Roman Dell

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zuzu
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Beitrag von zuzu »


Ich war zwölf, als ich zum ersten Mal einen richtigen Ausländer sah. Er war Mitglied einer Delegation aus Gelsenkirchen. Sie brachten humanitäre Hilfe in unsere Stadt. Meine Vorstellung von Deutschland in der Sowjetunion stammte damals größtenteils aus Geschichtsbüchern und DEFA-Produktionen. Das Deutschland-Bild, das ich dadurch vermittelt bekam, war ausschließlich ein historisches Deutschland der Vergangenheit oder das eines DDR- Bruderstaats. Ein westliches, modernes Deutschland der Gegenwart war mir bis dahin unbekannt. Das änderte sich rasch als einer der Delegationsmitglieder mir die Fotos in seinem Album zeigte. Die Welt, die auf diesen Bildern abgebildet war, war eine idyllische Welt, die ich nur mit einem Wort beschreiben konnte: Märchenland. Dieses Erlebnis inspirierte mich zu dieser Geschichte.



[center]Märchenland

(Kurzgeschichte)[/center]


Ich war zwölf, als ich zum ersten Mal einen richtigen Ausländer sah. Er war Mitglied einer Delegation aus Westdeutschland. Sie kamen mit sechs Mann und brachten humanitäre Hilfe in unsere Stadt. Die dunkelblauen Scania -LKWs der Deutschen wurden noch in derselben Nacht am Rande der Stadt abgestellt und sie selbst in dem nahliegenden Hotel Wostok untergebracht. Wohl nicht dem teuersten, aber dafür recht bequemen Gasthaus. Orientalischer Flair im sowjetischen Stil. Eine exotische Kombination.

Ihre Anwesenheit stellte für die Bürger unserer Provinzstadt ebenfalls eine wahre und nie gesehene Attraktion dar. Von nun an wollte jeder von uns unbedingt wissen, ob Ausländer… ausländisch aussehen.

Das taten sie. In der Tat. Ihre bunten gepolsterten Jacken hoben sie in der Masse der Russen deutlich ab. Unsere Farben im Winter waren schwarz, braun oder grau (weltbekannter Sortiment-Mangel der sowjetischen Wirtschaft), aber dafür trugen wir meistens echte Stoffe: richtige Wolle oder Pelz (ihr einziger Vorteil). Etwas Anderes wäre bei uns schon allein wegen des Winters und der sehr niedrigen Temperaturen nicht in Frage gekommen. Die Deutschen taten uns leid. Sie waren allesamt zu dünn angezogen. Bei minus vierzig Grad Frost darf man mit der Kälte nicht scherzen. Selbst als Russe nicht. Diese Lektion mussten sie noch lernen, haben schon jetzt fürchterlich gefroren.

Der Besuch aus Deutschland sorgte prompt für Aufruhr und unsere verschlafene Stadt erwachte zum Leben. Eine Schar von Kindern und „neugierigen Gaffern“ verfolgte die Deutschen auf Schritt und Tritt, in der Hoffnung auf ein Geschenk oder Schokolade. Viel Zeit zum Bestaunen hatte man dabei aber nicht. Wie zu erwarten, waren die Deutschen ziemlich fleißig. Schon am nächsten Morgen begannen die Gäste ihre LKWs zügig auszuladen. Sie wollten bis Ende der Woche fertig werden und arbeiteten schnell und organisiert. Da mein Vater bei der örtlichen Stadtverwaltung arbeitete (und obendrein noch ein Volksdeutscher war), bekam er die Anordnung von oben, sich während des ganzen Besuches um die Gäste aus Westdeutschland zu kümmern: Das bedeutete, ihren Arbeitsprozess zu beaufsichtigen und bei Bedarf zu übersetzen.

Der Tag, an dem mein Vater diesen Auftrag erhielt, fiel auf einen Sonntag und so nahm er mich großzügig mit. Wäre dieser Tag kein Sonntag, sondern ein Samstag gewesen, hätte ich um diese Zeit noch die Schulbank drücken müssen und hätte die Deutschen nie gesehen. Und so verdanke ich diesem Zufall, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben auf „echte Deutsche“ traf.

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich meinen Vater noch nie mit jemanden deutsch sprechen hören. Ich kannte ihn nur, wie er mit uns Kindern russisch sprach und habe nie daran gedacht, dass unser Papa noch eine andere Sprache, außer Russisch, beherrschen könnte. Überhaupt war mir meine ausländische Abstammung damals nicht wirklich bewusst. Ich wusste zwar, dass ich zur Hälfte deutsch war, aber das war es auch schon mit der fremden Abstammung. In der Schule fiel ich höchstens nur durch meinen ungewöhnlichen Namen auf, der für russische Ohren ein wenig seltsam und fremd klang. Aber nicht weniger fremd, als tatarisch oder armenisch. Ansonsten war ich wie jedes andere Kind in der UdSSR: International und sowjetisch erzogen. Deutsch und deutsche Kultur waren mir fremd und unbekannt. Ich konnte mir kaum etwas darunter vorstellen. Den meisten Volksdeutschen meines Alters ging es genauso wie mir. Wir waren Menschen ohne Identität. Irgendwie deutsch und irgendwie russisch. Das lag an dem System und an unserer Vergangenheit.

An diesem Tag hörte ich aber zum ersten Mal wie die Sprache meiner zweiten Elternhälfte live klingt. Dieses Ereignis blieb für immer in meiner Erinnerung.

Mein Vater unterhielt sich mit einem Fahrer aus dem Hilfskonvoi. Es war ein wenig befremdlich und gleichzeitig erstaunlich, ihm dabei zu zuhören. Zu sehen, wie er neben diesem hochgewachsenen Mann stand und deutsche Sprache plötzlich aus ihm heraussprudelte. Mein Vater erzählte und der Deutsche nickte ihm energisch und begeistert zu. Dann war der Riese an der Reihe. Er lachte, klopfte meinem Vater auf die Schulter und antwortete irgendetwas auf Deutsch. Diese lauten fremden Sätze, deren Inhalt mir damals verborgen blieb, Worte, die bestenfalls wie Kauderwelsch oder eine Zauberformel klangen, besaßen in seiner Welt ein Leben und einen Sinn. Das war irgendwie… magisch.

