Bergländer". Und eine Minute später wälzten und rollten sie sich schon heftig auf dem frischgewischten Holzfußboden im Schulflur.

Der „Rothaarige“ entpuppte sich als „harte Nuss“ und als sehr würdiger Gegner und hatte überhaupt nicht vor, sich zu ergeben. Sie schnauften und verteilten sich gegenseitig Hiebe und Tritte und in dem Moment als Aslan fast schon den Eindruck hatte, dass der Griff seines Gegners endlich etwas schwächer und lockerer wurde, tauchte plötzlich die Klassenlehrerin wie aus dem Nichts auf. Ihr Gesicht brannte vor Empörung. Sie brachte die Schläger sofort auseinander und forderte die beiden Streithähne auf, ihr auf der Stelle ihre Schulkladden auszuhändigen. Dann trug sie mit roter Tinte dort eine fette Zwei* (im russischen Schulnotensystem entspricht eine Zwei der deutschen Fünf) ein.

Die nächste Stunde war Russisch. Dieses Fach wurde von einer korpulenten Frau mittleren Alters unterrichtet, die eine weiße Bluse, eine graue Strickjacke und einen altmodischen, knielangen, grünen Rock trug. Sie hatte das farblose Gesicht einer ständig bekümmerten „Mutti“. Die Dame stellte sich als Roza Mikhailovna vor. Dann griff sie entschlossen zur Schulkreide und schrieb an die Schultafel

Schulaufsatz zum Thema: Sommer

- „Liebe Kinder! Aufgepasst! Heute werden wir lernen, wie man einen Schulaufsatz schreibt. Das Thema steht bereits an der Tafel. Und jetzt nehmt eure Stifte und eure Kugelschreiber und schreibt alles auf, was euch zum Begriff Sommer einfällt. Seid fleißig! Ich toleriere keine Faulheit. Es ist wichtig, die eigene Muttersprache gut zu beherrschen, ihre Schönheit zu schätzen und ihren Reichtum zu kennen. Ich erwarte nicht weniger als drei Seiten “, - verkündete Roza Mikhailovna laut. Ihre schrille Befehlsstimme, die der eines Unteroffiziers ähnelte, betäubte alles und jeden im Raum.

„Für alle die im Unterricht nicht fertig werden, gilt das als Hausaufgabe. Und morgen werde ich jeden Schüler und jede Schülerin abfragen und mir einen kurzen Auszug daraus vorlesen lassen. Und glaubt ja nicht, dass ich jemanden nicht bemerke oder vergesse. Wir haben eine Doppelstunde. Die Zeit müsste für alle ausreichen“.

Die Kinderköpfe beugten sich über die Hefte. Die Stifte begannen zu quietschen, das Papier zu rascheln. Aslan schlug sein Heft ebenfalls auf und biss nachdenklich auf die Spitze des Kugelschreibers. Kurz darauf begann er auch etwas auf dem Papier zu kritzeln und gab vor lauter Eifer und Anstrengung die ganze Zeit laute Schnauftöne von sich. Er war so vertieft in die eigene Arbeit, dass er sogar die schrillen Klänge der Schulglocke völlig überhörte. Die nächsten zwei Stunden saß er ebenfalls wie auf heißen Kohlen und brannte darauf, das Begonnene rasch zu Hause zu vollenden.

Und als er aus der Schule nach Hause gerannt kam, aß er zum ersten Mal in seinem Leben das von der Tante Irina liebevoll gekochte Abendessen sofort auf (sie hatte extra für ihn eine traditionelle tschetschenische Fleischsuppe mit Hammelfleisch, Knoblauch, Tomatenpüree, Zwiebeln und Petersilie zubereitet), statt wie üblich stundenlang zu trödeln und sie mit seinen Kinderlaunen und seinem Ungehorsam zu ärgern und schloss sich danach sofort in seinem Zimmer ein, wo er weiterhin, voll konzentriert, etwas in sein Schulheft schrieb.

Bei dieser Beschäftigung wurde er auch von Ahmet ertappt, als dieser am späten Abend endlich von der Arbeit nach Hause kam. Der Onkel sagte nichts zu der Zwei in der Schulkladde, lobte aber im Stillen den Fleiß und den Eifer seines Neffen.

Trotz ihrer trügerischen mütterlichen Erscheinung fuhr die Lehrerin einen „harten Kurs“ und machte ihre Drohung wahr. Am nächsten Tag begann sie sofort damit, die Hausaufgaben zu prüfen und rief die Schüler in alphabetischer Reihenfolge auf.

Als Erster war Viktor dran. Sein Aufsatz hieß Der Sommer in Urengoy, in dem er auf 9 Seiten (von beiden Seiten voll beschrieben) die raue Schönheit der Natur des autonomen Yamalo-Nenets Bezirks malerisch beschrieb.

Dann bat Rosa Mihailovna Julia, ein kleines Mädchen mit einer riesigen violetten Schleife auf dem strohblonden Kopf zur Tafel. Julias Eifer reichte nur für 5 Seiten aus. Der Titel ihrer Arbeit war genauso einfach wie banal: Die Sommerferien am Meer. Darin beschrieb sie begeistert ihren zweiwöchigen Urlaub am Asowschen Meer, den sie gemeinsam mit ihren Eltern bei ihren Verwandten im Rostower Gebiet verbracht hatte.

Die Aufsätze der drei weiteren Schüler ähnelten den vorigen Texten. Danach war Aslan an der Reihe.

- Was ist mit unserem Neuen? Dagoev! Hast du deine Hausaufgaben fertig? Wie viele Seiten hast du geschafft? - erkundigte sich Roza Mikhailovna, die jetzt wie ein massiver Berg über Aslans Schreibtisch hing. -Bitte steh auf und lies der Klasse deinen Aufsatz vor“ – befahl sie.

Aslan erhob sich. „Libelle“ – sagte er laut und begann zu rezitieren.- „Ich heiße Aslan Dagoev. Ich wohne erst seit kurzem in Novy Urengoy. Ich kam in den Norden aus Tschetschenien. Das ist meine Heimat. Tschetschenien ist sehr schön. Hier gibt es alles, was ein Mensch zum Leben braucht: frische saubere Luft, türkisblauen Himmel, viel Sonne, unberührte Natur, Bäche und Quellen, Berge und wilde Bergflüsse, in denen es den besten Fisch der Welt gibt. Auch kann man bei uns gut jagen: Eine Bergziege, Gämsen oder Auerochse zum Beispiel. Und an manchen Orten auch Fasane, Enten oder Gänse, die es vor allem im Terek- Tal in großer Zahl gibt“, las er vor, voll bemüht jedes einzelne Wort laut und deutlich auszusprechen.

„Aber das Schönste in Tschetschenien sind unsere Berge. Sie sind majestätisch und ähneln den kräftigen Rücken der Krieger aus alten Sagen, die in eine grüne Tschocha* (kaukasisches Volkskostüm, bzw. langer Kaftan aus Wolle oder Leinstoff) gekleidet sind, unter der das Herz des Kaukasus bebt. Und ihnen zu Füssen, wie ein bunter Flickenteppich, liegen Wiesen und Ebenen voller farbenfroher Wildblumen. Und wenn der weiße Nebel wie ein Schal ihre Gipfel umhüllt oder das Smaragdgrün der Täler langsam von dem Sonnenlicht durchflutet wird, gibt es keine Worte, mit denen man die Freude und die Begeisterung eines Tschetschenen beschreiben kann, dem der Allmächtige dieses Stück Paradies auf Erden großzügig schenkte“, fuhr er nach einer kurzen Verschnaufpause fort, ohne selbst zu merken, wie er nach und nach im Rausch der eigenen Worte versank…

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…Alles fing damit an, als Yunus seinen beiden Freunden vorschlug, gemeinsam nach einer verschwundenen Ziege zu suchen. Zunächst verdächtigte jeder im Dorf die ewig hungrigen Srotschniki* - Wehrpflichtigen vom nahegelegenen Militärstützpunkt -, aber dieser Gedanke wurde von den Dorfältesten sofort einstimmig abgelehnt, da zwischen den Föderalen* (Regierungsarmee) und den Dorfbewohnern in diesem Gebiet inoffiziell eine stillschweigende Vereinbarung bestand, dass keine der Seiten etwas zu fürchten hatte, solange sie die andere in Ruhe ließ. Eine gute und absolut vorteilhafte Vereinbarung, die bis zu diesem Tag immer streng geachtet und peinlichst genau eingehalten worden war. Und zwar von beiden Seiten. Für gewöhnlich hielt man im Kaukasus das gegebene Wort, auch wenn das Versprechen einem „Rivalen“ galt.

Deshalb konnten die Dorfältesten sich überhaupt nicht vorstellen, dass die Föderalen diesen brüchigen Frieden und dieses Stück Normalität, mitten in diesem „unerklärten“ Krieg, der schon viel zu lange dauerte, wegen so etwas Banalem wie… Ziegenfleisch ernsthaft riskieren würden, wo sie doch ihr eigenes Büchsenfleisch hatten.

Darum zogen die Männer im Dorf eine viel glaubwürdigere Version in Betracht: Vermutlich war die Ziege doch selbst in die Berge geflüchtet, indem sie den Riegel des Zauntors, nachts, wie auch immer, aufgekriegt hatte.

Die Kinder beschlossen die Ziege gemeinsam zu suchen. Aslans Vater und die anderen Männer im Dorf stimmten ihrem Vorhaben zu, verlangten jedoch im Gegenzug sofort, dass Yunus, Zelimkhan und Aslan den Erwachsenen ihr „Männerehrenwort“ geben, sich nicht zu weit von dem Dorf zu entfernen und nur Pfade und Wege zu nehmen, die sie wirklich gut kennen, und auf keinen Fall fremde und unbekannte Orte zu betreten. Dort könnten Minen oder Sprengfallen versteckt sein, die von Föderalen oder Rebellenkämpfern aufgestellt wurden. Und sie müssten pünktlich zum Abendbrot zurück sein, und zwar bevor es dunkel wird.

Gegen Mittag, als sie vom Klettern und Laufen in den Schluchten schon ziemlich müde und geschafft waren, entschlossen sie sich zu einem kurzen Halt in der Nähe eines halbzerstörten Wachturms, der noch aus der Zeit, als Leo Tolstoj seine berühmte Novelle Der Gefangene im Kaukasus schrieb, hätte stammen können. Und da wurde jedem der Kinder klar, dass sie mit leeren Händen nach Hause zurückkehren würden.

Also schlug Yunus vor, die Ziege…außerhalb des Dorfes zu suchen. Diese Idee wurde von Zelimkhan sofort unterstützt und nur Aslan äußerte vorsichtig seine Bedenken - „Aber sagte da* (Vater auf Tschetschenisch) nicht, dass wir die Grenzen des Dorfes nicht verlassen und fremde Gegenden nicht betreten dürfen?“

Yunus‘ Vorschlag behagte ihm nicht. Er brachte ihn viel mehr in eine schwierige Lage. Denn er hatte seinem Vater doch ein Männerehrenwort gegeben, genau das nicht zu tun: fremde und unbekannte Orte betreten. Und Vaters Wille ist im Kaukasus ein bindendes Gesetz. Bei Ungehorsam drohte, ganz egal aus welchem Grund, immer eine harte Strafe.

Gleichzeitig wollte er nicht, dass seine Freunde diesen „Treueschwur“ für ein Zeichen von Schwäche oder - noch schlimmer - Feigheit hielten. Für Schwache und Feiglinge gab es in Tschetschenien keinen Platz. Da brauchte er nur an den 20-jährigen Kunta zu denken, über den jeder im Dorf sich lustig machen und amüsieren durfte. Sein Verbrechen war einfach. Vor Jahren, als Kind, hatte Kunta eine unverzeihliche Schwäche gezeigt. Er hatte sich geweigert, mit einem älteren Jungen, dazu noch einem „Nicht-Tschetschenen“, zu kämpfen. Seitdem wurde er von allen, ob groß oder klein, verschmäht und verachtet. Man hielt ihn für einen Weichling und der Ehre unwürdig, sich stolz ein Nochtschi* (Tschetschene auf Tschetschenisch) nennen zu dürfen.

Seine Anwesenheit und seine Existenz im Dorf wurden geduldet, doch keine Familie würde ihm je ihre eigene Tochter zur Frau geben, auch wenn diese für den Rest ihrer Tage unverheiratet bleiben sollte, da man Feigheit für die schlimmste aller Schanden hielt und obwohl Kunta immer Geld hatte und seine eigene Familie ziemlich wohlhabend war.

- „Das geht schnell. Keine Sorge! Wir werden zeitig zu Hause sein“- zerstreute Yunus die letzten Zweifel von Aslan, um seinen Freund zu beruhigen. „Jetzt sag schon ja, Bruder!“

Und Aslan sagte ja…

Sie fanden die Ziege jedoch nicht. Das verdammte Tier schien wie vom Erdboden verschluckt zu sein. Dafür waren sie mit ihren Kräften völlig am Ende und beschlossen deshalb wieder zu rasten. Und zwar direkt auf einem grünen Berghügel, der mit dünnen Bäumen bedeckt war. Die Jungen tranken kaltes Wasser direkt aus dem Bach und kosteten leckeres Fladenbrot und Bergkäse dazu, die Zelimkhan fürsorglich für unterwegs in sein Bündel eingepackt hatte. Das duftende Brot knisterte appetitlich zwischen den Zähnen. Nebenbei zogen sie erneut über Kunta den Feigling her, der vor kurzem einen alten sowjetischen Lastwagen gekauft hatte und jetzt mit Handel und Transport in- und außerhalb des Dorfes sich gutes Geld zu verdienen erhoffte. Außerdem machte im Dorf gerade ein unglaubliches Gerücht die Runde, dass er eine Braut für sich im benachbarten Dagestan suchen wollte, weil die dort lebenden Awaren noch nichts von der „Schande“ wussten, die ihm damals widerfahren war. Aber erst wenn er richtig steinreich wäre.

Yunus protze vor seinen Kameraden mit dem neuen Messer, das ihm sein älterer Bruder geschenkt hatte. Das Messer stammte aus dem Ausland und hatte einen roten Griff und eine Vielzahl nützlicher Sachen, wie Korkenzieher, Schraubenzieher, Schere und Ahle, die darin geschickt versteckt waren. Woher sein Bruder dieses Messer hatte, konnte er allerdings nicht sagen. Dafür beschrieb er voller Freude und in höchsten Tönen, wie er sich damit einen Bogen oder einen Holzsäbel aus einem Baum zu Recht basteln würde, um sich wie die alten Krieger in der Kriegskunst zu üben.

Dann verriet Zelimkhan, mit welchem Kunstgriff er den Sohn des Dorfältesten letzte Woche besiegt hatte, als dieser sich wagte, ihn zum Zweikampf herauszufordern. Er war aufgeregt und begleitete seine Erzählung mit praktischer Demonstration und fuchtelte die ganze Zeit wild mit den Armen und Beinen herum.
Aslan kam gar nicht zu Wort. Er wurde durch das plötzliche Rattern der Hubschrauber unterbrochen…

[center]XXX[/center]
Es war Yunus, der als erster die Hubschrauber gesehen, oder besser gesagt, gehört hatte, ehe Aslan und Zelimkhan diese zwei dunklen Punkte am türkisblauen Himmel ebenfalls bemerkten, die sich seitdem langsam in ihre Richtung näherten. Anfangs noch so mickrig, dass man sehr lange mit den Augen blinzeln musste, um sie überhaupt aus der Ferne zu erkennen.
Es waren zwei Hubschrauber. Sie flogen mit einem sehr geringen Abstand voneinander und ähnelten zwei Wanderern in der Wüste aus einem orientalischen Märchen, nur dass sie sich jetzt entlang der himmlischen Oberfläche statt im weißen Wüstensand Arabiens vorwärtsbewegten.

- Sieh Mal! Die Hubschrauber! - schrie Yunus laut.
Als kleiner kaukasischer Mann musste er jetzt eigentlich Ruhe und Würde bewahren, aber ihm fiel es schwer, seine kindische Freude zu bändigen.
- Tatsächlich! Helis!* (Abkürzung für Helikopter im militärischen Jargon)- wiederholte Aslan, ebenfalls fasziniert.
- Wie hoch sie nur fliegen - bemerkte Zelimkhan sachlich.
- Zu hoch. Man kann sie selbst mit der besten Zwille nicht treffen, fügte Yunus sofort hinzu, dessen Kopf ständig auf der Suche nach neunen Streichen und Abenteuern war.

In der Zwischenzeit reduzierten die beiden Hubschrauber leicht die Höhe und bewegten sich, langsam aber sicher, auf den grünen Höhenzug zu. Und auf einem der Hügel saßen jetzt die drei Kameraden. Obwohl die Helis immer noch viel zu hoch flogen, konnte man mit bloßem Auge von unten schon ihre giftgrün bemalten Rücken und die wuchtigen sich drehenden Rotorblätter auf dem Dach gut erkennen, die vorhin nicht zu sehen gewesen waren. Aber auch das im Sonnenlicht reflektierende Cockpit des Hubschraubers, in dem man die Silhouetten der Mannschaft erraten konnte. Und die abgeblätterten roten Sterne auf dem Heck, an den Seiten und auf den Flügeln der Maschine, die noch von einem, seit über zehn Jahren nicht mehr existierenden Staat, als Erbe übrig geblieben waren.