Es war jedoch nicht nur die Kleidung oder die Sprache allein, die sie von uns unterschieden. Ihre Gesichter und Augen sahen auch anders aus.
Bei uns fängt das Leid bereits im Gesicht an. Jede Falte, jeder Blick, jede Narbe erzählen eine kleine Lebensgeschichte. Lassen die Spuren und Schläge des Schicksals deutlich sehen. Schlagen ihre Wurzeln in unserem Gang und Gestalt fest. Ein russischer Blick ist deshalb meist ein trauriger Blick. Ein schwerer, geduldiger Blick voller Misstrauen und unerfüllter Träume einer (nie ganz zufriedenen) slawischen Seele. Das ist wie ein Brandmal oder ein Fluch, mit denen man bereits bei der Geburt versehen wird und die ihren Besitzer bis zum Tode begleiten. Selbst die kleinen Kinder sehen bei uns viel reifer und erwachsener aus, als ihre Altersgenossen im Ausland. Ich finde keine Erklärung dafür. Vielleicht leben die Russen wirklich in einer anderen Welt.

Unser Deutscher war stämmig und hatte ein freundliches und rosiges Gesicht. Außerdem roch er gut. Es war der Duft eines frischen Rasierwassers oder eines herben Parfüms ausländischer Herkunft. Dieses Parfüm übertönte alle anderen Gerüche in seiner Nähe. Dieser lustige Deutsche strahlte Zufriedenheit und Sorglosigkeit aus. Diese Leiden und Entbehrungen, Schmerz und Intensität, Geduld und Hoffnung, die ich in den Gesichtern der anderen Russen sah, fand ich weder in seinen Augen, noch in seinem Gesicht. Es schaute freundlich, neutral freundlich aus. Ich konnte keine „Geschichte“ darin lesen oder entdecken. Damals noch nicht.
Sein Alter war ein weiteres Geheimnis. Ich war richtig erstaunt als ich erfuhr, dass dieser große Mann mit ein paar silbernen Fäden in dem sonst dunkelbraunen dichten Haar…bereits Rentner war. Ich hätte ihn locker für sehr viel junger gehalten. So gut und so frisch wie er aussah, sieht ein russischer Mann schon mit vierzig nicht mehr aus. Unser Alltag und der Wodka lassen uns sehr schnell verbraucht aussehen.

Der Fahrer holte aus der Jackentasche ein schwarzes Lederbuch. Es war ein Foto-Album. Er zeigte uns die Bilder von seiner Familie. Mein Vater übersetzte.
- Das ist seine Familie. Frau, Sohn. Der Urlaub in Bayern, letztes Jahr. – sagte er und reichte das Bild an mich weiter. – Und hier ist Willi in der Fußgängerzone, direkt vor der Bank. Große Einkaufsstraße. Da ist das Rathaus in Gelsenkirchen -Buer. Sein Wintergarten. Die Wohnung seines Sohnes in Bochum. Lebensmittelgeschäfte und Aral-Tankstelle.

Schon bald lag ein Stapel bunter Farbbilder in meiner Hand. Ich nahm mir ein Foto aus dem Stapel raus, hielt es kurz vor den Augen und sah eine fremde Welt...
Wenn ich diese Welt mit nur einem Wort beschreiben müsste, so fällt mir dabei nur dieses einzige Wort ein: Märchenland. Und zwar, sowohl damals als auch heute.
Die Welt, die auf diesen Bildern abgebildet war, war eine idyllische Welt, in der jedes einzelne Detail, jede Farbe oder jede Form sorgfältig ausgewählt waren und mit der Umgebung und Natur harmonierten. Man hätte vergeblich nach den Schönheitsfehlern in diesem Bild suchen können. Es war in jeder Hinsicht perfekt.

Meine bisherige Vorstellung von Deutschland stammte größtenteils aus einem Wilhelm Hauf- Märchenbuch, das eine Freundin meiner Mutter meiner Zwillingsschwester Viktoria und mir zum Geburtstag geschenkt hatte. In diesem Buch war Deutschland ein grünes Land, voll von hübschen mittelalterlichen Fachwerkhäusern und hochgewachsenen Menschen, allesamt im Lederkleid und Federhut. Und genau diese Fachwerkhäuser sah ich jetzt auch auf dem Bild. Feierlich geschmückte Fachwerkhäuser, die für mich nur in Sagen und Geschichtsbüchern existierten und unantastbare Reliquien des Mittealters waren; diese Häuser gab es also wirklich. Immer noch. Und sie waren bewohnt! Richtig bewohnt.

Auch die anderen Bilder hatten etwas von einem Märchen. Ihre Straßen, Autos, Häuser, Cafés, Blumenkübel, Gärten und Haltestellen. Alles war so anders als bei uns. Irgendwie bunter, schöner und akkurater. Mein Vater zeigte auf einem Foto auf die gelben und schwarzen Plastikbehälter, die an der Straße entlang standen und sagte: “ So sehen die Müllcontainer in diesem Land aus!“

Eine weitere aber nicht die letzte Überraschung an diesem Tag. Ich wäre niemals dahinter gekommen, dass diese Plastikbehälter Mülltonnen wären. Selbst mit Müll gefüllt wirkten sie immer noch hübsch und mustergültig sauber. Anders als bei uns.
Die Müllbehälter, die bei uns vor dem Haus standen, hatten schon lange keine Farbe mehr (eine breite Schicht Schmutz überdeckte die ursprüngliche Farbe seit Jahren) und stanken meilenweit, weil sie keinen Deckel hatten. Im Sommer bestand für uns die Gefahr, von einer Schar lästiger Bienen gestochen zu werden, die von den Lebensmittelresten angezogen rund um die Uhr um die Container flogen, sobald man es wagte, sich ihnen mehr als 3 Meter zu nähern. Im Winter waren es streuende Hunde, böse und hungrig, die dort nach Essbarem suchten. Die Müllcontainer der Deutschen schockierten mich und ich fragte mich, wie gut diese Menschen in ihrem Land wohl leben müssten, wenn schon ihre Mülltonnen so schön und gepflegt waren.

Nachmittags ging ich mit einem kleinen Geschenk nach Hause. Der Fahrer gab mir zwei Pakete in türkisblauer Aufmachung. Unterwegs rätselte ich die ganze Zeit, was in den beiden Schachteln mit der Überschrift TEMPO drin sein könnte und malte mir ein Geschenk von nie gesehener Schönheit und Wert aus.

Zuhause stellte ich enttäuscht fest, dass der Inhalt der beiden türkisblauen Päckchen…Papier und Feuchthandtücher waren. Etwas Besonderes entpuppte sich als etwas Gewöhnliches. Jahre später dachte ich noch einmal darüber nach und war darüber erschrocken, wie wenig sie damals über uns wussten und wie sehr wir von unserer eigenen Größe und Übermacht eingenommen waren, dass man uns solche Sachen schenkte, und wir uns später gedemütigt fühlten, auch wenn das von beiden Seiten nicht gewollt war.

Trotzdem war mir ein solches Taschentuch bis dahin fremd. In Russland benutzte man ausschließlich Stofftaschentücher. Papier war viel zu teuer und die Bäume viel zu wertvoll, um beides für einen Schnupfen zu opfern. Ich hatte deshalb noch nie ein Papiertaschentuch in der Hand gehabt und ahnte nicht, dass es solche Taschentücher überhaupt gab. Im Ausland schien es jedoch Gang und Gäbe zu sein, Papierhandtücher zu haben und zu benutzen. Es war eines von den vielen Dingen, die ich im Laufe ihres Besuches über das Leben in Deutschland erfahren sollte. Auch dieser Tag mit den Deutschen war voll von kleinen Überraschungen. Mein Kopf platzte von den vielen Eindrücken. Das Letzte, woran ich mich erinnern konnte, bevor ich einschlief, war, dass Deutschland ein kleines aber dennoch sehr ungewöhnliches Land ist. Selbst die Taschentücher sahen dort völlig anders aus.

In der Schule konnte ich an nichts Anderes als an die Gäste aus Deutschland denken. Ihre Ankunft veränderte meine bisherige Welt. Ich hatte die bunten Bilder des Fahrers vor Augen und fühlte mich von seinem Märchenland durcheinander gebracht. Zu Recht. Ihre perfekt gepflegten Straßen, die bunten Farben, diese schöne und glückliche Welt lösten bei mir kindliche Eifersucht aus. Meine eigene Heimat tat mir leid.

Bis das Märchenland in mein Leben trat, hielt ich die Sowjetunion für ein modernes und glückliches Land. Das war es auch, wenn man den Rest der Welt nicht kannte. Wir hatten als erste einen Menschen ins All geschickt, bauten in den Entwicklungsländern Afrikas, Lateinamerikas und Asiens neue Fabriken und Werke auf, waren Symbol für wissenschaftlichen Fortschritt und gesellschaftliche Gerechtigkeit. Ich hatte allen Grund, auf meine Heimat stolz zu sein. Wir waren eine Weltmacht und eine Zivilisation.

Ein Stapel Bilder erschütterte diesen Glauben und versetzte mir einen schmerzlichen Schlag. Ich fühlte mich durch die Farbe und den Glanz ihrer Welt beeindruckt und gekränkt. Das Märchenland hätte jeden an meiner Stelle sprachlos und verwirrt gemacht. Alles was ich danach empfand, war eine Mischung aus Bewunderung, Scham, Wut und Kränkung. Ich kam mir wie ein Bauer vor, der seinen besten Anzug aus dem Schrank holt und zu einem Ball in die Stadt fährt, um dort zu glänzen und plötzlich Männer und Frauen in feinsten Kleidern sieht und nur noch die eigene Armseligkeit empfindet.

Das löste bei mir eine heftige Abwehrreaktion aus. Ich fing an, nach den Fehlern in ihrer perfekten Welt zu suchen, um dieses Gefühl der eigenen Unterlegenheit los zu werden, mir selber zu beweisen, dass es bei uns nicht schlechter war, dass wir den Menschen aus dem Märchenland zumindest ebenbürtig waren, aber überall wo ich hinsah, sprangen mir nur Macken und Fehler ins Auge. Alles Dinge, auf die ich bis heute niemals geachtet hatte, weil sie hier natürlich und ein Teil unseres Alltagslebens waren. Zahlreiche Schlaglöcher in den Straßen, abgeblätterte Farbe an den Backsteinhäusern oder Schigulis*, (ein russisches Fahrzeug, das ich bis dahin für ein Juwel der sowjetischen Autotechnik hielt) die neben dem ordinären VW-Käfer aus Deutschland plötzlich nur noch schlicht und hässlich aussahen.
Es war kein guter Vergleich. Egal, was ich unter die Lupe nahm, alles erwies sich am Ende als optisch unterlegen. Ein wenig einfacher, grober und unvollkommener, als dieselben Sachen und Gegenstände aus dem Märchenland. Dabei war mir die ganze Zeit bewusst, dass diese Orte und Dinge, die ich auf den Bildern des Fahrers sah, keine ausgewählten Orte und Dinge waren. Nichts, womit sie uns extra beeindrucken oder womit sie angeben wollten. Auch kein Wunder oder kein erschwinglicher Luxus. Sie zeigten nur einen wahllosen Querschnitt aus dem deutschen Alltag und waren nichts weiter als ihr gewöhnlicher Lebensstandard. Nicht weniger und nicht mehr.

Ich fühlte mich in meinem patriotischen Stolz verletzt. In meinem Innersten tobten ein Ideologie- und ein Gewissenskampf. Einerseits fand ich die Bilder des Fahrers toll und schön. Andererseits wollte ich mit dieser Begeisterung auf keinen Fall zugeben, dass das Leben bei uns schlechter war. Für das „Eine“ zu schwärmen, bedeutete jedoch das „Andere“ zu verraten. Das war ein Dilemma.

Plötzlich schämte ich mich dafür, der Verführung dieser optischen Reize des Westens erlegen zu sein. Dass diese hübschen Häuser, Straßen und Autos mich für eine Weile dazu brachten, an meinem eigenen Land zu zweifeln, überhaupt ins Zweifeln zu geraten.
Der nächsten Tag verbrachte ich mit der wichtigsten Frage meines Lebens: Durfte ich das „Märchenland„ weiter mögen oder sollte ich es möglichst schnell vergessen? So tun, „ als gäbe dieses“ in Wirklichkeit nicht. Was wäre richtig?