Jetzt ähnelten die Maschinen nicht mehr zwei winzigen Punkten am Himmel und kamen näher und näher. Als sie fast schon die Spitze der Berghügel erreicht hatten, blieben die beiden Hubschrauber für einen Moment plötzlich in der Luft hängen, ( ihre meterlangen scharfen Rottorblätter liefen auf Hochtouren) als würden sie etwas ausspähen oder Ausschau nach jemandem halten wollen, ehe sie doch kehrt machten und mit lautem Knarren über die ausgestreckten Köpfe der Jungen mit Schwung in den Himmel stoßen. Sie nahmen Kurs in Richtung Ebene.

- Wahrscheinlich kehren die zu der Basis zurück, sagte Yunus nachdenklich.
- Schade, dass wir kein Fernglas mitgenommen haben, bemerkte Zelimkhan verärgert. Die flogen so hoch, wir hatten kaum Zeit die Helis genau zu betrachten. Dabei sah es zunächst so aus, als würden sie wie Schildkröten kriechen, statt fliegen, fügte er schnell hinzu und verfolgte dieses seltsame Paar, das sich gerade rasch von den Hügeln entfernte.

Aber er irrte sich.

In dem Moment als die beiden Hubschrauber beinah hinter dem wolkigen Horizont verschwunden zu sein schienen, machte das seltsame Paar plötzlich eine rasche Kehrtwende. Sie kamen zurück…

- Aslan! Yunus! Sie kehren zurück! Sie kehren zurück! Schaut genau hin! Dann werden wir zu Hause bei den anderen Jungs uns rühmen können, einen echten Hubschrauber gesehen zu haben. Die werden uns alle bestimmt beneiden, jubelte Zelimkhan und fuchtelte mit Händen und Füßen vor Freude.

Diesmal flogen die Hubschrauber sehr tief und sahen dabei nicht mehr wie kleine Punkte oder Wanderer-Pärchen in der Wüste aus einer orientalischen Fabel aus. Die Wirklichkeit war kein Märchen und die Zeit lief hier auch anders. Nicht mehr in Zeitlupe. Die Distanz zwischen den „Punkten“ und den „Hügeln“ verringerte sich blitzschnell.

Die Maschinen schienen den Hügeln beinah erreicht zu haben, als es plötzlich aus einem der Hubschrauber laut knallte. Im nächsten Augenblick brachen aus den runden, komischen Behältern, die unter den riesigen Flügeln des Helikopters befestigt waren, kurze gelbrote Flammen aus. Und dann sah Aslan, wie etwas Langes und Graues, einem Stock oder einem Baseballschläger ähnlich, sich im nächsten Moment von dem Flügel des Hubschraubers löste und mit lautem Zischen in die Ferne stürzte und dabei eine dünne weiße Rauchschleife am türkisblauen Himmel hinterließ, die wie Meerschaum aussah.

Die Jungen verfolgten wie hypnotisiert, wie die geheimnisvolle Rauchschleife mit rasender Geschwindigkeit gerade auf die Hügel zusteuerte, ehe sie wieder einen Lärm vernahmen, diesmal viel lauter und erschreckender als vorher, und dann auch den Feuerball selbst sahen, der nur fünfhundert Meter entfernt das Grüne traf, und die schweren Bäume und das Gestein spielerisch in alle Richtungen warf, als wären sie Feder oder Flusen.

Das Himmelfeuer und der Lärm erschreckten die Kinder nicht (im Kaukasus würde man eher sterben als Schwäche zu zeigen oder Angst zuzugeben), sondern stärkten nur ihre Neugier. Die Jungs rührten sich nicht von der Stelle, auch dann nicht, als ein weiterer Feuerball mit voller Wucht auf die Berge niederschlug, diesmal viel näher als der Erste, ohne zu verstehen, dass sie… unter Beschuss in der Kampfzone standen. Erst bei der dritten Explosion schaltete endlich der Selbsterhaltungsinstinkt sich ein und Zelimkhan rief dann: „Flieht!“

So schnell wie dann waren Aslan und seine Kameraden noch nie zuvor gelaufen. Trotzdem trafen sie erst gegen Abend im Dorf ein. Und natürlich ein paar Minuten später als vereinbart. Sie beschlossen, auf keinen Fall auch nur das Geringste von ihrem Abenteuer den Erwachsenen zu erzählen und trennten sich.

Aslans Vater erwartete seinen Sohn vor dem Haus. Obwohl seine Augenbrauen sich leicht zusammenzogen, blieb das Gesicht des Bergbewohners ansonsten ruhig und gelassen.
„Dann wissen die im Dorf nicht, dass wir gegen das Verbot verstoßen haben, und folglich auch nichts über die Schüsse und Explosionen. Und Vater ist nur sauer, dass ich nicht wie versprochen, pünktlich zum Abendessen nach Hause kam. Ein Dank dem Allmächtigen. Dann wird die Strafe nicht so hart sein“- dachte Aslan leise.

Der Vater ließ Aslan ins Haus rein und sagte, nachdem er die Tür hinter ihnen fest verschlossen hatte und er sicher sein konnte, das keiner der Nachbarn seine Worte hören konnte: ( Im Kaukasus ist das nicht üblich, die Kinder im Beisein von Fremden, auch nicht der eigenen Landsleute, zu loben oder zu rügen) „ Habe ich dir nicht gesagt, du sollst pünktlich zum Abendessen zu Hause sein? Und nun iss und ruhe dich danach aus. Morgen wirst du mir als Mann Rede und Antwort stehen!“

[center]XXX[/center]

In dieser Nacht schlief Aslan wie ein Baby. Er war so müde, dass er keine Lust und auch keine Kraft dazu hatte, auch nur darüber nachzudenken, was mit ihm am nächsten Morgen geschehen und ob der nächste Morgen überhaupt kommen würde.
Auch glaubte er naiv, dass es ihnen tatsächlich gelungen war, die Erwachsenen hinters Licht zu führen und sie wirklich nicht wussten, in was für einen Schlamassel ihre Kinder heute beinah geraten wären. Und er glaubte auch nicht, dass alles Geheime früher oder später bekannt wird. Und in ihrem Fall besonders früh.

Er wusste nicht, dass schon kurz nachdem die Kinder gegangen waren, eine beunruhigende Nachricht das Dorf erreicht hatte. Es hieß, dass der Militäraufklärungsdienst der Föderalen eine bis an die Zähne bewaffnete Gruppe Rebellenkämpfer in den Bergen entdeckt hatte, die sich im benachbarten Dagestan verstecken wollte und sofort den Befehl zu ihrer Liquidierung gegeben hatte. Und dass dafür zwei schwere, mit Raketen, Maschinengewehren und Kanonen bestückte MI-24 Kampfhubschrauber in den Einsatz geschickt wurden, so dass jeder Dorfbewohner die Maschinen über dem Dorf hatte fliegen hören und sehen.

Auch konnte er nicht wissen, dass sein Vater, der örtliche Mufti*(islamischer Rechtsgelehrte) sich dann sofort auf den Weg in die Berge gemacht hatte, um die Kinder sicher nach Hause zurück zu bringen, und als er sie dort nicht fand, die restliche Zeit im Gebet verbracht und den Allmächtigen gebeten hatte, die Kinder vor Unheil zu schützen und zu bewahren. Und schon damals hatte er den Entschluss gefasst, den einzigen Sohn seiner im Kindbett gestorbenen Frau zu seinem älteren Bruder nach Nowy Urengoy zu schicken, bis der Frieden in sein Land zurückkehrte.

- „So kam ich, Aslan Dagoev, durch Allahs Wille nach Nowy Urengoy“- beendete Aslan seinen Schulaufsatz.
Dann wurde es sofort totenstill im Klassenzimmer. Alle Blicke der Schüler waren jetzt auf ihn gerichtet, während Aslan selbst die ganze Zeit das Gesicht der Lehrerin anstarrte und dort zu erraten versuchte, welchen Eindruck seine Geschichte bei ihr hinterlassen hatte.
- „So, so! Jetzt verstehe ich überhaupt nichts mehr, Dagoev! Schreiben kannst du ja. Das sehe ich. Und auch die Sprache ist ziemlich gut, unterbrach die lange Pause Roza Mikhailovna. Ihr sonst farbloses Gesicht war jetzt errötet und zeigte nur Ratlosigkeit und Verwirrung. Aber was hat das mit dem Thema unseres Schulaufsatzes zu tun? Das Thema unserer Arbeit ist: der Sommer! Und wo ist bitte schön in deinem Aufsatz Sommer? Auch kann ich mich beim besten Willen nicht daran erinnern, dass dort irgendwo eine Libelle erwähnt oder genannt wurde. Was sollen dieser Unsinn und diese Phantasie! Erkläre uns doch bitte, warum dein Aufsatz Libelle heißt und was das mit dem Sommer zu tun hat! Und zwar jetzt!“- beendete sie ihren langen Monolog.

Man vernahm einen wachsenden Reiz in ihrer Stimme
Aslan wurde ebenfalls still und senkte seinen Blick zum Boden, als würde er die ganze Zeit überlegen, ob er das, was ihm gerade auf der Zunge lag, der Lehrerin und der Klasse wirklich mitteilen sollte. Kurze Zeit später erlangte er seine Schlagfertigkeit wieder und traf die Entscheidung.

– „Das ist kein Unsinn, Roza Mikhailovna!“- sprach er erhobenen Hauptes zu der Lehrerin. Sondern die Wahrheit. Das Ganze ist in diesem Sommer passiert. Und die Libelle, das sind doch die Hubschrauber. Ihre grünen Körper und langen Rotorblätter sahen den Libellen mit ihren durchsichtigen Flügeln so täuschend echt und ähnlich aus, bis sie…
Dann brach seine Stimme plötzlich ab…

- „Bis sie was?“- fing die Lehrerin seinen Satz auf, in Erwartung, dass er seinen Gedanken zum Abschluss bringt.

Aber der Junge schwieg.

- „Nun, Aslan! Jetzt schweig nicht. Sag es schon! Sei nicht schüchtern! Wir hören dir alle aufmerksam zu“, versuchte Roza Mikhailovna ihn zu befeuern.
- „Bis sie Feuer schlugen“- platzte es aus ihm heraus.
Und dann wurde alles um ihn herum wieder still… und er sehnte sich, wie noch nie zuvor, nach Zuhause.

[center]Ende

Roman Dell
Russische Fassung
24.02.2019-18.03.2019
Deutsche Übersetzung
18.03.2019-23.03.2019
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Re: Roman Dell

Beitrag von zuzu »

Nach einer sehr langen Pause hat Roman Dell endlich eine neue Geschichte geschrieben. Viel Spaß damit!

Die neue Heimat ist am Anfang oft ein Kulturschock. Doch das muss nicht sofort etwas Negatives bedeuten. Manch ein „Kulturschock“ ist sogar lustig und angenehm und man lacht später nur drüber. Das weiß ich (natürlich!) aus eigener Erfahrung. Hier ist meine neueste Geschichte, die ich euch nach einer langen Pause präsentiere.

„Ein echtes deutsches Bier“
-Kurzgeschichte -


Die neue Heimat ist am Anfang oft ein Kulturschock. Doch das muss nicht sofort etwas Negatives bedeuten. Manch ein „Kulturschock“ ist sogar lustig und angenehm und man lacht später nur drüber. Das weiß ich (natürlich!) aus eigener Erfahrung, aber alles der Reihe nach. Einmal musste ich zwei Russen (nicht diese typischen Moskau- Oligarchen, nur zwei Provinzgeschäftsleute mit etwas Geld) im Sommer helfen, sich in Deutschland einen Gebrauchtwagen zu kaufen. Sie waren gute Bekannte von guten Bekannten unserer guten Bekannten, zu denen man ungern nein sagt. So etwas kennt ihr bestimmt auch. Ich sollte bei der Suche nach einem passenden Wagen die Rolle des Stadtführers und Dolmetschers übernehmen. Nicht dass mein Deutsch dabei besonders gut, fein oder fließend war. Ich war damals selbst von einem A1 Niveau noch Millionen von Lichtjahren entfernt. (Wer nicht weiß, was A1 bedeutet -einfach googeln.) Aber das machte nichts. Schließlich mussten die auch nichts dafür bezahlen. Nachdem meine Gäste genug von Autos hatten, wollten die Beiden sich etwas ausruhen und wir setzten uns im Schatten ins nächstbeste Straßencafé.
-«Wir wollen etwas Besonderes, das uns immer an diese Reise nach Deutschland erinnert. Vielleicht ein echtes deutsches Bier probieren und dabei eure deutschen Mädel bewundern, wie sie in ihrer Tracht mit Bierkrügen zwischen den Tischen herumlaufen. Reichen Hundert Deutsche Mark dafür aus oder kostet es mehr? Keine Sorge! Wir haben genug Geld dabei. Kannst du das für uns regeln?“- forderten sie einstimmig und zogen bereitwillig, jeder, ein fettes Geldbündel aus den Ärmeln.
Kaum hatten die Russen den Satz zu Ende gesprochen, da stand schon die eifrige Kellnerin vor uns. Eine ungeschminkte, hochgewachsene, hagere Frau mit künstlich gefärbtem blondem Haar. Eine richtige „Bohnenstange“. Zwar ganz ohne Dirndl, (welche Enttäuschung, und doch irgendwie logisch, schließlich waren wir hier in NRW, und nicht in Bayern) aber dafür mit steril weißem Gastronomie-Kittel, schwarzer Kellner- Schürze und ein dunkelblaues Notizbuch in der Hand.
– „Guten Tag zusammen!“ - sagte sie mit der kühlen, fast roboterhaften, Stimme eines Auto-Navigation- Systems. -Haben die Herrschaften schon einen Wunsch? Was darf ich euch bringen? -Ihr dünner Mund verzog sich zu einem erwartungsvollen Lächeln.
Die beiden Russen blickten stumm und hilflos in meine Richtung. Der plötzliche Klang der fremden Sprache versetzte sie sofort in eine Schockstarre und Panik… Und mich auch.
Jetzt waren meine Dolmetscher-Künste gefragt. Ich musste „liefern“. Und zwar sofort. „Musste die Kellnerin so schnell kommen? Ich hatte nicht einmal Zeit mich genügend vorzubereiten. Zum Teufel! Gib Gas, Junge. Gib Gas! Alle warten auf dich“ schoss mir gerade durch den Kopf, während ich mich zu sammeln versuchte.
- «Guten Tag, Fräulein! Meine ausländischen Freunde wollen ein echtes deutsches Bier trinken und ich bekomme eine kleine Cola» - wählte ich langsam und unsicher die passenden Wörter für die Bestellung aus und war stolz wie Oskar, einen so langen und komplizierten Deutschsatz wie diesen allein zu Stande gebracht zu haben. So lang und kompliziert, dass ich jetzt dringend eine kurze Verschnaufpause brauchte.
Keine Chance. Die „Bohnenstange“ ließ einfach nicht locker.
-« Was für Bier? Dunkles, Helles, Kölsch oder Veltins? Wir haben Dutzende von Sorten, junger Mann. Geht’s da vielleicht etwas konkreter?“- fragte die Kellnerin sofort nach. Ihre Stimme klang nicht mehr mechanisch, sondern forsch und ungeduldig.
Diese einfache (und wie ich es heute einsehe auch absolut berechtigte) Frage warf mich damals um. Plötzlich fühlte ich mich unsicher, verloren und entmutigt. Und meiner letzten Deutschkenntnisse beraubt. Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Als ich vorhin die Bestellung aufgegeben hatte, hatte ich nicht gedacht, dass man mich so etwas fragen würde oder fragen könnte. Ich hatte mir überhaupt nichts dabei gedacht. Warum auch? In der Sowjetunion existierte nur eine einzige Sorte Bier - Zhigulevskoe. Darum war das Bier für mich einfach nur Bier. Und Basta. Dass es mehrere Sorten davon geben kann, war mir, bis heute, niemals in den Sinn gekommen. Und jetzt das hier. Was sollte ich tun? Wie sollte ich mich aus dieser peinlichen Lage befreien? Mein Gesicht vor den Russen und der Kellnerin nicht zu verlieren?
- „Gut! Dann lasse ich am besten die Getränkekarte hier liegen und komme in 5 Minuten zurück“- unterbrach die „Bohnenstange“ genervt diese peinliche Denkpause, der meine geistige Anstrengung nicht schnell genug voranging, nachdem sie die steigende Angst und Verwirrung in meinem Blick gelesen hatte.- Okay?

Und weg war sie, die „Bohnenstange“

- Was hat sie gefragt? - wollten die Russen danach sofort von mir wissen.-Jetzt sag bloß, das Bier ist alle? So ein Mist!
-Ah, was! -verneinte ich nur kopfschüttelnd und verärgert.- Seid ihr verrückt! Deutschland und kein Bier. Das gibt’s nicht. Nein. Die haben genug. Sie wollte nur wissen, welche Sorte.
- Und was hast du ihr gesagt?
-Ich werde jetzt gleich eine Sorte für euch raussuchen müssen.-klärte ich die Beiden auf.
-Na dann mal los, Du-Experte! Enttäusche uns nicht! Such uns das beste Bier aus.- befahlen sie lachend.