Als mein Vater abends wieder zu den Deutschen ging, war ich immer noch unentschlossen, konnte der Versuchung jedoch nicht widerstehen. Das Märchenland, seine Bilder, seine Farben, die Menschen und die Gerüche zogen mich magisch an. Also redete ich mir ein, dass es nichts Schlimmes sei, sich diese Welt nur anzuschauen, solange es die Gelegenheit dafür gab. Später wären die Deutschen sowieso weg. Und meine Sorgen und Zweifel auch. Nach diesem Kompromiss fühlte ich mich endlich von den Gewissensbissen befreit.

Eine Woche lang genoss ich das Leben in einer parallelen Welt. Morgens saß ich brav in der sowjetischen Schule und abends lebte ich in meinem Märchenland. Es war bequem und praktisch, diese beiden Welten gleichzeitig zu haben. Inzwischen hatte ich mich so sehr an die Anwesenheit der Deutschen gewöhnt, dass ich langsam zu vergessen schien, dass sie uns eines Tages wieder verlassen würden. Und zwar schneller, als mir lieb war. Das hieß, schon am kommenden Sonntag.

Diese Nachricht traf mich wie ein Schlag, auch wenn ich immer damit gerechnet hatte. Ich hatte die Deutschen gern. Mir war es so vorgekommen, als würden sie länger bleiben. Von mir aus sogar für immer. Sie brachten eine neue Welt mit und ich brannte nur darauf, in diese Welt einzutauchen. Meine Sammlung an Geschenken wuchs auch von Tag zu Tag. Jetzt wusste ich, dass unsere Deutschen aus Gelsenkirchen kamen. Einer von ihnen schenkte mir einen Aufkleber mit dem Stadtwappen, welcher noch am selben Tag von meinem Vater auf die Tür unseres Kühlschrankes angebracht wurde.

Gelsenkirchen - las ich die Überschrift und musste mir das ganze Wort in Teilen buchstabieren, um es korrekt vorlesen zu können. Gel-sen-kir-chen. Zungenbrecher!!!
–„Deutsche haben eine Vorliebe für lange Wörter“- klärte mich später mein Vater auf. - Wie Lastwagenfahrer, zum Beispiel. Last-wagen-fahrer. Da hätten wir auf Russisch einfach nur Chauffeur gesagt.

Damals war mir nicht klar, warum die Deutschen es die ganze Zeit so eilig hatten. Wir hatten gerade Mitte Dezember, also noch sehr viel Zeit bis zum Neuen Jahr, aber sie wollten unbedingt noch vor dem 24. Dezember zu Hause sein. Im Nachhinein erfuhren wir, dass es sich dabei um Weihnachten, das wichtigste Fest der Deutschen und sogar der westlichen Welt handelte, das man in Europa traditionell im Familienkreis verbringt. Es zu verpassen, galt dort als großes Pech und Unglück. Das Neue Jahr, das für die Russen wiederum das Fest Nr.1 ist, spielte dort nur eine untergeordnete Rolle. Aber das erfuhr ich, wie gesagt, erst viel später.
Am Tag ihrer Abreise lag in ganz Schachty bereits eine dicke Schicht Schnee. Dieses Mal nahm mein Vater uns alle mit. Mutter, Schwester, die gesamte Familie. Ich brauche nicht zu sagen, wie sehr mir der Abschied wehtat. Auf einmal wurde mir bewusst, dass es Wochen wie diese nie wieder in meinem Leben geben würde. Dass sie zurück fuhren und die Zeit des Märchens vorbei war. Jetzt, wo sie schon praktisch ein Teil meiner Welt geworden waren und nun abreisen sollten, empfand ich plötzlich Wut. Konnten die Deutschen nicht wenigstens noch ein paar Tage bleiben?

Aber sie wollten zurück. Zurück nach Hause. Die Männer schüttelten allen Russen die Hand, (heute war mein Vater nicht allein da, ein Paar Herren aus dem örtlichen Parteikomitee begleiteten ihn) und gingen zu ihren LKWs.

In diesem Augenblick war ich fest davon überzeugt, dass alle Deutschen die glücklichsten Menschen auf der Welt waren. Sie mussten keine Verbindungen haben, um an einen Käselaib oder ein anderes teures Lebensmittel, welches zurzeit Mangelware war, heran zu kommen und mussten dann nicht bis Mitternacht warten, bis das ganze Hochhaus in Schlaf versunken war, um die Einkäufe in die Wohnung zu tragen, damit es kein böses Blut mit den Nachbarn gab. Ihre Straßen waren sauber. Ihre Häuser bunt, warm und schön. Ihre Medizin, die beste in ganz Europa. Sie hatten schöne Kleidung, leckeres Essen, gut bezahlte Arbeit und reisten um die ganze Welt. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, was in diesem Glück für sie noch fehlen sollte. Sie hatten alles. Ihre Welt war perfekt.

Der erste Wagen fuhr bereits los, als ich plötzlich einen Ruf hörte. Ein älterer Fahrer sprang aus dem LKW und rief mir zu: „Hey, Junge! Komm einmal her!“
Obwohl ich damals noch kein Deutsch sprach, kannte ich den Satz bereits aus den zahlreichen DDR-und Kriegsfilmen. Ich ging zu ihm. Der Deutsche verschwand in seinem Fahrzeug. Dann tauchte er wieder auf. Er hatte ein paar Geschenke für mich.

Er zeigte mir, dass ich meine Hände ausstrecken sollte und legte mir zwei Paletten mit Coca-Cola-Dosen, eine Palette mit Büchsenfleisch, eine Packung Rosinenstollen und dutzende kleiner M&C Tüten da drauf. Sie waren sehr schwer.

Kurze Zeit später fuhr auch sein Wagen los. Er ließ mich im schmutzigen Schnee allein mit den Geschenken stehen. Dieser Sonntag war ein schwieriger Tag. Die Geschenke des Deutschen aßen wir den ganzen Winter hindurch. Meine Mutter rückte sie Stück für Stück raus. Meistens zum Geburtstag oder zu einem besonderen Anlass. Ich musste mir nicht mehr den Kopf zerbrechen, ob meine Schwärmerei für das Märchenland damals ein Verrat an die Sowjetunion war. Ein Jahr später brach die Sowjetunion zusammen und das behütete Reich meiner Kindheit sowie meine Illusionen verschwanden. Vier Jahre später lebte ich selbst in Deutschland.

Das Leben hier öffnete mir die Augen über das Märchenland. Ich begriff, dass das Glück eines Menschen nicht allein von schönen Waren und leckerem Essen abhängig war und das Leben an sich viel zu kompliziert ist, um darauf eine eindeutige Antwort zu geben. Denn Glück ist das, was einem gerade fehlt. Das kann unter Umständen auch die Liebe der Mutter, die Heimat, Anerkennung, Gesundheit, oder eine eigene Familie sein. Dinge, die man nicht durch materiellen Wohlstand ersetzen kann. Auch die Deutschen hatten mit den Problemen zu kämpfen. Ihr Märchenland war keine Idylle, keine perfekte Welt. Das wussten sie selbst und sie wollten, dass ich es auch begreife.

Aber damals, im Schnee, wollte und konnte ich es nicht begreifen. Ich war einfach nur sauer auf die Deutschen und blickte ihrem Güterkonvoi frustriert hinterher. In meinem Innersten musste ich dabei mit den Tränen kämpfen. Sie hatten etwas, das ich nicht mehr abgeben wollte. Sie fuhren weg… und nahmen ihr Märchenland auch mit.

Ende

Roman Dell

26.01.2012- 05.02.2012
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Beitrag von zuzu »

Seit einiger Zeit gibt es im deutschen Fernsehen eine Doku-Soap, die abenteuerlustige Menschen zeigt, die sich für eine neue Heimat im Ausland entschieden haben. Hin und wieder schalte ich da auch kurz um, na sagen wir… aus persönlichem Interesse. Dabei fällt es mir nicht immer leicht ihre Motive nachzuvollziehen. Vielleicht ist meine eigene Vergangenheit daran schuld. Und darum geht es heute in dieser Geschichte.


[center]Die Auswanderer[/center]



Gut dass, die Deutschen auswandern.
In ihrem eigenen Land sind sie kaum zu ertragen
W.J. Goethe



(Erzählung)


XXX

Nicht nur der große Dichter und Staatsmann Goethe tat sich mit seinen eigenen Landsleuten schwer. Einige meiner einheimischen Kollegen machen das auch. Sie finden Deutschland nicht mehr attraktiv und würden gerne auswandern, zum Beispiel nach Kanada oder Norwegen. Dort ist die Welt noch schön und perfekt, glauben sie.

Auch ein guter Freund meines Vaters hat dem Land der Dichter und Denker den Rücken gekehrt. Er wohnt seit Jahren auf der griechischen Insel Kreta, wo er all das tun kann, was ihm in dem verregneten und geordneten Deutschland schon immer gefehlt hat: unter dem türkisblauen Himmel Attikas in See stechen, die flammenroten Sonnenuntergänge am Pier beobachten und selbst im chaotischen Alltag der Griechen, sich immer noch frei fühlen. Anders als daheim, wo er rund um die Uhr nur der Sklave seiner Pflichten und der Arbeit war, behauptet er. Hier ist er glücklich. Hier geht es ihm gut.

Dabei sind diese Menschen keineswegs eine Ausnahme. Immer mehr Deutsche bekommen Lust auszuwandern. Sie mögen das Leben in ihrem Land nicht mehr. Zu voll, zu laut, zu arm, zu ungerecht ist es im gutem alten Deutschland geworden. Mit all dem Ärger und Übel wollen sie nichts mehr zu tun haben. Das wahre Glück gibt es für sie nur im Ausland. Dort hat man noch eine Chance und Perspektiven. Die Fernsehmacher und Produzenten wissen das gut zu nutzen. Seit einiger Zeit gibt es auch im deutschen Fernsehen eine Doku-Soap, die abenteuerlustige Menschen zeigt, die sich für eine neue Heimat im Ausland entschieden haben. Australien, Spanien, Thailand oder USA. Die Erdkugel ist groß und die Auswahl ebenfalls. Hin und wieder schalte ich da auch kurz um, na sagen wir… aus persönlichem Interesse. Dabei fällt es mir nicht immer leicht ihre Motive nachzuvollziehen. Vielleicht ist meine eigene Vergangenheit daran schuld, denn… ich bin bereits ausgewandert.

Dass ich eines Tages nach Deutschland gehe, dass das Schicksal ein Teil meiner Familie und mich hierhin verschlägt, das hat keiner von uns geplant, gewusst oder angestrebt. Damals lebte ich noch in einem Staat, den es in dieser Form nicht mehr gibt, ging zur Schule und hatte nicht einmal davon geträumt, irgendwann mal, irgendwohin auszuwandern. Wir kannten das Ausland nur als Farbflächen auf der großen Weltkarte. Unsere Grenzen waren dicht und das Leben dort schlicht und beschaulich, wie hinter den dicken Mauern einer unzugänglichen Festung. Niemand hielt es für möglich, dass ihre hohen und starken Mauern eines Tages einstürzen und unser (vielleicht nicht das beste aber zumindest geordnete) Leben auf den Kopf stellen würden. Aber die Menschen sind nur Bauern auf dem Schachbrett der Weltgeschichte. Ein einziger Zug reicht aus, um das Schicksal von Millionen über Nacht zu verändern, (wie der Zerfall der Sowjetunion zum Beispiel) und plötzlich steht man vor den Scherben seines alten Lebens und ist gezwungen, ganz von vorne anzufangen, aber nicht innerhalb sondern außerhalb seines Landes und wird so zum Auswanderer.

Die Auswanderer. Was verbirgt sich hinter diesem unpersönlichen Wort? Welche persönlichen Schicksale, Geschichten und Emotionen stecken dahinter? Jeden Dienstag ab 20:15 kann ich einige davon im Fernsehen verfolgen. Menschen oder Familien, die einen neuen Anfang in der Ferne wagten. Letzte Woche war es ein Handwerker, der seinen Kindheitstraum vom Truckfahren in der verschneiten Wildnis Kanadas wahr gemacht hatte. Und vor ihm ein junges Paar, das von einem eigenen Restaurant und Liebesglück in Thailand träumte. Nächste Woche ist jemand anderes dran. Noch gibt es keinen Mangel an Freiwilligen. Die Kamera begleitet sie überall. Ob der Abschied zu Hause, die Landung am Flughafen oder ihre erste Nacht in der neuen Heimat. Alles ist interessant und wird aufgezeichnet und dokumentiert. Nichts bleibt von ihrem elektronischen Auge unbemerkt. Tränen und Lächeln, Hoffnung und Verzweiflung, Freude und Wut. Hier bekommt der Zuschauer ALLES zu sehen.