„Die sind vielleicht lustig. Wenn das nur so leicht wäre“- dachte ich und schlug die laminierte Karte im dunkelroten Ledereinband auf der Seite auf, wo die alkoholischen Getränke angeboten wurden… und wurde im gleichen Augenblick sofort von einem schweren Regen unbekannter Wörter überschüttet: Krombacher, König Pilsner, Stauder, Paulaner, Pils, Bittburger, Warsteiner, Becks, Radeberger, Edinger, Hasseröder und so weiter. Bestimmt an die drei Dutzend Sorten. Und spürte erneut die Wut und Panik in mir aufkommen. Wie könnte ein normaler Mensch da überhaupt noch durchblicken ohne dabei gleich wahnsinnig zu werden. Mit einer Sorte, wie in der Sowjetunion, lebte man definitiv glücklicher und stressfreier. Das sage ich euch. Und dann hatte ich zu allem Übel auch noch einen Ruf zu verlieren, weil die beiden mich auf Grund meines Deutschtums automatisch für einen „Fachmann“ und Sprach-Genie hielten. Ein Deutscher muss doch wissen, was die Deutschen mögen. Ist doch völlig logisch.
Mit meinen zarten 17 Jahren und nur knapp 15 Monaten Aufenthalt hier war ich alles andere als „Deutschland-Experte“, geschweige denn ein profunder Bier-kenner. Ich wusste noch nicht mal, wie das Zeug schmeckt. Überhaupt Alkohol. Und jetzt sollte ich mal eben, ein echtes deutsches Bier für zwei gestandene und trinkfeste Männer aus drei Dutzend verschiedener Sorten raussuchen und dabei niemanden enttäuschen. Unmöglich. Da kann man nur versagen oder verlieren…
Doch dann sah ich den Anker. Meinen Rettungsanker. Ein einziges Wort auf der Getränkekarte, das mir doch noch bekannt und vertraut war. Ein Wort, das sehr deutsch, sehr aristokratisch und vor allem sehr elegant, fast wie der Name irgendeines germanischen Königsgeschlechts oder einer Kaiser-Dynastie in meinen Ohren klang. Schön, lang und erhaben. Das Wort aus der Werbung. Hier ist es: Clausthaler!

- „Und? Wie sieht es aus? Haben die Herrschaften sich endlich entschieden? - hörte ich erneut den Klang des Navis an meinem Ohr. Die „Bohnenstange“ war jetzt wieder zurück und baute sich mit ihrem Notizbuch vor mir auf.
Doch diesmal hatte ich keine Angst. Diesmal hatte ich die Situation voll im Griff. Denn ich kannte das Zauberwort. Das Zauberwort, das mich und uns alle gleich retten würde. Clausthaler!

- „Also! Zwei Mal Clausthaler für meine Freunde und eine Coca-Cola für mich, sagte ich dann mit fester Stimme und versuchte dabei möglichst selbstsicher und gelassen zu klingen…
Wenn ich nur gewusst hätte, was dann kam. Ihre zweite Frage war noch schlimmer als die erste.

- „Sie sagten doch dass Ihre Freunde ein echtes deutsches Bier trinken möchten?“- sagte die „Bohnenstange“ danach und schaute mich wartend und unschlüssig an.- Seid Ihr euch da wirklich sicher?
-Ja. Warum? Wo ist das Problem? - fragte ich.
-Weil das hier kein Bier ist! - sagte sie.
-Kein Bier? - fragte ich erstaunt.
-Kein Bier! - bestätigte die Kellnerin kopfnickend. – K-E.I-N B-I-E-R- wiederholte sie den Satz nochmal. Diesmal sehr laut, langsam und deutlich. Als würde man sie dadurch besser verstehen können.
Jetzt verstand ich überhaupt nichts mehr. Warum war das Bier, das wir haben wollten, kein Bier, wo es doch auf der Karte in der Spalte Bier stand und Bier hieß. Was war jetzt wieder los? Könnte mir das bitte jemand erklären.
- „Warum, dass nicht ein Bier?“ Fragte ich stockend, ohne dabei auf den Satzbau oder Grammatik mehr zu achten.
Aus der Fülle der Wörter, die sie mit der Schnelligkeit eins Maschinengewehrs auf mich herunterratterte, filterte mein Gehirn-Sprach-Scanner fieberhaft die wenigen einzelnen raus, die ich kannte, die jedoch zusammen keinen Sinn ergaben. Bier. Alkohol. Frei. Das mit dem Bier und Alkohol verstand ich noch gut. Doch was hatte das Wort frei in diesem seltsamen Gleichnis zu bedeuten? Dass der Alkohol einen frei macht, etwa? Frei von Schamgefühl? Frei von Angst? Hat sie das vielleicht gerade gemeint? O Gott! Hilf mir doch endlich!
Aber diese Worte schienen irgendwie eine Schlüsselrolle bei unserem Dialog und Problem zu spielen. Denn sie hat Alkohol, frei, und kein Bier mehrmals betont und wiederholt. Warum? Wenn ein Bier kein Bier war, war es auch kein Alkohol. Aber das konnte doch völlig unmöglich sein. Nicht richtig. Das ergab überhaupt keinen Sinn. Ein Bier ohne Alkohol existierte nicht. Nicht in der Sowjetunion. Nirgendwo. Ein Bier ist ein Bier. Das ist doch logisch. Unwiderlegbar. Felsenfest. Wie Eins Plus Eins.

-Doch Bier- beharrte ich wie ein trotziges Kind auf meinem Recht.
-Kein Bier! Alkohol frei- erwiderte sie jedes Mal monoton und hartnäckig.

Das ging etwa eine Minute so. Der kühle, fast emotionslose Ton der „Bohnenstange“ in Verbindung mit dem Dauerlächeln auf ihrem Gesicht, das mir allmählich spöttisch und herablassend vorkam, und die gleichen Worte, die sie immer wieder unbeirrt wie eine gefühllose Maschine wiederholte, machten mich noch zorniger und wütender. Ich hatte langsam das Gefühl, dass sie sich über uns drei offen lustig machte. Uns wie Eingeborene aus irgendeinem rückständigen Land behandelte, die nach einem Schiffbruch ans Ufer ihrer Zivilisation vom Ozean gespült worden waren und die einfachsten Dinge des Lebens weder kannten noch verstanden. Hätte die Dame nur gewusst, dass das überhaupt nicht stimmt oder wen sie vor sich hin stehen hat. Dass ich Schriftsteller oder Schauspieler werden möchte. Dass meine Sprachbarriere nur vorübergehend ist und ich in Russisch super wortgewandt bin, schon über 1600 Bücher gelesen habe und sogar drei Jahre eine Kultur- und Musikkolumne für die Stadtzeitung schrieb. Mit dreizehn Jahren schon Reporter war, während die anderen Jungs noch doof spielten und nichts als Unsinn im Kopf hatten. Wenn ich all das ihr nur auf Deutsch richtig hätte sagen können, sie hätte sich sicher anders verhalten und sich auf der Stelle bei mir entschuldigt.
Und dann fiel mir noch etwas dazu ein. Ein bestimmter Werbespot, den man jeden Abend im Abendprogramm zwischen den Filmen in der Pause zeigte. Dort trank ein perfekt gekleideter Mann mit dem perfekten Körper und Gesicht eines Models in einem perfekt eingerichteten Büro genüsslich ein Glas Bier und sagte dabei ein Satz dazu. Ein wichtiger Satz. Dieser Satz schlug bei mir im Bewusstsein wie ein Blitz ein… und plötzlich hatte ich keine Fragen mehr. Gar keine. Alles war so klar und so deutlich geworden. Warum bin ich nur nicht sofort draufgekommen. Dass dieser Satz die Lösung für unseren Disput bot. Der Beweis dafür, dass ich recht hatte, war. Denn das Fernsehen konnte nicht lügen. Durfte nicht lügen. Das Fernsehen stand für Staat. Und Staat bedeute für mich Seriosität und Ernsthaftigkeit. Man würde da doch keinen Werbespot zeigen, der die Verbraucher hinters Licht führte. Nicht ehrlich war. Nicht hielt, was man versprach. Das war unmöglich. So etwas machte ein Staatsfernsehen ganz bestimmt nicht. Das Fernsehen informierte die Menschen, statt sie zu täuschen. Wenn dort etwas ausgestrahlt wurde, musste das wahr, richtig und seriös sein. Anders konnte ich mir das nicht vorstellen. Schon gar nicht in Deutschland. Und in diesem Fernsehen war Clausthaler ein Bier. Eindeutig. Ich habe doch das Wort Bier dort selbst mehrmals gehört. Was wollte diese Frau da mir auf einmal für Quatsch und Unsinn erzählen. Versteht sie ihre eigene Sprache nicht?

- „Wir wollen Clausthaler! - erwiderte ich fest entschlossen, dieses Gespräch für immer zu beenden. „Clausthaler. Alles was ein Bier braucht!“ So wird doch im Fernsehen gesagt! Also ist das Bier. Oder schauen Sie keine Werbung?“ ahmte ich die Stimme aus dem Werbespot nach.- Und jetzt bringen Sie uns bitte endlich Clausthaler! Sofort!
Ihr hättet erstmal ihren Gesichtsausdruck sehen sollen. Das hat gesessen. Voll erwischt. Touché! Die „Bohnenstange“ sagte nichts. Und dann sagte sie nur: Mir doch egal. Und noch etwas. Und ging weg. Und wir bekamen unser Bier.
Wir blieben noch eine Stunde im Biergarten gemütlich sitzen. Ich nippte an meiner Cola mit Zitrone und Eis und die Russen stritten sich leise über die Höhe der Zollgebühr, die sie in Russland an der Grenze für einen gebrauchten Mercedes, BMW oder Audi an den Vater-Staat zahlen müssten. Erst zum Schluss sagte einer von Ihnen nachdenklich: „Nicht schlecht, dieses deutsche Bier. Lecker, aber irgendwie schwach. Nicht wie unsere Zhigulevskoe. Von dem bin ich sofort platt. Und hier. Ich habe einen ganzen 1,5 Liter- Krug davon getrunken, und bin immer noch klar im Kopf. Wie ist das möglich? Was für Teufel, diese Deutschen!“
Und abends, erzählte ich in gebrochenem Deutsch dem besten Freund meines Vaters beim Abendbrot meine Tagesabenteuer mit den Russen und konnte mir den Streit mit der Kellnerin natürlich auch nicht verkneifen. Er fing an, genau wie die Kellnerin, sich danach sofort zu amüsieren. – „O Gott, Junge!“ - sagte er zwinkernd und schmunzelnd zu mir. – „Sag Mal! Hast du das wirklich so zu ihr gesagt? Ich verrate dir jetzt etwas. Man kann tatsächlich Bier trinken und nicht betrunken werden. Das geht schon, weil es den gleichen Biergeschmack wie das echte Bier hat, aber kein bisschen Alkohol enthält. Ungelogen. Du hast bestimmt nicht geglaubt, dass es so etwas wirklich gibt? Jetzt weißt du es aber. Aber ihr seid auch gut, Jungs! Kein Wunder, dass die Bedienung euch so doof kam. Du hast die Arme völlig irritiert. Ihr wolltet doch ein echtes deutsches Bier trinken…und habt dabei ein alkoholfreies bestellt“.

Ende
Roman Dell
21.04.2021. -26.04.2021
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Re: Roman Dell

Beitrag von zuzu »

Wart ihr schon Mal auf einer Bücherbörse? Habt ihr es vor dahin zu gehen? Wenn ja, dann seid ihr bei mir genau richtig. Denn Bücherbörse ist das Thema meiner neunesten Erzählung und ich nehme euch gerne auf die Reise mit.

Dort wo es Glück zum Kilo-Preis gibt.


(Erzählung)
XXX
.
SIE hatten entschieden. Ab der nächsten Bücherbörse dürfte sich jedes Kind ein Buch aussuchen, das es nicht zu bezahlen brauchte. SIE. Damit waren die Vorstandsmitglieder des Vereins der Freunde der Bibliothek und er gemeint, die bei der letzten Jahresversammlung gewählt worden waren. Eine unvergessliche Vorstellung im großen Festsaal, mit spannender Lesung, erlesenen Häppchen, gutem Sekt, viel Applaus und bewegenden Reden, an die er sich jedes Mal mit Genuss und Begeisterung erinnerte. Damals wurden die Zügel der Macht und die Zukunft des Vereins in ihre Hände gelegt. Das war im September. Fast eine Ewigkeit her. Jetzt war es schon Anfang November und die Bücherbörse fing heute an. Ihre erste, die sie als Neulinge meistern sollten. Ein Debüt und die Feuertaufe zugleich.
Zugegeben, ein wenig unruhig und angespannt war er doch. Hauptsächlich wegen des Respekts und des Vertrauens, das sie bekommen hatten, obwohl sie sich beides erst verdienen mussten. Die Last der Verantwortung machte ihn nervös. Würde er die in ihn gesetzten Hoffnungen wirklich erfüllen können? Allen Erwartungen und Herausforderungen, die das Ehrenamt mit sich brachte auf Dauer gerecht werden? Das Lebenswerk seiner Vorgänger fortsetzen? Oder würde er kläglich scheitern, sobald es los ging. Wenn es statt der blumigen Worte und des Rampenlichts nur Arbeit und Alltag geben würde?
Bis jetzt kannte er den großen Bücher- und Medienverkauf nur aus der Besucher-Perspektive und hatte, (genau wie die Menschen heute), auch schon oft, am frühen Samstagmorgen, vor dem Eingang zur Bibliothek voller Vorfreude und Ungeduld darauf gewartet, endlich hereingelassen zu werden, um sich dann sofort auf die hier angebotenen Schätze zu stürzen, seinen Appetit und sein Verlangen nach immer mehr frischem Lesefutter wie ein ausgehungerter Vampir zu stillen, neue interessante Titel oder alte und begehrte Klassiker zu suchen und zu entdecken. Ein jedes Mal spannender und berauschender Moment. Das war „seine“ Bücherbörse. Die Bücherbörse wie er sie liebte und erlebte. Wie es sich anfühlte auf einmal die Rollen zu tauschen, davon hatte er keine Ahnung. Aber das sollte sich heute ändern.
Heute durfte er nicht, wie sonst, zusammen mit anderen Beute machen. Ab jetzt war sein Posten auf der anderen Seite des Ladentisches. Er war jetzt der Herr und Wächter über Tausende von Büchern, die ihm anvertraut waren und sich für die nächsten vier Stunden und Tage in seiner Obhut befanden. Eine Rolle, an die er sich erst gewöhnen müsste. Denn sein Jagd-Instinkt war immer noch aktiv.
Wie immer fand der Bücher- und Medienverkauf in dem Mehrzweckraum der Bibliothek statt. Der Mehrzweckraum war ein rechteckiges Zimmer mit einer quadratischen Stützsäule, senfgelbem Boden und schmalen Klappseitenfenstern die sich fast unter der Decke befanden und den Bullaugen eines U-Boots ähnelten. Seine rauen Backsteinwände waren steril weiß gestrichen. Die Raumausstattung bestand aus einem Schreibtisch, zwei Holzstühlen und ein paar Aufbewahrungsschränken. An den Wänden hingen Bilderrahmen mit schwarzweißen Photographien, die den Zeitwandel der Bibliothek präsentierten. Der Raum war nicht wirklich groß aber reichte für die 30-40 Person aus, die hier gleichzeitig stöbern konnten.
Ihm persönlich gefiel es sehr, dass die Bücherbörse hier im Erdgeschoß stattfand. Er fand diesen Raum gemütlich. Besonders bei Unwetter, wenn man draußen das laute Pfeifen des Windes oder die schweren Regentropfen gegen die Fensterscheiben trommeln hörte und der türkisblaue Himmel sich bedrohlich schwarz zu färben begann. Dann strahlte dieser mit Büchern und Medien vollgestopfte Ort eine unerschütterliche Ruhe und einladende Wärme aus. War wie ein magisches Portal, das die Menschen in seinem Inneren vor allem Bösen und Unheil der realen Welt draußen beschützte. Ihnen Zuflucht und Sicherheit bot.
Organisatorisch war für ihn hier nichts mehr zu machen. Alles war perfekt. Er blickte erneut auf das stumme Meer der Bücher um sich herum. Ihre bunten Buchrücken und Schutzumschläge erinnerten ihn an die einzigartige Schönheit und den Charme von Venedig. Einige Bücher sahen ziemlich alt, blass und abgenutzt aus, andere dagegen absolut frisch, grell und neu. Zusammen gemischt, ergab sich daraus das mosaische Bild einer farbenfrohen und nostalgischen Traumlandschaft, die jedem der sie betrat, fremde Welten, Liebe, Romantik, Reisen, Abenteuer, Wissen, Lebenslust und Antworten auf ALLES, versprach. Ausgemusterte Bibliotheksexemplare und abgegebene Buchspenden, sie alle lagen jetzt grob vorsortiert auf den Tischen und Rollwagen bereit und hofften auf einen neuen Besitzer, der sie öffnen und von ihrem erzwungenen Schweigegelübde endlich befreien würde. Er ging ein letztes Mal die Reihen entlang.
Links: regionale Literatur und Reisebücher, Länderkunde, Politik, Geschichte, Theologie und Religion.
Rechts: Film, Theater, Musik, Garten, Naturwissenschaft, Technik, Handwerk, Basteln, Backen und Sport.
In der Mitte: Historische Romane, Belletristik, Krimis und Thriller. Die verbliebenen Winkel teilten Kunst, Lyrik, Architektur, Literaturwissenschaft und fremdsprachige Bücher unter sich auf.
Hier war tatsächlich für jeden Leser- Typ etwas dabei. Und er musste sich wirklich zusammenreißen um nicht gleich selbst sein bester Kunde zu werden. Welch großartiges Sortiment. Und die Preise für diese Schätze waren rein symbolisch, fast lächerlich. Ein Paradies für „Jäger und Sammler“. Und für Sparfüchse auch, wenn zum Ende der Bücherbörse die Preise halbiert wurden.
Er wusste jedoch aus eigener Erfahrung, dass es nicht besonders klug war mit dem Kauf von begehrten Titeln wirklich bis zum Schluss zu warten, weil die guten und seltenen Bücher in der Regel sofort vergriffen waren. So war es ihm damals ergangen, als er die limitierte 11-bändige Werkausgabe des Horatio Hornblowers von C. S. Forester hatte liegen lassen, weil ihm der Preis zunächst zu hoch erschienen war, und wie er am nächsten Tag, fiebernd und entschlossen, zurück zu der Stelle gerannt war, an der sein Objekt der Begierde noch gestern gestanden hatte und er dort enttäuscht nur noch eine klaffende Lücke gefunden hatte, die ihn spöttisch und schadenfroh anstarrte. Seitdem zahlte er sofort und ohne zu überlegen. Vor allem die Liebhaber von massiven Bildbänden kamen an solchen Tagen immer voll auf ihre Kosten und schleppten überglücklich schwere Bände mit Gaudi oder Dürer-Meisterwerken bergeweise nach Hause.
Das Geld aus dem Verkauf wurde für Langzeitprojekte wie Sommerleseclub, Vorlesewettbewerb, sowie Organisation von öffentlichen Lesungen, oder einfach nur zur Anaschaffung kleiner, nützlicher Dinge verwendet, die vom Verein an die Bücherei gesponsert wurden.
- „Es ist schon eine Minute vor zehn! Jetzt geht es los, Mensch! Wir müssen langsam aufmachen!“- unterbrach die Stimme einer Vereinskollegin seine Gedanken, die heute mit ihrer kleinen Tochter ebenfalls da war und mit ihm zusammen den ersten Einsatz übernahm.
Und dann ging alles so schnell und er vernahm nur, wie sein Herzklopfen und seine Erregung plötzlich mit dem ersten frostigen Windzug im Nichts verschwanden, nachdem sie die schweren Glastüren für das Publikum öffneten.
XXX
Die Menschen strömten in den Raum. Er erkannte das eine oder andere Gesicht aus der Menge wieder - eine ältere Frau mit ergrautem Haar, die wie eine sowjetische Lehrerin aussah oder ein junges Ehepaar, das immer mit einem großen Hund an der Leine vorbei kam - Stammgäste bei jedem Verkauf. Auch heute. Normalerweise hatte er Angst vor Hunden, aber dieser hier war kein Problem. Nachdem der Rüde zusammen mit dem Pärchen den Raum betreten hatte, liess der Hund sich sofort unter dem Tisch in der Nähe eines warmen Heizkörpers nieder, wo der Vierbeiner dann stundenlang die Schuhspitzen der Gäste studierte, die allesamt vertieft in den Büchern blätterten, fast wie eine verständnisvolle und geduldige Mutter die ihre tobenden Kinder auf dem Spielplatz beaufsichtigt, während die Beiden in aller Ruhe ihre Einkaufskörbe mit Büchern randvoll packten.
Die Kollegin aus dem Verein kümmerte sich um die Kasse, während er die Aufsicht übernahm. Nach 1,5 Stunden würde sie ihn ablösen. Seine Rolle als passiver Beobachter langweilte ihn nicht. Er schaute gern zu, was die fremden Leute taten. Als Besucher hatte er sich nie gefragt, wie die Menschen auf der Bücherbörse nach außen wirken und war über die eigenen Beobachtungen heute regelrecht erstaunt. Dinge, die ihm vorher nie aufgefallen waren weil er sich viel zu sehr auf die eigene Bücher-Suche konzentrierte. Die Atmosphäre, die hier herrschte, zum Beispiel.
Wenn Drängeln, Quetschen, laute Schreie, Zank, und Hektik bei jedem Räumungsverkauf im Kaufhaus fast schon als „normal“ und unvermeidlich galten, zeichnete die Bücherbörse sich dagegen durch eine ruhige Stimmung und harmonische Stille aus, die vom leisen Geflüster und Rascheln der Buchseiten im Hintergrund begleitet wurde. Nur selten wurde diese Museumsstille durch ein krachendes Geräusch unterbrochen. Immer dann, wenn einem Besucher mit dem Bücherstapel, so hoch wie der Turm von Babel, das oberste Buch unerwartet wegrutschte, oder man im Vorbeigehen die Bände am Tischrand ungeschickt mit dem eigenen Ellbogen oder mit der Tasche zu Boden riss. Die einzigen „Ruhestörer“ in dieser einen Welt für sich.
Zwar kam es auch da nicht ganz ohne Drängeln oder Geräusche aus, aber wirklich Lärm oder Streit gab es hier nie. Im Gegenteil. In einem Raum voller Bücher neigte die überwiegende Mehrheit der Menschen, wie durch ein Wunder, automatisch dazu, leiser zu werden, obwohl niemand dies von ihnen verlangte. Die Menschen an der Bücherböse schienen sich ausschließlich für ihre Bücher und sich selbst zu interessieren und nahmen das Geschehen und die Umgebung um ihre Person nur mechanisch wahr. Meistens blieben sie stumm und vertieft vor ihren Büchertischen stehen und rührten sich erst vom Fleck, wenn die Lücke neben ihnen plötzlich frei wurde, ohne jedoch die Verkaufsstände auch nur für eine Sekunde aus den Augen zu verlieren. Hier und da zog einer von ihnen ein Buch, das ihn zu interessieren schien, aus dem gemeinsamen Haufen heraus und blätterte darin, nahm das Buch mit oder legte es zurück. Und er fragte sich ob er genauso geistesabwesend aussah, wenn seine Nase in einem Buch steckte.
Seine zweite Überraschung galt den Kaufvorlieben seiner Kunden. Bis zum heutigen Tag, war er fest davon überzeugt, dass der Löwenanteil des Erlöses aus dem Verkauf von Belletristik stammte und war erstaunt darüber, dass dem in Wirklichkeit gar nicht so ist. Der typische Besucher der Bücherbörse war eher ein Praktiker, weniger ein Träumer. Er interessierte sich für bodenständige Dinge wie Weihnachtsplätzchenrezepte, Gartenarbeit, Kunsthandwerk, Gesundheit, Finanzen. Eben alles, was existenziell und nützlich ist.
Die zweite umsatzstarke Gruppe bildeten Menschen, die in Büchern nach Spaß oder Ablenkung suchten. Sie bevorzugten deutsche und skandinavische Krimis, aber auch Thriller, Liebesgeschichten oder historische Romane. Die übliche leichte Kost, mit der der Mensch erfolgreich versucht, seinem tristen Alltag zu entfliehen oder die Wartezeiten und Langeweile zu überwinden.
Dann gab es noch die Spezies wie ihn, die gerne schwierige Stoffe las: Geschichte, Politik und- Kunstbücher, Biografien, Dramen, Tragödien oder andere Hochliteratur. Etwas worüber man sich noch wochenlang Gedanken machte oder im Stillen grübelte. Aus manchen Käufern wurde aber selbst er nicht wirklich schlau. Sie ließen sich keiner der drei genannten Gruppen zuordnen und zeigten scheinbar an allem Interesse. Literarische Juwelen fand man bei ihnen nicht selten direkt neben Mainstream-Literatur im Einkaufskorb liegen, aber genau das machte im Grunde den Charme einer Bücherbörse aus. Diese Vielfalt an Geschmäcken und Interessen der Menschen. Das Alltägliche neben dem Außergewöhnlichen zu sehen. Die krassen Gegensätze und die Möglichkeit sich immer wieder überraschen zu lassen, gerade dann, wenn man glaubt schon alles zu wissen oder gesehen zu haben.
Was ihn noch mehr wunderte, war die absolut untypische Gelassenheit der Kunden. So ungeduldig und hektisch die Menschen beim Autofahren oder im Alltag auch waren, hier hatten sie es plötzlich nicht mehr eilig. Im Gegenteil, sie nahmen sich gern Zeit, stöberten seelenruhig in dem riesigen Bücherhaufen, füllten ihre Einkaufskörbe und näherten sich irgendwann mal der Kasse. Die meisten von ihnen wussten genau, wonach sie suchten, aber es gab auch welche die seine Hilfe brauchten. Es dauerte nicht lange, da wurde er schon von den ersten Besuchern angesprochen.
Eine ältere Frau kam stürmisch auf ihn zu und hielt ihm aufgeregt einen Handzettel entgegen. – Haben Sie diese drei Titel hier? Ich muss sie unbedingt bis heute Abend für einen guten Freund haben. “- fragte sie im Ton eines Menschen, der daran gewöhnt ist, immer sofort bedient zu werden.
Die Namen auf dem Zettel sagten ihm nichts. Er musste der Dame freundlich erklären, dass sie sich in einer Bücherbörse und nicht in einem Buchgeschäft befindet. Hier muss man einfach stöbern. Jemand anderes wollte von ihm wissen, ob sie Künstlerbiografien in belletristischer Form hätten. Er erinnerte sich dunkel daran, irgendwo Irvings Stones Romane Michelangelo und Van Gogh gesichtet zu haben und schickte den Besucher zu den Kunstbüchern nach hinten.
Und als er von dem nächsten Kunden inbrünstig gebeten wurde, ihm etwas Ergreifendes für die langen Winterabende zum Lesen zu empfehlen, -aber bitte, bitte keine kitschigen Liebesgeschichten,- fischte er sofort Der Vorleser von Bernhard Schlink und Tausend strahlende Sonnen von Khaled Hosseini aus dem Meer der Bücher raus und legte diese triumphierend dem Bittsteller in die Arme. Seine Lieblingsromane im Augenblick, die er überall und unermüdlich lobte.
Und dann gab da noch diese Frau, vermutlich Grundschullehrerin oder Sozialarbeiterin. Sie fragte ihn ob sie Bücher mit einfachen Texten und vielen Bilder hätten. Sie nimmt ALLES. Sie bräuchte diese Bücher für den Unterricht mit Flüchtlingskindern, die erst anfangen, Deutsch zu lernen.
Davon hatten sie hier zufällig eine ganze Kiste stehen. Eine Spende. Fast neuwertig. Während er ihr dabei half, die gewogenen Bücher in den mitgebrachten Rucksack und die Stofftaschen rein zu stopfen, sah er, dass die Augen der Frau plötzlich vor Freude zu leuchten begannen und ertappte sich dabei zu denken, er sei Zeuge eines Wunders, wie eine metaphorische Redewendung „Jemanden glücklich machen“ hier plötzlich Wirklichkeit wurde.
XXX
Es war nicht das letzte glückliche Gesicht, das er heute sah. Er hatte noch dutzende ähnlichen Fälle und Erlebnisse im Laufe des Tages.
– „Was habe ich heute für ein Glück! 5 Sebastian Fitzek Romane gefunden. Und sogar ein aktueller dabei! Ist das nicht schön, junger Mann? - „hörte er die leicht verschnaufte Stimme einer energischen Dame zu ihm sagen, die im gleichen Augenblick einen Stapel Taschenbücher auf die elektronische Waage legte. Ihr Gesicht glühte vor freudiger Aufregung.
Er machte keine Aufsicht mehr und hatte inzwischen die Stellung an der Kasse bezogen. Die Tochter der Kollegin aus dem Verein unterstütze ihn dabei. Ein taffes und cleveres Mädchen mit zwei geflochtenen Zöpfen, das ihm gerade eine kleine Lektion in Sachen Kopfrechnen erteilte.
- „Die Waage zeigt 3,5 KG an. 1 Kilo kostet 2 Euro. 3 Kilo sind 6 Euro. Und ein halbes Kilo – 1 Euro. Das macht zusammen 7 Euro!“ - sagte die Kleine laut. Und strahlte zufrieden.
- „Nur 7 Euro? Wirklich?“ – staunte die Dame, die ihr Glück immer noch nicht richtig fassen konnte.- „Da kostet ein Buch im Laden doch schon ein Zehner. Und ich bekomme 5 dicke Romane für 7 Euro. Wahnsinn! Hier habt ihr 10 Euro von mir. Das Rückgeld könnt ihr gerne behalten. Ich hab’s gesehen, dass das Geld für einen guten Zweck ist!“ -sprudelte es aus ihr heraus und sie legte den Papierschein in die Münzenschale.
– „Übrigens! Das machst du sehr schön, Mädchen! Weiter so!“ - lobte sie zum Schluss die Tochter der Kollegin aus dem Verein, die ihm gerade begeistert half, den Erlös in die richtigen Geldscheinfächer in der Kasse zu verteilen.
Sein absoluter Favorit blieb ein niedlicher, molliger Bub, der mit seiner Mutter hier zu Besuch war. Er schwankte noch auf den taumelnden Beinen, und lief Gefahr, gleich auf den Boden zu fallen, ließ jedoch das große dicke Buch in seiner Hand nicht los. Streng genommen waren es zwei Bücher- Auf dem Bauernhof und Mein großes Zoo- Wimmelbuch, zwischen denen er sich nicht entscheiden konnte. Die runden und zufriedenen Kühe mit ihren nicht weniger runden und zufriedenen Kälbern auf der Weide faszinierten ihn im gleichen Maße wie der niedliche, blaue Elefant, der sein Rüssel fröhlich nach dem Frühstück streckte. Die Mutter des Kindes, die schon mit ihrem vollen Warenkorb die Entscheidung ihres Sprösslings ungeduldig abwartete, versuchte das Kind endlich zu einer endgültigen Wahl zu bewegen.
- „Möchtest du Tiere auf dem Bauernhof haben, oder lieber Mein großes Zoo- Wimmelbuch mit dem blauen Elefanten“- sprach sie immer wieder auf den Bub ein, der sich auf Teufel komm raus, nicht entschieden wollte und immer noch unentschlossen beide Bücher in den Fäusten hielt.
Er beschloss der jungen Mutter auf die Sprünge zu helfen und diesen gordischen Knoten für sie zu lösen.
- „Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf! Ihr Sohn darf sich ein Buch aus dem Einkaufskorb umsonst aussuchen. Den Rest müssen Sie bezahlen! Ist erst neu“. - mischte er sich in das Gespräch sachlich ein.-
-Oh, Danke! Das ist aber nett! – sagte die Mutter inbrünstig. Das Gesicht der Frau rührte ein spontanes Lächeln! - Hörst du, was der gute Onkel sagt, du kannst ein Buch umsonst haben? - richtete sie ihre Worte wieder an das Kind. -Jetzt sag schon bitte, Kühe oder Elefant?
Der Junge sah ihn runzelnd an, schob misstrauisch und nachdenklich die Unterlippe vor, als würde er kurz etwas überlegen…und reichte ihm plötzlich den blauen Elefanten.
Die Letzten, die sie noch glücklich machten, waren Vater und Tochter, die noch kurz vor der Schließung kamen. Er- ein ernster Herr mit Brille und Hut. Sie – ein fröhliches Mädchen das sofort wie ein Schmetterling zwischen den Bücherständen zu flattern begann und ihr Korb binnen einer Minute mit den Dingen, die ihr nett oder interessant erschienen, vollstopfte: japanische Mangas, Notenhefte zu den Werken der großen deutschen Komponisten, 2 David Garret Musik CDs, Dantes Göttliche Komödie, Dostojewskis Schuld und Sühne, ein dünnes Buch übers Reiten, mehrere Jugendromane, ein französisches Wörterbuch und die Biographie von Johnny Depp.
-Bist du sicher, dass du das alles brauchst? -fragte der Vater, nicht ohne leichte Skepsis in der Stimme, als er den vollen Korb in den Händen der Tochter sah, die jetzt auch noch den zweiten nehmen wollte.- Vergiss nicht! Das kostet alles Geld! Und nebenbei bemerkt: Du spielst Geige, gehst regelmäßig reiten und nimmst noch Ballettunterricht. Wann willst du das alles schaffen? Hast du denn überhaupt Zeit dafür? - brachte er weitere Fakten auf.
-Keine Sorge! Das schaffe ich schon Papa! So viel ist das hier doch gar nicht! Bitte! Bitte! Jetzt komm schon Papa. Höre mir doch bitte zu! Die Notenhefte brauche ich für den Unterricht. David Garret ist mein Idol. Und Die Göttliche Komödie muss man einfach gelesen haben! – begann die Tochter sofort die Gegenargumente für den Kauf aufzuzählen, voll bemüht die pragmatischen Zweifel ihres Vaters zu zerstreuen.