Dabei gehen mir ebenfalls einige Bilder durch den Kopf. Bunte und schwarzweiße, aber allesamt aus meinem Leben. Meine Auswanderung und die Ankunft in Deutschland. Ich werde bis heute nicht das Gefühl los, als wäre das alles noch gestern gewesen, obwohl das Ganze schon zwanzig Jahre her ist, so frisch sind die Erinnerungen an diesen Tag. Dieser Flug hat es tatsächlich geschafft, mein Leben und mich für immer in zwei Hälften zu teilen: vor und nach der Auswanderung.
Ich sehe mir die Menschen auf dem Bildschirm an. Ein strahlender Sommertag, irgendwo in Spanien. Das sind die Helden unserer Sendung. Die Auswanderer. In meinem Gehirn läuft bei diesem Wort jedoch ein völlig anderes Kopf-Kino…

XXX

Es beginnt immer mit demselben Bild. Russland. Winter. 1994. Auf den kaputten Straßen der Stadt liegt schmutziger Schnee. Es ist kalt. Auf dem Gasherd pfeift der alte Wasserkocher. Ich sitze in Wollsocken auf der Couch. Vor mir liegt eine Zeitung. Das städtische Tagesblatt. Jeden Tag lese ich dort, wo und wann in unserer Stadt eingebrochen wurde, oder welcher Geschäftsmann heute von der Mafia erpresst oder erschossen worden ist. Mit diesen Jungs ist nicht zu spaßen. Sonst gibt es sofort einen auf die Zwölf. Im besten Fall. Diese Typen sind brutal. Sehr brutal. Einem erpressten Juwelier wurde sogar der Kopf abgeschnitten, weil er mit den Banditen nicht „kooperieren“ wollte. Die Miliz steckt mit den Tätern oft unter einer Decke. Es ist nicht ratsam, sich an die Gesetzeshüter zu wenden. Wir leben in der Gesetzlosigkeit. Man kann nur hoffen, niemals selbst in so eine „Scheiße“ zu geraten. Ein einfacher Bürger ist nur „Opfer“ und „Freiwild“. Man kann ihn jederzeit fertig machen, überfallen und ausrauben. Die Justiz interessiert das nicht. Sie ist blind oder lässt sich kaufen. Einen moralischen Sowjetmenschen gibt es auch nicht mehr. Eher umgekehrt. Die Menschen werden langsam zu Wölfen.

All das hat mein Vater satt. Seit drei Jahren geht das schon so und es wird kein bisschen besser. Ein Land und ein Volk im freien Fall. Aber wie lange noch? Die Menschen auf dem Roten Platz wollten es nur etwas besser haben, als sie auf die Straße gingen, aber ganz bestimmt keinen Bürgerkrieg, keinen vollständigen Kurswechsel oder Anarchie, wie jetzt.
Mein Vater sieht einfach keinen Ausweg mehr und eines Tages ist es raus. – „Ich habe es satt, Leute! Wir fahren nach Deutschland“- sagt er in eisiger Stille nach dem Mittagessen. Seine Stimme ist leise aber entschlossen - „Ich werde nächsten Monat den Antrag zur Ausreise bei der deutschen Botschaft in Moskau stellen.“

Ich bin erschrocken aber nicht verwundert. Irgendwann musste das sowieso passieren. Papas Eltern und Bruder sind bereits in Deutschland. Sie hatten die Nase gestrichen voll. Wir sind die Einzigen, die hier geblieben sind. Noch. Wie es scheint, nicht mehr lange. Seitdem renne ich täglich zum Briefkasten im Hausflur, um dort nach der Post für mich und meine Familie zu sehen. Wir bekommen fast alle möglichen Zeitungen Russlands zugestellt, aber eigentlich warte ich auf den Bescheid. Dieser Bescheid. Unsere Einreisegenehmigung nach Deutschland.
Bis dahin gleicht mein Leben einem Rennen gegen die Zeit. Ich bin nervös und muss ständig mit gemischten Gefühlen kämpfen. Eigentlich habe ich nichts gegen eine Reise nach Deutschland. Sie kommt mir fast wie ein Abenteuer vor und ich bin in dem Alter, wo man davon träumt. Allerdings kenne ich Deutschland nur aus Büchern. Hin und wieder ein Geschichtsfilm aus der DDR. Sachsens Glanz und Preußens Gloria, oder Johan Sebastian Bach zum Beispiel. Deshalb ist „mein Deutschland“ ein historisches Deutschland. Das Land von Goethe und Heine, Dürer und Beethoven. Ein Deutschland von damals, aber nicht von heute. Ich habe keine Ahnung wie das Leben dort jetzt aussieht. Was man dort verdient, isst oder trägt. Mir fehlt der normale deutsche Alltag. Eine reale Welt, jenseits von Filmen und Romanen, der ich schon bald begegnen werde.