„Anstatt sich zu freuen, so eine wissbegierige und vernünftige Tochter zu haben, zerbricht sich der Mann hier noch den Kopf „“- dachte er, während er die beiden beobachtete.
Als würde der Vater im gleichen Moment seine Gedanken erraten, gab er dem Wunsch des Mädchens schließlich doch nach.
-Also gut! Gib mir deinen Korb rüber! - verkündete er großzügig.
Die Augen des Mädchens blitzten vor Freude auf.
-Danke Vati! Ich wusste es! Du bist der Beste! Ich liebe dich! -rief sie jubelnd.
Diese kindische Gefühlsduselei bei einem recht erwachsenen Mädchen im Beisein von Fremden war dem Vater irgendwie peinlich.
-Jetzt übertreib es nicht! - sagte er leicht verlegen während er nach der Geldbörse in seiner Jackentasche suchte.- Aber deine Einkäufe trägst du bitte selbst zum Auto! - fügte er mit Scheinstrenge noch schnell dazu!
Er behielt wohl gern das letzte Wort.
XXX
Die Menschen kauften Bücher und legten sie auf die Waage. Kleine und große Stapel, die jeder für sich, unbedeutend waren, in der Summe jedoch eine Menge ausmachten. Genau wie die Beträge, die sie zum Schluss fast schon im Fließband-Tempo einnehmen mussten. 5,10,15,20 Euro, in Papierscheinen oder Münzgeld. Er stellte zufrieden fest, dass einige Bücherstände sich bereits zu lichten begannen. Am meisten freute ihn jedoch etwas anderes. Die Kinder.
Die aufgeregten Gesichter von Jungen und Mädchen, die in den Bergen von Büchern begeistert stöberten, ihre Funde den Eltern und Gleichaltrigen stolz zeigten und sich auf ein Abenteuer freuten, das mit dem erworbenen Buch zu Hause auf sie wartete. Jede Kinderseele, die man heute und jetzt fürs Lesen gewonnen hatte. Kleine Menschen, die mit dem ersten Buch die Magie und das Licht des gedruckten Wortes in ihr Leben reinließen und für die Welt der Unwissenheit, Dummheit und Ignoranz verloren gingen. Allein dafür waren die Zeit und Arbeit hier Gold wert.
Und er selbst wurde auch um eine neue Erkenntnis reicher. Jeder dieser Menschen auf der Börse, ganz egal ob Jung oder Alt, nahm das Glück auf seine Art wahr. Für einen bedeutete es Glück, Homers Odyssee oder das archäologische Bildlexikon zur Geschichte und Kultur Mesoamerikas nach Hause mitnehmen zu können. Der andere freute sich über die Gelegenheit, für etwas Klimpergeld sich mit frischen Thrillern und Krimis für den bevorstehenden Sommerurlaub zu versorgen. Dem dritten fehlte vielleicht nur noch der Ratgeber Wespenstich und Knochenbruch- Sofortmaßnahmen bei Erkrankungen, Unfällen und Vergiftungen im Haushalt, in der Freizeit und im Verkehr zum vollkommenen Glück. Aber glücklich- das waren sie alle.
Als er heute Morgen losgefahren war, hatte er sich schon Mal darauf eingestellt, dass die Zeit im Einsatz sich möglicherweise in die Länge ziehen würde, was durchaus normal gewesen wäre, wenn man mit einer dermaßen spannungsarmen Aufgabe betraut ist, wie anderen Menschen beim Stöbern zu zuschauen, Geld annehmen, hin und wieder etwas nachlegen und war jetzt schlicht weg überrascht, als er plötzlich hörte, wie die Mitarbeiter nebenan den Kunden mitteilen, dass die Bücherei in wenigen Minuten schließt. Die drei Stunden waren wie im Flug vergangen. Und das Schönste daran war, er hatte die überhaupt nicht gemerkt.
Und kurze Zeit später, schon in der warmen Straßenbahn und mit einem spannenden Buch am Fenster sitzend, ließ er den heutigen Tag im Kopf erneut Revue passieren und fühlte sich im gleichen Augenblick wieder von einer Welle Euphorie und Befriedung erfasst. Herzenswärme und Nächstenliebe strömten aus ihm heraus. Er fühlte sich gut. Außerordentlich gut.
Es war ein sehr schönes Gefühl für ihn den ganzen Tag mit Freude zu beobachten, wie große und kleine Menschen für etwas Kleingeld sich heute ein Stück vom Glück nach Hause mitnahmen. Hier den Alltag vergaßen und ihre Herzenswünsche erfüllten. Zu wissen, dass ein solcher Ort tatsächlich existiert. Nicht im Weltall, nicht im Paradies, sondern hier, auf der Erde. Ein Ort, wo Glück plötzlich aufhört ein abgedroschenes Wort der Philosophen für etwas Abstraktes und Undefinierbares zu sein und sich wie durch einen magischen Trick in etwas ziemlich Reales und Konkretes verwandelt. Sich mit den Händen berühren, physisch messen und praktisch mitnehmen lässt. Und dass er auch dort zu Besuch war, sich nach diesem Ort sehnte und beim nächsten Mal wieder dorthin zurückkehren würde. Dort wo es Glück zum Kilopreis gibt…

Ende
Roman Dell

03.03.2021-31.05.2021
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Re: Roman Dell

Beitrag von zuzu »

Weihnachten ist noch gar nicht da, und doch gibt es in Gelsenkirchen bereits etwas Schönes zu feiern. Ein kleines oder vielleicht doch ein großes Jubiläum. Die Gelsenkirchener Geschichten sind 15 Jahre alt geworden. Am 24.11.2021, um es genau zu nennen. Gemessen an der allgemein kurzen Lebensdauer der meisten Plattformen und Foren des World Wide Webs Universums sind 15 Jahre so etwas wie eine digitale Ewigkeit. Als ein, nur durch Spenden und ehrenamtliche Arbeit, betriebenes Informations- Portal eine Vielzahl anspruchsvollen, kritischen und informierten User und Nutzer über Jahre „bei der Stange“ zu halten ist in jeder Hinsicht eine beeindruckende Meisterleistung. Seit Februar 2014 bekam ich die Möglichkeit meine Kurzgeschichten den GG-lern hier zu präsentieren und bin sehr froh und glücklich darüber.
Ich wünsche den Gelsenkirchener Geschichten und ihren enthusiastischen und kreativen Gründern, die seitdem unermüdlich die Spuren, Geschichte und Kultur unserer Stadt mit viel Herzblut und Zeitaufwand pflegen, zusammentragen und sichern, weiterhin viel Erfolg, Elan, Kraft, Inspiration und Ausdauer, sowie neue Projekte und interessante Themen, die diesem Portal die Beliebtheit und Aufmerksamkeit der Gelsenkirchener brachten.
Als ich vor 7 Jahren hier meine erste Geschichte „Deutsche Sprache“ veröffentlichte, könnte ich nicht ahnen, dass das das Thema der Erzählung für die Jubiläumsausgabe – eine Corona-Kurzgeschichte sein wird, ausgelöst durch aktuelle Ereignisse. Und doch entspricht das irgendwie genau dem Zweck und Sinn eines solchen Portals- möglichst viele unterschiedliche, (auch kontroverse, problematische oder bizarre) Themen, Geschichten, Meinungen und Erlebnisse zu sammeln und in sich zu vereinen, die in ihrer Gesamtheit dann so etwas wie historische Chronik unserer Stadt bilden.


Im falschen Film

XXX
Jeden Morgen wirft mein Wecker mich um halb sechs aus dem Bett raus. Ich stolpere schlaftrunken ins Badezimmer, mache mich dort schnell frisch und schalte die Kaffeemaschine in der Küche ein. Das Aroma des frischgebrühten Kaffees erweckt mich zum Leben. Und gut schmecken tut die Plörre auch. Dann noch ein schnelles Frühstück und schon bin ich draußen und latsche brav in Richtung Haltestelle. Um diese Uhrzeit ist die Straße noch menschenleer. Nur ganz selten rast ein einsames Auto, wie eine russische Weltraumrakete, an mir vorbei und verschwindet spurlos in der Dunkelheit.
Mein täglicher Weg führt an einer Reihe Wohnhäuser vorbei. In manchen von ihnen brennen Lichter. Dort sind Menschen. Ich erkenne ihre Umrisse und Silhouetten durch den dünnen Stoff der Gardinen. Sie sind beschäftigt. Sie machen Frühstück, trinken Tee, rauchen Zigaretten, lesen Zeitung oder schauen Nachrichten. Ihr Tag fängt, genau wie meiner, gerade an. Ich finde das Leben von Fremden faszinierend. Es liefert die besten Ideen und Geschichten. Der Schriftsteller in mir würde am liebsten sofort stehen bleiben und sie eine Weile beobachten, aber dafür fehlt mir die Zeit. Ich muss pünktlich zur Arbeit. Die irdische Welt verlangt nach mir.
Ich laufe weiter, immer weiter, lasse türkischen Mini-Market, Getränkekiosk, Autowerkstatt und leeren Marktplatz hinter mir zurück und nähere mich dem neonblauleuchtenden Sonnenstudio. Noch ein paar Meter, dann habe ich es geschafft. Die Bahnhaltestelle ist gleich um die Ecke. Meine kleine, bescheidene Welt, alles so heimisch, unverändert und vertraut… bis die Gestalt eines Fußgängers aus der Dunkelheit auftaucht…
Genau betrachtet ist das eine sie. Das Mädchen trägt eine hellgraue Strickmütze und eine dunkelblaue Wellenstein-Jacke und rennt kopflos durch die Gegend. Vermutlich ist sie auch spät dran wie ich. Ihr Blick ist zum Boden gerichtet und doch sehe ich es sofort… sie trägt eine Maske. Als sie mich viel zu spät bemerkt und wir fast miteinander kollidieren, bleibt sie vor Schreck kurz stehen und läuft hastig und gereizt an mir vorbei, als wäre ich die Pest oder ein Gespenst. Und dann erlebe ich es nur wenige Meter weiter wieder...
Diesmal sind das die fröhlichen Handwerker eines Malerbetriebs, die ihre Eimer mit Farbe in den Firmenwagen aufladen. Sie gehen nicht erschreckt an mir vorbei, wie das Mädchen es vorhin tat, doch auch sie tragen Masken. Und ich selbst übrigens auch. Und in diesem Augenblick wird mir etwas bewusst, was ich bis dahin fast schon vergessen hatte: Es ist doch nicht dieselbe Welt wie früher. Etwas hat sich verändert. Sie ist da: Die PANDEMIE.
XXX
Seit dem Beginn der Corona-Pandemie bekomme ich immer wieder das Gefühl, im „falschen Film“ zu sein, auch wenn einige Freunde von mir meinen, dieser Vergleich wäre so etwas von zu weit hergeholt und dass ich einfach zu viel phantasiere. Das passiert mir jedes Mal, wenn die Corona-Regeln verschärft werden und man in den Medien sofort von einem nächsten Lockdown spricht und spekuliert. Und manch einem von euch geht es vermutlich genauso wie mir. Die Corona ist nervig. Dieses heimtückische Virus aus dem Reich der Mitte hat das Leben der Menschen auf dem gesamten Planeten verändert. Und zwar in allen Schichten und Bereichen der Gesellschaft. Das wurde mir beim Blättern in der regional bekannten Tageszeitung klar, als ich dort eines Morgens viele kleine und große Fotos sah die, unabhängig vom Land oder Thema der Berichtserstattung, trotzdem eines gemeinsam hatten: Jeder Mensch darauf trug eine Schutzmaske. Die Schutzmaske. Eine Warnung und das Symbol der neuen Krankheit. Am Anfang noch ziemlich befremdlich, fast grotesk und inzwischen völlig normal und nicht mehr aus dem Alltag weg zu denken. Etwas Vorübergehendes das zum Dauerhaften wurde.
Ich halte das nicht für übertrieben, sondern für eine Tatsache. Überall wo man hinschaut, sieht man jetzt Menschen mit Maske. Man trägt sie in den öffentlichen Gebäuden und Geschäften, beim Bäcker und Metzger, in der Arztpraxis, in der Bank, im Fitnessstudio oder im Kino und wenn der Inzidenzwert (wie jetzt), weiter rapid steigt … leider bald auch wieder auf der Straße. Die Maske ist allgegenwärtig und nicht zu übersehen. Anders als zu Beginn der Pandemie ist sie auch keine Mangelware mehr, sondern ein notwendiges Zubehör und wird in allen Läden und Shops angeboten. Früher habe ich mir gern die Gesichter der Fahrgäste in der U-Bahn angeschaut und dabei ihre Mimik und Gemütsstimmung studiert. Ihre Gespräche belauscht. Jetzt starre ich beim Fahren nur noch auf die, stumme, gesichtslose Masse, während die kratzige Stimme der Sprechanlage ihre Botschaft: „. Liebe Fahrgäste! Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass in den Bussen, Bahnen, und an den Bahnhöfen und Haltestellen die Pflicht zum Tragen einer medizinischen oder FFP2 Maske besteht“ zum X- Mal wiederholt.
Corona hat nicht nur unseren Alltag verändert. Sie hat die Menschheit obendrein auch noch ihres Lächelns, ihrer Identität und Individualität beraubt. Denn mit der Maske sehen wir alle irgendwie gleich aus. Kaum mehr voneinander zu unterscheiden. Und ich habe auch schon bei dem einen oder anderen guten Freund für jede Menge Ärger und Verwirrung gesorgt, wenn ich ihn aus der Nähe nicht erkannt und begrüßt habe, obwohl ich mich sonst nicht über schlechte Sehkraft oder schwaches Gedächtnis beklage.
Was soll‘s! Selbst an der fröhlichen Glitzerwelt der Werbung ging Corona nicht einfach spurlos vorüber. Auch sie musste sich der Macht der neuen Plage beugen und auf die Umstände reagieren. Die immer glücklichen und makellos aussehenden, weiblichen und männlichen, Models, die im Auftrage der Deutschen Bahn für ein sicheres und komfortables Reisen Deutschland und Europaweit werben, tragen auf den Werbeplakaten ab sofort auch eine Maske.
Ich habe mich an die Maske gewöhnt. Das mussten wir alle irgendwann mal. Ich finde ihre Präsenz in unserem Leben notwendig, aber keineswegs natürlich. Sie ist und bleibt nur eine Schutzmaßnahme- aber niemals Normalität. Eine einzelne Maske weckt bei den Menschen Neugier aber ist kein Anlass zur Sorge. In der Masse wirkt sie jedoch unheimlich und apokalyptisch. Zumindest auf mich. Jedenfalls haben die Zeitungsbilder an diesem Morgen mich ziemlich sehnsüchtig und traurig gemacht. Ich musste danach sofort daran denken, wie gut wir es eigentlich die ganze Zeit hatten…
XXX
Bis vor Kurzem führte jeder von uns ein gewöhnliches Leben. So völlig normal und unspektakulär, so dass man es mit Recht für Routine und nichts Besonderes hielt. Wir fuhren zur Arbeit, machten Einkäufe, aßen im Restaurant, flogen in den Urlaub, bekamen Besuch, gingen zum Fußball, ins Kino oder auf ein Konzert, schenkten Umarmungen, schüttelten Hände und haben es nie für möglich gehalten, dass uns alle diese selbstverständlichen Dinge im Nachhinein wie ein unbeschreiblicher Luxus erscheinen würden: Das Leben ohne Maske. Das Leben ohne Abstand. Das Leben, in dem es Lächeln, Küsse, Kuscheln und Zärtlichkeiten gab. Und keine Angst vor der Nähe.
Wenn uns damals jemand gesagt hätte, dass diese Tage des unbeschwerten Daseins bald vorbei sein würden, dass etwas, was wir alle bis jetzt nur aus Hollywood-Blockbustern oder Science-Fiction-Romanen kannten – die Bedrohung der Zivilisation durch ein gefährliches Virus –uns eines Tages im wahren Leben treffen und alle Menschen der Erde über Nacht in Statisten verwandeln würde, in einer Reality-Soap, von der niemand das ganze Drehbuch vollständig kennt, hätten wir ihm niemals geglaubt und ihn sofort für verrückt erklärt. Und was nun? Vielleicht ist der „falsche Film“ in diesem Sinne dann doch nicht ganz falsch?
Dabei ist das Ganze noch gar nicht so lange her. Knapp zwei Jahre. Zwei Jahre, seitdem das Virus uns und unser Leben verändert hat. Vielleicht war es absehbar, dass bald etwas passiert. Nur dass wir die Zeichen des anbahnenden Unheils damals für uns nicht richtig zu deuten wussten. Als im April 2019 die Seele Frankreichs – Notre Dame de Paris plötzlich in Flammen stand, schoss mir, warum auch immer, sofort dieser frevelhafte Gedanke durch den Kopf, dass die Menschen im Mittelalter nach einem solchen Ereignis wie dieses normalerweise allen Grund zur Sorge hatten. Für gewöhnlich kamen danach fast immer Hungersnot, Seuche oder Krieg. Und habe mir nichts dabei gedacht. Ja, wirklich. Ich lachte darüber. Schließlich sind wir doch alle moderne Menschen. Also was sollte dieser blöde Aberglaube! Und acht Monate später kam… Corona. Das hat mein atheistisches Weltbild ganz schön ins Schwanken gebracht.
Was haben wir alle seitdem nicht schon erlebt: Geschlossene Schulen, Universitäten, Bars, Friseursalons, Hotels und Gastronomie, Sporthallen, Kinos, Theater, Museen und Bibliotheken, menschenleere Fußgängerzonen, Straßen und Einkaufszentren, kaum Staus und unbesetzte Parkplätze, halbvolle Züge, U-Bahn und Busse und nur wenige Reisende und Besucher auf den Bahnhöfen, abgesagte Veranstaltungen, stornierte Urlaubsreisen, Picknick-, Grill- und Verzehrverbote, zwei Lockdowns, Boris Johnson auf der Intensivstation, Bundeskanzlerin Merkel in der Quarantäne und sich dauernd ändernde Corona-Auflagen und Kontaktbeschränkungen.
Wir haben gelernt beim Betreten eines Ladens sofort einen Warenkorb oder Einkaufswagen zu nehmen und auf die grellen Distanzstreifen vor der Kasse zu achten, in den Ellbogen zu niesen und uns die Hände zu waschen, sobald man etwas angefasst hat.
Wir mussten uns an die langen Warteschlangen vor Geschäften, Arztpraxen und Behörden gewöhnen und lernen ruhig und geduldig zu sein.
Wir machten die Mangelware-Erfahrung jedes Ostdeutschen, wenn man Nudeln, Reis, Mehl, Zucker oder Milch im Laden kaufen wollte und stattdessen nur die leeren Regale sah.
Wir haben die Seifen-, Hygieneartikel- und Toilettenpapierkrise überstanden.
Wir haben entdeckt, dass Fußballspiele und Konzerte im Stadion ohne Zuschauer stattfinden können und Schulunterricht und Büroarbeit auch übers Internet funktioniert.
Wir haben im Lockdown tagelang unsere Wohnungen nicht verlassen. Die einen von uns hatten plötzlich frei und endlich Zeit für die Familie. Die anderen haben ihre Familien und Existenzen verloren.
Unser bereits schon zum Schreien mit Englisch vollgestopftes Deutsch wurde um einige neue Wörter ergänzt, die uns die Pandemie nach und nach in den Mund legte: Lockdown, Shutdown, Social Distancing, Homeoffice, Homeschooling oder ein paar Hashtags wie -S t o p C o r o n a V i r u s. S t a y H o m e. S t a y S a f e oder W a s h Y o u r H a n d s, mit denen die vielen User ihre Profilseiten auf Facebook wochenlang schmückten. Trotzdem hatten wir Deutsche mehr Glück als die anderen. Die langen Leichenkonvois wie im italienischen Bergamo oder die Triage-Praxis in den französischen Krankenhäusern blieben unserem Land, Gott sei Dank, erspart.
Und ein guter Lehrer war die Pandemie auch. Sie hat uns sehr viel über die Welt und das menschliche Wesen offenbart. Viel Schönes und auch Unschönes.
Zum Beispiel, dass es viele selbstlose Menschen unter uns gab, die mit den Freunden und Nachbarn, die keine Seife, Desinfektionsmittel oder Toilettenpapier im Laden bekamen, ihre knappen Vorräte teilten. Und nicht weniger viele egoistische Kreaturen, die damit ihre Einkaufswagen über Bedarf vollstopften, ohne Rücksicht auf die Schwachen, um die begehrten Mangelgüter zu Hause zu lagern (und die besonderen Schlaueste unter ihnen, um diese später im Internet zu Wucherpreisen anzubieten), und dabei jegliche Scham, Benehmen und Anstand vergaßen, so dass manche Verkäufer bald laut schimpfend sich wünschten, dass die Kunden endlich wieder Menschen werden statt Raubtiere zu sein.
Aber nicht nur die Menschen, auch die Staaten benahmen sich daneben. Wir waren Zeugen des Wettkampfs um Impfstoffe, bei dem die Leistung des Rivalen bei jeder Gelegenheit verunglimpft wurde, meist politisch, weniger wissenschaftlich begründet, statt Differenzen beizulegen und als Weltgemeinschaft gegen das Virus gemeinsam zu kämpfen. Wir haben erlebt, wie Nationen die man bis dahin für Galionsfiguren der Demokratie und moralische Messlatte schlechthin hielt, den anderen Ländern Container mit den bestellten Masken unter der Nase wegschnappten, als der plötzliche Mangel den Markt weltweit beherrschte und die Presse diese Dreistigkeit diplomatisch als „Konkurrenzkampf“ bezeichnete, statt sie schonungslos zu verurteilen. Und autoritäre Regime, die unerwartet ihre Hilfe, Personal und Masken flugzeugweise den anderen anboten. Sachen gibt’s. Ihr glaubt das nicht.
Corona hat die Welt neu gestaltet. Selbst da, wo man damit zunächst gar nicht gerechnet hatte. Bei der Art der Delikte in der Kriminalstatistik zum Beispiel, die im Lockdown oft wie ein Auszug aus einem lustigen Comic-Heft klang. An Stelle der üblichen Überschriften wie" Ein aggressives Duo raubt Jugendlichen Handy und Portmonee“ oder „Seniorin beim Geldabheben an der Sparkasse beklaut“ sahen die Schlagzeilen für „neue“ Verbrechen in der Zeitung dann etwa so aus: " Gegen Kontaktverbot verstoßen. Minderjährige Fußballer joggen zu dritt. Taschengeld für fast ein Jahr weg“, „Polizei stoppt Geburtstagsparty mit 17 Gästen“ oder „Corona: Mindestabstand 50 Meter nicht eingehalten. Paar bekommt 400 € Strafe fürs Eis essen auf der Sitzbank“. In Vor-Corona- Zeiten wären uns solche Meldungen absurd und bizarr vorgekommen. Nicht jetzt. Die Pandemie machte sie zur Wirklichkeit.
Nach anfänglichen Schwierigkeiten nehmen die meisten Menschen die Sache mit dem Virus inzwischen ernst. Viel ernster als vorher. Und sie halten sich im Großen und Ganzen an Regeln, wenn auch nicht immer und auch nicht immer freiwillig. Als der Impf-Bus letzte Woche bei uns in der Altstadt Halt machte, konnte man trotzdem nirgendwo mehr auf dem Heinrich- König- Platz einen Fuß setzen. Alles dicht und proppenvoll.
Wir haben gelernt mit Corona zu leben und ihr sogar entgegen zu wirken. Sie stiehlt uns Lächeln und Gesicht? Gut! Wir dekorieren damit unsere Masken. Wir dürfen uns die Hände nicht mehr schütteln? Gut! Dann grüßen wir uns eben, indem wir unsere Ellbogen gegenseitig berühren. Corona sperrt uns zu Hause ein? Gut! Wir erschließen digitale Wege. Und ein neuer Impfstoff soll bald auch kommen. Das habe ich gehört. Der Mensch hat sich nicht umsonst im Kampf der Evolution als Sieger erwiesen. Er ist zäh, gibt nicht so schnell auf und bastelt immer an einer Lösung.
Inzwischen können wir über Corona sogar lachen und nehmen die Umstände und Einschränkungen zwar genervt aber dennoch mit Humor hin. Neulich habe ich im Internet einen Online-Shop entdeckt, der T-Shirts und Mundmasken mit der Aufschrift „Willkommen im falschen Film“ in allen möglichen Größen und Farben zum Kauf bietet. Ich weiß nicht, ob sie dabei speziell an Corona gedacht haben, oder den Spruch nur so drauf druckten, weil der so cool klingt. Wenn das erste stimmt, dann haben die Jungs echt Humor. Das muss man sagen. Das Netz ist voll von Corona-Witzen und irgendein respektloser Witzbold wagte sich sogar an meinen literarischen Gott Goethe heran und schrieb seinen Erlkönig lockdownmäßig und coronakonform frech um, der jetzt wie folgt klingt:

„Wer hamstert so spät durch die Nacht und Wind
Es ist der Deutsche der wieder spinnt.“
.
Und wir streiten uns auch wegen der Corona. Sogar heftig. Dieses Thema hat das Land in zwei Lager gespalten. Eine Trennung, die ich in meinem privaten Umfeld auch gerade erlebe. Ein alter Freund von mir hat sich aus einem vorbildlichen Westdemokraten in einen erbitterten Regimekritiker verwandelt. Er findet, dass durch derzeitige Corona-Beschränkungen und repressive Impfpolitikmethoden Deutschland auf dem sicheren Weg ist, sich zum klassischen Überwachungsstaat wie China oder die ehemaligen Sowjetunion und DDR zu entwickeln und unter dem Deckmantel der Fürsorgepflicht und des Gemeindewohls die Grund- und Freiheitsrechte der Bürger schleichend aushebelt und die Pandemiebekämpfung zu einem Kampf der Gerechten gegen Ungerechte, Geimpfte gegen Ungeimpfte, brave Befürworter gegen rechte Querdenker bewusst macht, so dass es praktisch unmöglich ist, sich über dieses Zündstoffthema öffentlich und sachlich zu unterhalten, wenn man eine andere Meinung als die Mehrheit vertritt, ohne dabei sofort als Corona-Leugner, Verschwörungstheoretiker oder Impfverweigerer gebrandmarkt zu werden, obwohl man eigentlich nur unsicher und skeptisch ist und er startet eine Internet-Protestpetition nach der anderen, um diesem schädlichen „Diktatur-Trend“ dagegen zu steuern.
Eine andere flüchtige Bekannte, mit einem leichten Hang zum Sozialismus, die sich bis vor kurzem gegen die Nazis und für mehr soziale Gerechtigkeit für alle im Netz stark gemacht hat und sonst nur selten gute Worte für die Politik der Kanzlerin findet, hält die Maßnahmen dagegen für absolut richtig und versucht in ihrem Blog an die Vernunft der Menschen zu appellieren und die Unentschlossenen zur Impfung zu motivieren. Die Beiden haben praktisch die Rollen getauscht.
Meine Meinung zur Pandemie ist philosophisch. Vielleicht war die Corona einfach nötig, um uns etwas Wichtiges vor Augen zu führen, dass wir selbst nicht im Stande waren zu sehen: Dass wir die ganze Zeit die materiellen Werte höher als das Leben selbst stellten. Und wir erst, nachdem man uns die Freude einer Umarmung, ein warmes Lächeln, die ausgestreckte Hand, das unbeschwerte Gespräch mit Freunden, den Besuch bei Oma und Verwandten, oder auch die Arbeit, all das was man bisher arrogant und selbstgerecht für Alltagsroutine und Selbstverständlichkeit hielt, komplett wegnahm, erst dann, auf bittere Art verstanden haben, wie fade das Leben ohne das alles schmeckt, was darin wirklich wichtig ist und dass das alles andere als selbstverständlich ist. Dass die Macht der Technik uns überheblich glauben ließ, dass wir allmächtig und unverwundbar wären und das immer wieder mutierte Virusmolekül uns schonungslos auf den Boden der Tatsachen zurückbrachte.
Ich schalte den Fernseher aus und werfe schnell einen Blick in den Kalender an Wand. Es sind noch knapp dreißig Tage bis Weihnachten. Die vierte Welle rollt auf Deutschland zu. Das hat die Tagesschau gerade berichtet. Die Zahlen steigen, die Lage in den Krankenhäusern ist angespannt, die Bundesregierung tut was sie kann und wir haben jetzt wieder ein paar neue Regeln mehr zu befolgen. Ich habe mir trotzdem vorsichtshalber gestern eine Flasche Sekt für den Eltern-Besuch im Supermarkt gekauft. Vielleicht bleiben die einsamen Feiertage und der Lockdown uns doch noch erspart. Man darf die Hoffnung niemals verlieren. Das möchte ich jetzt gerne auch an euch weitergeben und sage hier:“ Habt Verständnis und haltet durch! Lasst euch nicht durch Corona die magische Weihnachtsstimmung im Herzen verderben. Nichts ist ewig. Vergesst das nicht. Auch ein“ falscher Film“ nicht. Der ist auch irgendwann Mal zu Ende! „
Ende
Roman Dell
07.11.2020. -20.11.2021
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Re: Roman Dell

Beitrag von zuzu »

Was tut ihr, wenn im Fernsehen gerade die Werbung läuft? Geht ihr zum Fenster eine rauchen? Macht ihr euch einen Teller Snacks voll oder holt ein frisches Bier aus dem Kühlschrank? Was mich betrifft, ich überbrücke die Wartezeit mit einem kurzen Abstecher in den Club. Der Club der sehnsüchtigen Männer. Und ich lade euch ein mir zu folgen.

Der Club der sehnsüchtigen Männer
(Erzählung)
Die Sehnsucht ist es, die unsre
Seele nährt und nicht die
Erfüllung.
Arthur Schnitzler
XXX

Während die meisten Menschen Werbepausen dafür
nutzen, sich ein paar neue Snacks oder Getränke aus der
Küche zu holen, blättere ich lieber in einem Buch, sehr zum
Ärger und Unmut meiner allsehenden Frau, die sofort von mir
wissen will, wo ihr untreuer und nachlässiger Gatte schon
wieder verbleibt, wenn ich länger als zwanzig Sekunden aus
ihrem Blickfeld verschwinde.
- „Das kann doch nicht wirklich dein Ernst sein,
JETZT mit dem Lesen anzufangen! Warum können wir nicht,
wie alle normalen Paare, wenigstens einmal im Leben, den
Film zusammen genießen? Immer muss ich dich mit deinen
Büchern teilen. Verdammt nochmal! Du sollst auf der Stelle zu
mir zurückkommen, sonst... Meine Geduld ist nicht
unbegrenzt!“ ruft sie laut und wütend aus dem Wohnzimmer.
Ich nehme ihre Klagen und Drohungen ernst. Recht hat
sie, die Arme! Meine Liebe zu Büchern ist wirklich obsessiv.
Ich leide an Tsundoku in fortgeschrittener Form. Würde man
die von mir gelesenen Autoren und die Protagonisten ihrer
Bücher als Freunde bezeichnen, so zählte unser
siebenundfünfzig Quadratmeter großes „Liebesnest“ fast
zweitausend von ihnen, alle schön in drei Reihen auf acht
Hochregalen im Flur verteilt, und diese riesige „Bücherwand“
über meinem Kopf wäre dann so etwas wie ein „Club“. Ein
Club, in dem ich sie treffe und begrüße: die weltberühmten
Politiker, Krieger, Staatsmänner, Feldherren, Helden, Dichter,
Philosophen, Künstler und Schriftsteller.
Die meisten kenne ich seit meiner Kindheit oder
Jugend. Andere kamen erst später dazu. Doch ich liebe sie
alle gleich. Sie sind meine Lehrer und Vertrauten und haben
alle Phasen meines Lebens begleitet, von einem fröhlichen
Schulknaben bis zum Jüngling mit dem schwermütigen Blick,
der sich inzwischen in jenen stämmigen Mann Mitte vierzig
verwandelt hat, der euch diese Geschichte hier gerade
erzählt. Welche Geschichte? Keine Sorge! Ihr habt noch
nichts verpasst. Ich werde euch meine Gäste und Mitglieder,
nach und nach, persönlich vorstellen.
Etwas möchte ich euch über meine Freunde allerdings
jetzt schon verraten, damit ihr versteht, worum es hier geht.
Sie sind krank. Ernsthaft krank. Sie leiden alle an der gleichen
Krankheit, die weltweit als unheilbar gilt und mich ebenfalls
vor Jahren befiel, als ich zum ersten Mal die Seiten eines
Buches berührte und ihr die Türen zu meiner Seele öffnete: -
Der Sehnsucht. Sie ist es, die dafür gesorgt hat, dass die
Lebenswege dieser Herren und der meine sich durchkreuzten
und wir Freundschaft auf Lebenszeit geschlossen haben.
Diese Bücherwand zu unserem Zuhause machten. Einem
Club der sehnsüchtigen Männer, in dem sie alle ihre
Sehnsüchte untereinander und mit mir teilen. Jetzt kennt ihr
auch unser Geheimnis.
Die sehnsüchtigen Männer? Nie etwas davon gehört?
Wie schade, denn das ist keine Übertreibung. Das Schreiben
hat in der Tat sehr viel mit der Sehnsucht zu tun. Genau
genommen, ist sie die stärkste Motivation überhaupt und setzt
Worte und Bilder in Bewegung. Die Sehnsucht. Dieses
brennende Verlangen, dieser schmerzliche Drang und diese
unstillbare Trauer des Herzens nach Orten, Personen,
Gefühlen, Ereignissen, Zielen, Zeiten oder Idealen, die in
unserem Leben nicht mehr zurückkehren werden oder für
immer unerreicht bleiben, weil dies der Natur der Dinge in der
realen Welt entspricht. Das illusorische Streben nach
absolutem Glück, ewiger Liebe, Unsterblichkeit und
Gerechtigkeit gehört ebenfalls dazu. Ein bedauerlicher
Umstand, der nicht zu ändern ist und die Menschheit im
Allgemeinen daran hindert, ein sonst erfülltes und
harmonisches Leben zu führen, und uns Schriftsteller dazu
verleitet, diese Sehnsüchte und Begehren immer wieder zum
Ausdruck zu bringen, um die eigene Seele vom Frust zu
entlasten und so dem Unerreichbaren ein Stück näher zu
kommen, auch wenn es nur auf dem Papier geschieht.
Doch seien Sie nicht zu voreilig damit, meine
Zunftbrüder und mich sofort zu bemitleiden. Uns als nutzlose
„Träumer“ oder elende „Jammerlappen“ zu beschimpfen.
Diese Schwermut ist „gewollt“. Ein „wahrer“ Schriftsteller ist
nur selten ein glücklicher Schriftsteller. Denn mit dem Glück
ist das ähnlich wie mit dem Übergewicht. Es tut einem
Schriftsteller einfach nicht gut und macht ihn auf Dauer nur
stumpf und träge. Es mag für euch deshalb jetzt etwas schwer
nachzuvollziehen sein, aber wir- Künstler können nicht ohne
Sehnsucht. Sie ist unser Gewissen, unsere Muse und eine
Berufskrankheit. Und wie jede Krankheit hat auch diese
unzählige Arten und Erscheinungsformen, die das Leben und
Werk meiner Freunde prägen und bestimmen. Jetzt fange ich
wirklich an.
XXX