Trotzdem bin ich alles andere als glücklich darüber. Der Preis fürs „Dabeisein“ erscheint mir zu hoch. Der Gedanke, dass ich schon bald mein Land, meine vertraute Welt und einen Teil meiner Familie für IMMER verlassen werde, ist die ganze Zeit da, aber ich kann das noch nicht realisieren. Nicht wirklich. Das übersteigt meine jugendliche Vorstellung und Phantasie. Vielleicht kommt es später, wahrscheinlich wenn es richtig losgeht. Ich weiß, dass dieser Moment einmal kommen wird. Vielleicht nicht heute, aber morgen oder übermorgen. Das lässt mein Herz jedes Mal etwas schneller schlagen. Ich will es … und ich will es nicht.
Gleichzeitig werde ich jeden Tag von einer Angst gepackt, die meine Bedenken schnell wieder vergessen lässt. Das ist die Angst vor der Einberufung. Ich bin nur ein Jahr und drei Monate von dem Termin entfernt. Seit dem Beginn der Perestroika ist das kein großes Geheimnis mehr, dass es in der sowjetischen und jetzt auch in der russischen Armee Dedowschina - tägliche Misshandlungen und Gewalt an jungen Rekruten im ersten Dienstjahr gibt. Sie werden von den sogenannten „Opas“, - den Altgedienten, die nur noch sechs Monate bis zur Entlassung haben, ziemlich „hart dran genommen“: Das bedeutet im Klartext, brutal verprügelt und erniedrigt, mit Eisenstangen, Fäusten oder Füßen bis zur Bewusstlosigkeit zusammengeschlagen, einfach so, ohne Grund, nur weil sie „Frischlinge“ sind. Die Militärführung nimmt diese Sauerei kaum zur Kenntnis. Angeblich werden die Männer dadurch zu MÄNNERN. Aber das ist nur das eine Übel.

Das zweite Übel ist der tschetschenische Krieg. Ich weiß nicht, warum es ihn überhaupt gibt. Noch gestern waren wir doch alle Brüder und Schwestern, haben friedlich unter einem Himmel und im selben Land zusammengelebt und uns prima verstanden. Ohne Blutvergießen, ohne Probleme. Warum müssen wir uns plötzlich gegenseitig bekämpfen? Was haben die da auf einmal für ein Problem mit uns? Es fühlt sich sowie so komisch an, dieses Wort „Krieg“, ein Wort aus der Welt der schwarzweißen Wochenschau, plötzlich und jetzt, in unserer Zeit der Moderne, zu hören und auszusprechen. Kann der Mensch einfach nie aus seinen Fehlern lernen?
Keiner begreift, was dort los ist, außer dass es um irgendeine „Unabhängigkeit“ geht. Aber warum und von wem? Das verstehe ich nicht. Wir haben doch immer alles geteilt. In den Zeitungen steht nichts Neues. Der Säufer Jelzin schickt täglich neue Truppen und Technik in den Kaukasus. Solche Milchgesichter wie mich, nach einer drastisch verkürzten Grundausbildung. Und Dedowschina? Die Herrschaft der alten Männer? Die gibt es auch noch.
Ich weiß nicht, was besser ist: oberflächlich vorbereitet, mitten in den Kampfhandlungen als Kanonenfutter zu stecken oder diese tägliche Tortur und die Prügel der Altgedienten über sich ergehen zu lassen? Ob man beides ein Jahr lang ohne große Schäden übersteht? Ein Jahr, bis es vielleicht besser wird?

Am meisten habe ich jedoch Angst als Krüppel nach Hause zurück zu kommen: mit kaputten Nieren, vergiftetem Magen oder amputierten Gliedern. Invalide und Krüppel kann Russland nicht gebrauchen. Als Krüppel und Invalide ist ein Leben in unserem Staat nichts wert. Solche Menschen können nur auf ihre Familie zählen, falls sie eine haben und diese stark genug ist und zu ihnen hält. Die Regierung und die Gesellschaft tun kaum etwas für sie. In solchen Augenblicken erscheint mir die Auswanderung schon wie eine Rettung, aber was tun, wenn der Antrag zu spät kommt, oder noch schlimmer - nicht genehmigt wird? Der Gedanke an das Militär treibt mich in den Wahnsinn. Mir bleibt nur die Hoffnung. Die Hoffnung stirbt immer zuletzt. Jemand in der Schule hat uns erzählt, dass man in Ruhe gelassen wird, wenn man eine athletische Figur hat und so aussieht, als könnte man Kung-Fu oder Karate. Das ist kindisch und naiv, aber durchaus verständlich. Ein dünner Rettungsstrohhalm, nach dem man unbewusst greift. Ich auch.

Deswegen stemme ich Gewichte und mache Liegestütze. Dutzende von Liegestützen. Jeden Tag. Und einen Spagat, wie Jean Claude van Damme, den kann ich auch schon. Ich weiß nicht, ob mir das später wirklich hilft, die „Opas“ in Schach zu halten, aber das verschafft mir zumindest etwas Ruhe. Ich kann meine Angst dadurch besser bündeln, leichter kontrollieren. Und während ich weiter schwitze und die Liegestütze mache, stelle ich mir immer wieder diese quälende Frage, was am Ende hier schneller sein wird: mein Einberufungsbefehl… oder der Bescheid aus Deutschland.
Die Auswanderer. Nur ein Wort auf dem Papier, aber so viele Bilder und Gefühle, Orte und Erinnerungen, die dabei plötzlich vor meinen Augen entstehen. Immer wieder. Ein unbeheizter Klassenraum und zwei Namen auf der Schultafel. Ein Mädchen und ein Junge. Das sind wir - meine Schwester und ich. Darunter steht in Schönschrift auf Kyrillisch geschrieben:


Unsere Schüler gehen nach Deutschland.
Donnerstag. 10:00 Uhr .
Verabschiedung.


Obwohl man ihnen von Kindesbeinen an von den Gräueltaten der Nazis berichtet hat und jeder Russe ein gespaltenes Bild von Deutschland in sich trägt, sind sie trotzdem alle gekommen, um meiner Schwester und mir Lebewohl zu sagen und viel Glück zu wünschen.
Das ist nicht selbstverständlich. Überhaupt nicht selbstverständlich. Bis zum August- Putsch haben die Lehrer uns immer gelehrt, eine Auswanderung sei mit einem Landesverrat zu vergleichen. Ein guter Bürger und Patriot tut das nicht. Es gibt keine glücklichen Russen in der Fremde. Man lebt und stirbt in seinem eigenen Land. Unsere Klassiker haben das doch bewiesen. Aber heute herrschen andere Zeiten. Sie verurteilen uns nicht. Ganz und gar nicht. Wir werden eher im Stillen beneidet. Einer sagt uns sogar, dass das keine „richtige“ Auswanderung und folglich auch kein „Verrat“ ist, weil wir zur Hälfte Deutsch sind. Und Deutsche leben nun mal in Deutschland. Man ist dort nicht wirklich in der „Fremde“.
Unsere Mitschüler haben für uns ein Bild mit russischen Birken mitgebracht. Es soll meine Schwester und mich in der neuen Heimat immer an unser Leben und an unsere Wurzeln hier erinnern. Ich fühle mich gerührt. Zutiefst gerührt. Russische Birken - ein Symbol Russlands und das Sinnbild eines russischen Menschen. Seine Liebe ist rau und zart zugleich. Warum nur? Woher dieser krasse Widerspruch? Wer weiß das schon! Mit dem Verstand konnte man Russland noch nie begreifen. Das ist und bleibt das ewig ungelöste Rätsel der russischen Seele.