Für gewöhnlich bin ich zwei Mal am Tag im „Club“.
Morgens, bevor es zur Arbeit geht, und abends nach der
Tagesschau, wenn im Fernsehen die Spielfilme oder Serien
beginnen. Ich weiß nur selten, mit welchem „Mitglied“ ich mich
heute unterhalten möchte, und entscheide mich fast immer
aus dem Bauch heraus. Einer meiner absoluten Lieblinge ist
ein stämmiger Mann mit leicht ergrautem Haar in einer hellen
Leinenhose und einem lockeren Hemd, das auf der geröteten
Brust halb zugeknöpft ist. Er hat einen dichten, weißen Bart
und kräftige Hände, so riesig und haarig, wie die Pranken
eines Bären, mit denen er, leicht gebeugt und
hochkonzentriert, in einem Jägerzelt auf einem großen
Holzlattentisch etwas in seinem Notizblock kritzelt. Dieses Bild
ging um die Welt. Jeder kennt ihn und den Mann darauf
natürlich auch.
Sein Name ist Hem -Ernest Hemingway - und das
Verlangen seiner Seele ist das komplizierteste von allen. Es
ist sehr schwer, es zu beschreiben, und noch schwieriger, es
zu definieren. Seine Sehnsucht nach Glück ist so bunt wie ein
strahlender Regenbogen und so groß wie alle Gewässer der
Welt zusammen. Und unstillbar ist sie natürlich auch. Meinem
Leidensgenossen Hem mangelts es an allem: Leben, Liebe,
Frauen, Abenteuer, Heldentaten, Bewunderung und
Anerkennung. All dies hat er bereits, doch für seinen
Geschmack viel zu wenig. Er braucht mehr. Er will das ewige
Leben und die ganze Welt dazu. Das reicht ihm ...fürs erste.
Vor kurzem sah ich ein Posting auf Facebook, wie
jemand die komplette Werkausgabe Hemingways... in einen
öffentlichen Bücherschrank stellte. Ein Moment des
Entsetzens für die Fans und der Triumph des Glücks für die
Finder. Das würde mir persönlich niemals passieren. Der Hem
ist für mich eine Art von Heiligtum. Doch vor allem ist Hem
mein bester Freund. Aber auch Lehrer, Vaterfigur, Vorbild und
Weggefährte. Er ist roh, dreist, draufgängerisch und
unverfälscht und trotzdem angenehm, intelligent, kultiviert und
gemütlich. Und tut mir gut, wie ein Glas herber Rotwein am
kalten Winterabend vor dem lodernden Kamin... und ihr wisst,
im Wein liegt die Wahrheit. Nein, meinen Freund Hem würde
ich niemals abgeben. Das kommt nicht in Frage.
Der nächste Gast, der seinen Platz bei mir im Regal
einnimmt, ist ein Deutscher aus Osnabrück, der seinen
Namen nach französischer Schreibart führt und die seltsame
Vorliebe besitzt, alle seine Manuskripte immer mit einem
scharf angespitzten Bleistift statt, wie üblich, mit der
Schreibmaschine zu schreiben und diese dann ohne jegliche
Korrektur direkt an die Verleger zu schicken. Dieser Mann ist
der Meister seines Fachs und kann sich deshalb Marotten
dieser Art problemlos leisten. Immerhin hat er den besten
Antikriegsroman in der Geschichte der Weltliteratur verfasst,
wofür man seine Bücher in Berlin damals öffentlich verbrannte
und ihm die deutsche Staatsbürgerschaft für immer entzog,
die er selbst nach der Niederlage der Nazis bis zu seinem Tod
im schweizerischen Ascona nicht mehr zurück erlangte.
Je nachdem, welche Ausgabe ich von ihm gerade in
den Händen halte, erscheint er mir entweder in der Gestalt
eines jungen Mannes, ein Schönling im grauen Dreiteiler, mit
Brillantine, nach hinten gekämmten Haar und einem stechend
traurigen Blick, der an die Tiefen und Abgründe des Ozeans
erinnert, in welche der Autor vor Jahren geraten war und
seitdem nicht mehr an die Oberfläche zurückgefunden hatte
oder eben wie jetzt, als ein alter, charismatischer Herr im
langen, grauen Mantel), Pullunder und Hut, mit fiesem
Lebemannblick und einer deutlich jüngeren Frau an seiner
Seite. Inzwischen müsstet ihr seinen Namen schon längst
erraten haben. Ich nenne ihn trotzdem. Erich Maria
Remarque.
Er sitzt still und starrt nachdenklich vor sich hin. In
seinen Händen hält er ein dickes Kristallglas mit dunkelgelber
Flüssigkeit, sein Lieblingsdrink - ein doppelter Cognac, den er,
wenn er wieder mal knapp bei Kasse ist, nur notgedrungen
durch deutschen Schnaps ersetzen würde - er schrieb sogar
einmal einen satirischen Zeitungsartikel „Über das Mixen
kostbarer Schnäpse. Im Aschenbecher glüht der Überrest
einer dicken Zigarre. Zwei weitere Laster neben seinem
Hauptlaster - selbstbewusste, unabhängige und rebellische
Frauen - die ihm, jedoch nicht seiner Gesundheit, guttun.
Der Mann ist untröstlich. Die Sehnsucht, die ihn plagt,
gilt genauso der leidensvollen wie komplizierten
Liebesbeziehung zu Puma (* der deutsch-amerikanische
Filmstar Marlene Dietrich, diese Göre, die seine Gefühle nur
teils erwidert und mit ihren ständigen Affären Remarque
demütigt und krank vor Eifersucht macht, den Schriftsteller
aber auch nicht gehen lässt), sowie dem geraubten Leben
einer jungen Generation „die vom Krieg zerstört wurde - auch
wenn sie seinen Granaten entkam“, weshalb sein Dasein auf
dieser Welt seitdem nur noch dem Schatten im Paradies
gleicht. Jede Seite, die er je geschrieben hat, ist mit
Sehnsucht und Trauer nach diesem verlorenen Leben
getränkt, das er so gerne gelebt hätte, aber nicht mehr kann,
weil Zynismus und Schmerz der Kriegstraumata ihn daran
hindern, wieder normal und unbeschwert wie andere
Menschen sein zu können.
Er sehnt sich nach der wahren Liebe, treuer
Kameradschaft, sorgloser Jugend, Frieden und einem
unbeschwertem Leben, nach all dem, was ihm durch den
Krieg verwehrt und gewaltsam entrissen wurde. Das Fehlen
der Liebe und jenes nie gelebten Lebens versucht er mit
Alkohol und Exzessen zu kompensieren, seinen
vermeintlichen Schmerzmitteln, die in Wahrheit nur das
Werkzeug seiner Selbstzerstörung sind.
Der kleine Asiat mittleren Alters mit einem
pechschwarzen Bürstenhaarschnitt und dem muskulösen
Oberkörper eines Shaolin-Mönches, der in sich gekehrt an
einer Porzellantasse Grünen Tee nippt, wünscht sich dagegen
nichts lieber als bald... zu sterben. Das Leben und das
irdische Glück interessieren ihn nicht. Sein Begehren ist ein
anderes. Die Todessehnsucht. Der bürgerlichen Welt ist er
besser unter seinem offiziellen Namen Hiraoka Kimitake
bekannt. In die Welt der großen Weltliteratur ist er als Yukio
Mishima eingegangen. Genau wie Mizougushi - sein junger
Protagonist in dem Roman „Der goldene Pavillon“, der in die
Pracht des alten Tempels verliebt ist, von dem ihm sein Vater
einst erzählte, empfindet auch der Autor tiefe Sehnsucht nach
allem Wahren und Schönen. Das Verlangen nach der
absoluten Vollkommenheit in allem, die in der Welt der
Menschen jedoch unmöglich ist, immer unerreicht bleibt, sich
nur zur Last und unerträglichen Qual entwickeln kann, aus
dem einzig der Tod die willkommene Erlösung und einen
Ausgang bietet.
Diese leise Todessehnsucht ist in allen Werken
Mishimas zu spüren und setzte auch seinem eigenen Leben
ein Ende, als er 1970 in Tokio nach einem gescheiterten
Militärputsch, der die Abkehr von der parlamentarischen
Monarchie und Wiedereinsetzung des japanischen Kaisers
zum Ziel hatte, ganz im Stil seiner Protagonisten auf dem
Balkon des Ministeriums, einen rituellen Selbstmord mit einem
Samurai-Schwert beging.
Der junge Mann in der dunkelbraunen Lederjacke und
der blauen Matrosenkleidung, mit großen schüchternen
Augen und irischem Touch, (der auch deutsches und
indianisches Blut in sich trägt und dem ich ordentlich Platz in
den hinteren Reihen des Bücherschranks eingeräumt habe),
hat nicht vor zu sterben. Er hat dem Tod schon öfter ins Auge
geschaut und liebt das Leben, das er auf See und in der
Wildnis zu schätzen lernte. Seine Hände sind rau und grob,
sein Gesicht jedoch offen und freundlich. Man könnte es
beinah schön nennen. Die leicht exzentrische Art seiner
Künstlerkollegen, mit denen ich euch vorhin bekannt gemacht
habe, fehlt bei ihm gänzlich. Er wirkt ziemlich einfach und
bodenständig. Keine Spur von Eitelkeit. Seine Kleidung riecht
nach Schnee, Bergluft, Meer, Salz und Abenteuer. Er könnte
fast als ein Dockarbeiter, Wildhüter, Goldgräber, Matrose oder
Walfänger durchgehen, aber dieser Mann ist ein Journalist
und berühmter Schriftsteller: Jack London.
Ich weiß nicht, welches seiner drei Meisterwerke „Der
Seewolf“, „Martin Eden“ oder „Der Ruf der Wildnis“ mich am
meisten geprägt hat, aber sehr wohl, was das Wesen seiner
Sehnsucht ausmacht. Sie gehört dem Meer, dem
Überlebenskampf, der Natur und der Ferne. Dem unstillbaren
Drang des wissbegierigen Geistes nach Exotischem,
Abenteuern, und Selbsterkenntnis, mit dem er, auch lange
nach seinem Tod, immer neue Generationen von Lesern
ansteckt, zu denen ich mich auch gerne zähle.
Sehnsucht kann auch Heimweh bedeuten. Das habe
ich von Khaled Hosseini gelernt. Dieser nachdenkliche Mann
im hellgrauen Anzug und stylischen Dreitagebart, der mich
vom Buchcover seines Erstlings „Der Drachenläufer“ ansieht,
ein Roman der zum Welterfolg wurde, sehnt sich nach seiner
Heimat Afghanistan in einer Zeit, als es dort noch keine
Sowjets, keine Amerikaner, keine Taliban und auch keine
Mohnfelder gab. Dafür aber viele fröhlichen Kinder, die von
den Lehmdächern der Häuser ihre Drachenläufer in den
Himmel steigen ließen, junge Studentinnen von der
Hauptstadtuniversität, die ohne Kopfbedeckung und im
Hosenanzug mit ihren jungen männlichen Kommilitonen
aufgeregt über Menschenrechte und die Politik im Land
diskutierten und das unvergessliche Aroma des afghanischen
Kebab-Fleisches, für das der Kabuler Markt in ganz Asien und
vielleicht sogar auf der ganzen Welt berühmt ist. Dort ist sein
Herz geblieben, auch wenn er seit seinem zehnten
Lebensjahr in den USA lebt und dort Karriere als Arzt machte.
Der goldhaarige Jüngling in einer weißen Tunika mit
dem Schwert und Schild eines griechischen Hopliten kann mit
dem Heimweh des Afghanen nichts anfangen. Er ist kein
Schriftsteller, und will auch keiner sein, aber ein Bewunderer
von Homers „Ilias“. Sein größtes Vorbild ist Achilles. Er sehnt
sich nach großen Heldentaten und dem Ruhm eines Kriegers
und Feldherrn. Noch lautet sein Name Alexander von
Mazedonien und nicht Alexander der Große, aber er träumt
schon jetzt davon, eines Tages die ganze Welt zu
beherrschen, und hat große Angst, dass sein Vater - der
einäugige König Philip - ihm nichts hinterlassen wird, wenn er
irgendwann einmal selbst den Thron besteigen sollte.
Für den bärtigen Mann in der thrakischen
Kampfrüstung mit einer Fuchsmütze auf dem Kopf ist die
größte Sehnsucht dagegen kein Heldenruhm, sondern der
Traum von der eigenen Freiheit, die er einst auf dem
Schlachtfeld verlor, als er vor Jahren als Krieger im Hilfsheer
der Barbaren an der Seite der Römer gegen die Daker
kämpfte, und später selbst gegen die Herrschaft der Latiner
rebellierte, nachdem sie beschlossen hatten, auch sein Volk
gewaltsam zu versklaven. Das ging nicht gut aus. Die Römer
nahmen ihn gefangen und verkauften ihn an eine
Gladiatorenschule nach Capua, wo man ihm den Namen
Spartacus gab, der ihn und seine Sehnsucht nach Freiheit in
der Weltgeschichte unsterblich machte. Für diesen Luxus hat
er einen stolzen Preis – mit seinem Leben - bezahlt. Aber es
lohnte sich trotzdem. Mit einer Schar Haussklaven und
Gladiatorenkämpfer schaffte er es, aus der Schule
auszubrechen. Als Anführer des aufständischen
Sklavenheeres lebte er mit seinen Kriegern drei Jahre als
freier Mann, und konnte sich gegen die beste Armee des
Altertums erfolgreich zur Wehr setzten, bis die Römer ihn in
der Endschlacht um Rom besiegten.
Wie ihr seht, zählte die Sehnsucht schon immer zum
innigsten Bedürfnis aller Menschen, ob Schriftsteller, Feldherr,
Künstler oder Krieger, ganz egal. So ist der Mensch. Der eine
will nach den Sternen greifen, der andere etwas fühlen oder
erleben, und manchen reicht einfach das häusliche Glück.
Darum heißt die Sehnsucht nicht umsonst das Verlangen der
Seele. Das ist das, was unsere Träume im Alltag am Leben
erhält. Ansonsten möchte ich euch jetzt unbedingt noch etwas
beichten...
XXX

Als ich vorhin von einem Club der sehnsüchtigen
Männer sprach, war ich nicht ganz ehrlich zu euch. Natürlich
gibt es bei uns auch Frauen. Allerdings nicht so viele. Das hat
nichts mit Patriarchat oder Machismo zu tun, sondern ist allein
meinem persönlichen Geschmack geschuldet. Es hat sich so
ergeben, dass die meisten Bücher, die ich in meiner Kindheit
und Jugend gelesen habe und die mich nachhaltig prägten...
von Männern stammten. Das sind Jules Verne, Rafael
Sabatini, Alexandre Dumas, Victor Hugo, Gustave Flaubert,
Prosper Merimee, Robert Louis Stevenson, Mayne Ride,
Henry Ridder Haggard, Lion Feuchtwanger, James Fenimore
Cooper, Boleslav Prus und Heinrich Sienkiewicz. Die übrigen
Herren kennt ihr schon bereits. Aber zwei Frauen, möchte ich
hier unbedingt erwähnen.
Die erste hat... vor 2500 Jahren gelebt. Wenn ihr sie
sehen wollt, müsst ihr euch das Fragment eines erhaltenen
Freskos aus dem verschütteten Pompeji im Museum oder im
Internet ansehen. Das ist das einzige authentische Bild, das
die Welt von ihr besitzt. Die Frau in mittleren Jahren mit dem
feinen Haarnetz aus Gold, das ihr dunkles, lockiges Haar
stillvoll betont. Nicht wirklich schön oder umwerfend, aber mit
angenehmen Gesichtszügen. Sie trägt auffällig schöne und
teure Ohrringe, aber ansonsten keinen anderen Schmuck. In
ihren Händen hält die Griechin vier dünne Wachstafeln und
einen Stift, die damals, neben dem Papyrus, sowohl in Rom
als auch in Hellas zum Schreiben verwendet wurden. Es ist
die Dichterin Sappho. Sie leitete eine Mädchenschule auf
Lesbos, wo sie junge Frauen die bald verheiratet werden
sollten die schönen Künste wie Tanz, Musik, Gesang und
Poesie aber auch Hauswirtschaft, Rechnen und Schreiben
lehrte, wurde durch ihre Liebesgedichte und Hymnen an die
Liebesgöttin Aphrodite berühmt, die den Leser noch heute mit
ihrer provozierenden Sinnlichkeit und Offenheit in Erstaunen
versetzen, weshalb man ihr gerne gleichgeschlechtliche Liebe
nachsagt und starb an gebrochenem Herzen, nachdem der
junge Fährmann Phaon, der so schön wie Adonis gewesen
sein soll, die alternde Dichterin grausam zurückgewiesen
hatte. Verzweifelt vor Liebeskummer und Sehnsucht sprang
Sappho vom leukadischen Felsen in den Tod. Das besagt die
Legende.
Die zweite ist eine irische Britin aus Yorkshire. Ein
dünnes, blasses, kränkliches Mädchen in einem frommen
Gouvernanten-Kleid in brauner Farbe mit weißem
Spitzenkragen. Charlotte Brontë. Ihr verdanke ich die
wunderbare Bekanntschaft mit Jane Eyre. Ein Roman, der
mich als junger Mensch gefesselt hat und von der Sehnsucht
einer jungen Frau nach Liebe und geliebt werden handelt. Sie
muss aufgrund ihres sozialen Status, der viktorianischen Ehe
und des strengen Sittenbildes viel Schmerz und
Entbehrungen ertragen, bevor sie doch noch glücklich wird.
Eine unvergessliche Geschichte. Doch ansonsten bleibt mein
Club überwiegend der Club der sehnsüchtigen Männer...
XXX

Zum letzten Geburtstag bekam mein Club der
sehnsüchtigen Männer wieder ein paar neue Mitglieder
geschenkt. Magellan, Marco Polo, Alexander von Humboldt,
Leonardo da Vinci, Lord Byron, Nelson Mandela, Fidel Castro
und Che Guevara, zogen bei uns in das zweite Stockwerk ein.
Ein ganzes Regal mit druckfrischen Biografien. Viel zu viele,
wenn es nach meiner Frau geht.
- „Aber Schatz! Noch mehr Bücher! Wohin damit?
Unsere Wohnung platzt schon jetzt aus allen Nähten! So kann
es doch nicht weitergehen!“ - klagte sie, als ich schuldbewusst
das Paket mit dem „Neuzugang“ aufmachte, den mir mein
Postbote gerade brachte.- „Irgendwann Mal schläfst du
wirklich im Hausflur! Willst du nicht doch über eine Tolino-
Anschaffung nachdenken?“
Natürlich hat sie Recht. Das tut sie immer. Das würde
auch das Problem mit dem Platzmangel ein für alle Mal lösen
und sogar Platz für Neues schaffen. Trotzdem fühle ich mich
noch nicht bereit, mein emotionales Verhältnis zum
Bücherschrank in ein rationales umzuwandeln. Das kommt
mir fast einem Hochverrat gleich. Und die Gemütlichkeit des
Lesens würde dabei mit Sicherheit auch verloren gehen.
Dieses leblose Wischen der Seiten auf dem Bildschirm kann
doch niemals das angenehme Gefühl des rauen Papiers und
den frischen Geruch der Druckfarbe ersetzen, die ein wahrer
Liebhaber am Lesen so liebt und schätzt.
Mir ist schon bewusst, dass meine Sammelwut und
der Versuch, in Büchern eine willkommene Scheinwelt zu
finden, die mich von allem Irdischen und Banalen abschirmt,
am Ende doch nur eine Sackgasse bedeutet. Denn ganz egal
wie phantastisch und fesselnd oder erschütternd und
realistisch ein Buch wirklich ist, seine Macht und Magie sind
trotzdem begrenzt. Es kann einen in eine andere Welt
eintauchen lassen, sogar eine eigene Wirklichkeit erschaffen,
jedoch niemals von der Realität um uns herum befreien.
Sobald die letzte Seite umgeschlagen ist, nimmt das Leben
wieder Besitz von uns, und der Zauber schwindet.
Auch sollte man Schriftsteller auf keinen Fall zu
Vorbildern erheben. Sie sind und bleiben nur Menschen. Und
Menschen haben ihre Schwächen und können andere
Menschen enttäuschen. Dabei kann ich es mir an dieser
Stelle nicht verbieten lassen, für euch den „Großen Schotten“
Sir Walter Scott zu zitieren, der die Neigung der Menschheit,
alles und alle zu idealisieren, schon vor zweihundert Jahren
verurteilte, als er diese wahren und gemeinen Worte schrieb
„Wir formen unsere Idole aus Schnee und weinen, wenn sie
schmelzen.“
Und dann ist da noch etwas vor Weihnachten passiert.
Meine Frau hat ihr Wort gehalten... Nein, sie hat sich nicht von
mir getrennt. Und ich muss auch nicht im Hausflur schlafen.
Wir sind einfach... in eine größere Wohnung umgezogen. Mit
einem weiteren Zimmer für meine Bibliothek. Wenn ich das
schreibe, habe ich Tränen im Gesicht. Ein eigenes Zimmer,
voll mit Büchern, nur für mich. Danke mein Schatz! Das nenne
ich Liebe!

verurteilte, als er diese wahren und gemeinen Worte schrieb
„Wir formen unsere Idole aus Schnee und weinen, wenn sie
schmelzen.“
Und dann ist da noch etwas vor Weihnachten passiert.
Meine Frau hat ihr Wort gehalten... Nein, sie hat sich nicht von
mir getrennt. Und ich muss auch nicht im Hausflur schlafen.
Wir sind einfach... in eine größere Wohnung umgezogen. Mit
einem weiteren Zimmer für meine Bibliothek. Wenn ich das
schreibe, habe ich Tränen im Gesicht. Ein eigenes Zimmer,
voll mit Büchern, nur für mich. Danke mein Schatz! Das nenne
ich Liebe!

Ende
Roman Dell
Gelsenkirchen
20.12.2017- 13. 06.2022.

Zitatenquelle: https://www.sinndeslebens24.de/zitate-
und-weisheiten-ueber-die-sehnsucht
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Re: Roman Dell

Beitrag von zuzu »

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Am 30.08.2022 starb Michail Gorbatschow- der letzte sowjetischer Präsident und der Mann dem wir-Deutsche- die Einheit unseres Landes und Volkes verdanken. Im Westen von allen als einen Helden gefeiert, im eigenen Land von vielen gehasst.
Gorbatschow politisches Werk hat die russische Gesellschaft in zwei Lager gespalten.
Die einen loben seinen Versuch, den Sozialismus zu liberalisieren und sind ihm dankbar für die unglaubliche Freiheit, die mit seinen Jahren an der Macht einherging. Die anderen halten ihn für einen Verräter, der mehr dem Westen als seinem Volk diente.
Unbestreitbar ist jedoch, dass er als einzige Politiker in der Geschichte bleiben wird, der angesichts der Bedrohung durch einen Atomkrieg und der
vollständigen Vernichtung der Menschheit tatsächlich bereit war, sowohl den Supermachtstatus seines Landes als auch seine persönliche Karriere für den
Weltfrieden zu opfern.
Das macht ihn als Menschen und Politiker beispiellos.
Obwohl ich damals im Grundschulalter war und mich an die Sowjetunion nur am Rande erinnere, gibt es da trotzdem etwas, was mich mit Gorby verbindet... die Geschichte unserer ersten Begegnung


Der „gemütliche Onkel“


Seine Bilder begleiteten uns überall. Sie hingen in den Schulen und Fabriken, schmückten die Wände der Behörden und Foyers, schauten von den Bannern und Tafeln herab und erschienen fast täglich auf den Titelseiten aller großen Zeitungen und Magazine. Und natürlich im Fernsehen. Bald kannte jeder Mensch sein Lächeln und seinen Blick, die ungewöhnliche Wärme und Offenheit ausstrahlten. Wir liebten und feierten ihn wie einen Helden. Nur der Führer des Weltproletariats, Kopf der Großen Oktoberevolution und Gründer unseres Bauern- und Arbeiterstaates- die Union der Sowjetischen Sozialistischen Republiken- Genosse Wladimir Iljitsch Lenin - wurde bei uns noch mehr gehuldigt und abgebildet.
Selbst heute, 37 Jahre später, erinnere ich mich immer noch exakt genau an den Tag unserer allerersten Begegnung, als wäre es gestern, jenen sonnigen und frostigen Morgen in März 1986. Wir, Erstklässler, gingen damals gerade Mal sechs Monate auf die Grundschule und hatten uns gerade daran gewöhnt, alle Lehrer und Lehrerinnen mit ihren Namen und Vatersnamen* (Gemäß der russischen Tradition wird bei der Ansprache einer älteren oder Respektperson neben dem eigenen Namen der Person auch ihr Vatersname eingefügt. Wenn die Lehrerin mit dem Vornamen Alevtina heißt, und ihr Vater Sergej, würde die vollständige Ansprache der Lehrerin Alevtina Sergejewna lauten- Bemerkung des Autors) und nicht einfach als „Onkel“ oder „Tante“, anzusprechen, wie wir es bis jetzt immer bei Fremden taten.
Es geschah während des Russischunterrichts, der als erster auf dem Stundenplan stand. Ich weiß noch, dass wir gerade die Groß- und Kleinschreibung des Buchstaben „P“ übten. Für die beste Arbeit gab es als Belohnung ein rotes Kartonsternchen, das die Klassenlehrerin immer mit einer dicken Büroklammer am Einband des Schulheftes befestigte. Andere Schularbeiten, die zwar auch gut, aber dennoch nicht absolut fehlerfrei waren, erhielten statt Sternchen nur eine rote Flagge. Ebenfalls aus Karton. Alle Jungen und Mädchen, die beim letzten Mal kein Abzeichen bekommen hatten, ermahnte die Lehrerin traditionell zu mehr Zielstrebigkeit, Eifer und Fleiß, den obersten Pflichten jedes Oktoberkindes und Pioniers, damit aus ihnen später auch noch vorbildliche sowjetische Menschen werden, die zum Wohle unserer sozialistischen Gesellschaft dienen und arbeiten.
Aber auch unabhängig davon, galt es unter den Schülern als ziemlich beschämend und frustrierend das Übungsheft ohne eine Flagge oder ein Sternchen von der Lehrerin zurück zu bekommen. Man kam sich sofort wie ein Versager vor, öffentlich an den Pranger gestellt und indirekt aus dem Kollektiv ausgeschlossen. Niemand wünschte sich so etwas. Darum wollten wir das begehrte Abzeichen um jeden Preis haben, alle zu den Besten gehören und legten uns dafür mächtig ins Zeug. Man hörte nichts außer Papierrascheln, Füllerquietschen und konzentriertes Schnaufen im Raum. Da meldete sich plötzlich eine Schülerin aus der ersten Reihe zu Wort, die links von mir saß…
Ich kann mich nicht mehr an ihren Namen erinnern. Nur dass sie sehr klein, dünn und ruhelos war. Und dass sie, gemäß sowjetischer Modetradition und Schulordnung zwei riesige weiße Schleifen auf dem Kopf trug. Sie schien mit ihrer Arbeit schon längst fertig zu sein und sich zu Tode zu langweilen. Das Mädchen deutete mit ihrem tintenbefleckten Zeigefinger auf die Wand und stellte unserer Klassenlehrerin, mit für alle Kinder typischer hemmungsloser Direktheit, folgende Frage: „Alevtina Sergejewna! Sagen Sie bitte, wer ist dieser gemütliche Onkel auf dem Bild, das über der Schultafel ganz oben an der Wand hängt und uns die ganze Zeit so lieb und freundlich anlächelt? Ist das Ihr Vater oder Großvater?"
Alle meine Klassenkameraden waren noch in der Aufgabe vertieft, so dass keiner von ihnen zunächst Notiz von ihr nahm. Keiner außer mir. Ich bekam jedes einzelne Wort ihres Anliegens mit, obwohl das Mädchen sehr leise sprach, fast flüsterte.
Auch wenn die Antwort auf die Frage des Mädchens fast sofort kam, glaubte ich dennoch für den winzigen Bruchteil einer Sekunde so etwas wie leichte Ratlosigkeit und Schreck in den Augen der Grundschullehrerin zu lesen. Diese unerwartete Frage der Schülerin warf sie kurz aus der Bahn. Man sah ihr diese Verlegenheit auch deutlich an. Ihre sonst immer karmesinroten und pummeligen Wangen wurden jetzt kreidebleich Sie fing sich im nächsten Moment jedoch schnell wieder und antwortete ruhig aber mit spürbarem Ernst und Nachdruck in der Stimme: „Nein. Da liegst du falsch. Das ist nicht mein Vater oder Großvater. Aber gut, dass du trotzdem gefragt hast. Das sollten nämlich alle anderen Schüler auch wissen!“
Dann erhob sie sich rasch von ihrem Schreibtisch und sprach zur gesamten Klasse.
- „Achtung! Liebe Kinder! Ich habe euch etwas Wichtiges zu sagen! Schaut bitte alle zur Wand hoch!
Ihre kräftige Stimme erreichte jeden Winkel des Klassenraums. Wir ließen sofort unsere Stifte fallen, drehten die Köpfe zu ihr und hörten der Klassenlehrerin gespannt und aufmerksam zu
- „Ihr fragt euch sicher die ganze Zeit, wessen großes Portrait da oben hängt? - fing sie mit festlich lautem Ton an.- Nun, das ist ganz einfach. Der Mann auf dem Foto ist unser Staatsoberhaupt, der Generalsekretär der Union der Sowjetischen Sozialistischen Republiken, der geliebte und verehrte Genosse Michail Sergejewitsch Gorbatschow! Prägt euch diesen Namen gut ein. Er sorgt dafür, dass es allen Menschen in der Sowjetunion gut geht und dass wir hier satt und im Frieden und Wohlstand leben können! Dafür danken wir ihm jetzt. Und nun macht mir einfach alle nach!“- schloss sie ihren Blitzvortrag mit einem sanften Befehl ab.
Die Inbrunst und Überzeugung mit der sie ihre Rede vor uns gehalten hatte, waren ansteckend. Sie lösten einen Zauber aus. Einen Zauber, dessen magische Kraft sofort zu wirken begann. Ihre ungezügelte Freude und Begeisterung über den fremden Mann auf dem Bild sprangen auf uns über. Der „gemütliche Onkel“ gefiel uns plötzlich auch, obwohl wir ihn gar nicht kannten. Und dann erhoben wir uns nach ihrem Handzeichen von unseren Plätzen und applaudierten begeistert dem gerahmten Gesicht an der Wand. So trat Michail Sergejewitsch Gorbatschow auch in mein Kinderleben ein …
Damals verstand ich diese seltsame, nahezu angstpanische, Reaktion der Klassenlehrerin überhaupt nicht. Erst nach ein paar Jahren, da war die Sowjetunion inzwischen aufgelöst, erklärte meine Mutter mir endlich was los war, als ich ihr irgendwann Mal beim Frühstück von dem Vorfall in der Schule erzählte. Und so erfuhr ich, dass meine Lehrerin während der Stalin- Ära groß geworden war, in einer schwierigen Zeit in der Geschichte der UdSSR, wo selbst eine solche unbedachte Frage und kindische Neugier unter Umständen viel Ärger bringen konnten. Und zwar nicht nur dem Sprecher. Auch allen Anwesenden im Raum. Von „falschen“ Leuten gehört oder einfach nur unbewusst an die „falschen“ Leute herangetragen, konnte nahezu jeder harmlose Satz, Wort, Frage oder Bemerkung schnell als Beleidigung der Staatsmacht und ihrer Repräsentanten, oder noch viel schlimmer, als Hochverrat und volksfeindliche Aktivität interpretiert werden, was sofort drakonische Strafen, wie Erschießung oder lange Lagerhaftzeit nach sich zog. Das war damals nichts Ungewöhnliches und konnte jedem und überall passieren. Menschen sprachen mit den Menschen, scherzten, gingen zur Arbeit und dachten sich nichts dabei. Und dann wurden sie eines Tages von einer schwarzen Limousine abgeholt, daheim oder auf der Straße, und verschwanden für immer. Väter, Mütter, Töchter, Söhne, Schwestern, Brüder, Freunde oder Bekannte. Irgendeiner war schon immer dabei. In jeder Familie. Meistens war es jemand aus dem näheren Umfeld,- ein Schulkamerad, Arbeitskollege, Nachbar, Freund oder Verwandter,- der einen bei den Behörden anschwärzte. Jemand, von dem man das in der Regel niemals erwartet hätte.
Darum war „nichts Falsches sagen“ besonders wichtig. „Nichts falsches sagen“ entschied über Leben und Tod. Vielleicht hatte sie auch jemanden auf diese Art verloren, vielleicht auch nicht. Vielleicht war sie einfach nur vorsichtig. Aber diese Zustände damals mussten sie als Kind trotzdem dermaßen erschüttert und geprägt haben, dass diese Angst sie selbst als erwachsener Mensch nicht mehr losließ und die Grundschullehrerin deshalb überall und bei jedem die Gefahr witterte. Die Gefahr, dass man sie denunzieren, ihre Treue und Loyalität „da oben“ plötzlich in Frage stellen und sie und ihre Familie dafür bestrafen könnte. Erklärte mir die Mutter, während sie Buchweizen- Grütze, das typische Essen der Russen damals, für unsere Familie auf dem Herd kochte.
Das schwarzweiße Bild an der Wand, das meine Klassenkameradin damals neugierig gemacht hatte, war das offizielle Porträt des Generalsekretärs, das das Politbüro für die Presse freigegeben hatte. Der Photograph der es gemacht hatte, wollte unseren Staatschef von seiner besten Seite zeigen. Er wählte eine besonders günstige Kameraeinstellung bei der das riesige Muttermahl am Kopf des Generalsekretärs und die bereits sichtbare Glatze für den Betrachter kaum auffielen. Vielleicht wurden die „Problemstellen“ auch einfach wegretuschiert.
Er konzentrierte sich stattdessen auf die markanten Gesichtszüge des neuen Generalsekretärs, so dass sein warmer Blick und sein sympathisches Lächeln sofort die ganze Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich zogen.
Später bekam ich auch andere Fotos von ihm zu sehen. Im modischen grauen Mantel und Filzhut bei offiziellen Empfängen und Anlässen oder im blumigen Strickpullover oder Pullunder, wenn er sich mit Schülern, Studenten oder Jugendlichen vor den Fernsehkameras traf und unterhielt. Ganz egal. Sein Gesicht blieb jedes Mal gleich. Gütig und freundlich. Meine Klassenkameradin hatte Recht. Er hatte tatsächlich etwas von einem „gemütlichen Onkel“, den es in jedem Haus, in jeder Stadt, in jedem Dorf, in der UdSSR gab. Jemand den alle liebten und mochten. Mit dem man stundenlang Schach spielte, im Bach Fische fing oder sein Fahrrad auf dem Hinterhof reparierte Ein guter Nachbar. Der Mann von nebenan. Einer von uns.
Damals hätte keiner von uns sich auch nur vorstellen können, wie sehr der „gemütliche Onkel“ (denn genauso sah der mächtigste Mann der Sowjetunion auf dem Bild für uns Kinder aus) unser Leben und Schicksal im Nachhinein verändern würde. Nicht nur unseres. Auch das von unseren Eltern und Großeltern, sowie viele andere Dinge in unserem Land und sogar weltweit. Manches zum Guten, manches zum Schlechten und zwar schon bald. Aber das wussten wir alles natürlich nicht. Niemand hatte das gewusst. Wir ahnten nicht welche Zukunft uns erwartete. Wir waren hochmotiviert, brav, leichtgläubig und gehorsam und hatten uns bis dahin überhaupt um nichts Gedanken oder Sorgen gemacht. Stattdessen kamen wir der Aufforderung der Klassenlehrerin sofort nach und schenkten dem „gemütlichen Onkel“ einen Riesenapplaus…und unsere unschuldigen Kinderherzen.

Roman Dell
Auszug aus dem Roman „Genosse Präsident“ (noch unvollendet)
Zuzu

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