Die Auswanderer. Und plötzlich ist der Moment da. Davor gab es eine kurze, schlaflose Nacht, das Aufstehen im Morgengrauen, Rührei, das man vor Aufregung kaum herunterkriegt und eine lange Fahrt mit dem klapprigen UAZ 452 Bus zum Flughafen in der Nachbarstadt. Meine Großmutter fährt ebenfalls mit, obwohl sie über siebzig ist und sich nicht aufregen darf. Sie weiß nicht wann und ob wir uns wieder sehen. Sie ist keine Deutsche und darf nicht mit. Dieser Termin ist für sie ein MUSS. Sie will bei der Verabschiedung dabei sein, koste, was es wolle. Auch wenn sie mit einem Nervenzusammenbruch oder einem Herzinfarkt dafür bezahlt.
Im Wagen herrscht eine düstere Stimmung. Wir wissen nicht, was mit uns gleich passiert. Gleich - heißt eigentlich nach der Landung. Ich starre schweigend aus dem Fenster und sehe mir die kilometerweise unbesiedelte Fläche an: Wälder, Müllhalden, Felder und mitten in dieser trostlosen Einsamkeit ein alter Salettl- ein schöner Gartenpavillon mit schmutzigen Alabastersäulen, vielleicht noch aus der Zarenzeit, aber inzwischen völlig verlassen und zerfallen. Das ist mein Land heute. Irgendwie schmerzhaft, aber auch symbolisch. Das letzte Bild Russlands, das ich mit meinen eigenen Augen noch zu sehen bekomme…
Die Auswanderer. Ein altes Flugzeug. Ich kenne dieses Model nur vom Fernsehen. Das ist ein Tu-154, ein Tupolev- Passagierjet und der ehemalige Stolz der sowjetischen Luftfahrttechnik. Diese Maschine bietet bis zu 180 Plätze. Es ist so weit. Alle Fluggäste, die jetzt wie Hühner im Käfig eng nebeneinander sitzen, haben nur einen Hinflug gebucht. Keinen Rückflug. Sie haben nicht vor, zurück zu kommen. Sie sind genau wie wir – Russlanddeutsche - und werden die russische Föderation bald verlassen. Ich bin aufgeregt. Das ist mein erster Flug überhaupt. Der Vogel aus Stahl ist riesengroß. Mein Vater bestellt bei der mürrischen Stewardess unbestimmten Alters ein Glas Igristoe- der sowjetische Sekt. Er ist müde, aber auch erleichtert. Die letzten vier Jahre haben ihm ordentlich zugesetzt. Er ist ausgebrannt. All diese Zeit lebten wir in einem Staat, in dem nichts mehr funktionierte, nichts mehr wie früher war. Früher - bevor der August 1991 kam.

Diese drei Tage haben nicht nur ein ganzes Land, sondern gleich die gesamte Nation komplett verändert. Ganz Russland ist zu einem rechts-und gewissensfreien Raum geworden, in dem ab sofort nur das Geld und das Recht des Stärkeren zählten. Dabei wollten die Kommunisten einen perfekten Menschen aus uns machen und hatten Gier und Neid an den Pranger gestellt. Jene Gier und Neid, die jetzt zur Tugend der neuen Zeit erklärt wurden und die Herzen der Menschen wie eine Pest zerfressen. Ich weiß nicht, was für ein Land wir jetzt sind. Sozialistisch jedenfalls nicht mehr. Die Regierung führt ihr eigenes Leben. Das tut sie. Ein einfacher Mensch kümmert sie schon lange nicht mehr. Unsere Fabriken und Werke stehen leer. Das alte, karge aber dafür geordnete Leben existiert nicht mehr. Die Menschen bekommen seit Monaten keinen Lohn oder keine Rente ausgezahlt. Erpressung, Korruption, Raub und Mord sind inzwischen zum Alltag geworden. Das schockiert niemanden mehr. Man tut, was man kann und versucht zu überleben.

Viele Betriebe und Arbeitgeber bezahlen ihre Leute in Naturalien. Wenn einer in einer Nagel- oder Schraubenfabrik arbeitet, bekommt er sein Gehalt mit Eisennägeln oder Schrauben ausgezahlt. Man lebt vom Markt: als Käufer oder Verkäufer, wo man diese „.Erzeugnisse“ untereinander verkauft oder austauscht. Jeder ist verrückt nach dem großen Geld oder nach dem eigenen Geschäft. Die Einen streben bewusst danach, Unternehmer und Kapitalisten zu werden, die anderen sind - schlicht und einfach - dazu gezwungen. Der Hunger kennt kein Gewissen und keine Ideologie. Viele Lehrer, Ingenieure oder Ärzte schmeißen ihren miserabel oder gar nicht mehr bezahlten Job hin und werden über Nacht zu frischgebackenen Händlern und Geschäftsleuten. Sie fahren nach Polen, China oder in die Türkei, wo sie sich mit billigen Massenbedarfsgütern eindecken, um diese zu Hause günstig zu verkaufen. Von dem Erlös lebt man ein paar Wochen bis zur nächsten „Tour“. Das ist normal. Das ganze Land macht diese Hysterie mit.

Mein Vater hat auch versucht, ein Geschäftsmann zu werden, aber er hat keinen Geschäftssinn. Ihm fehlen die Härte und die Gerissenheit, die man für das „Business“ in Russland braucht. Er hat ein Leben lang bei der Stadtverwaltung in Führungsposition gearbeitet und zunächst einen Fuhrpark, später das Straßenbahndepot und zuletzt den städtischen kommunalen Dienst geleitet. Ehrlich, fleißig, sparsam und effizient, wie man es von einem Deutschen traditionell erwartet. In dieser neuen Gesellschaftsordnung der Starken und Halbstarken sind seine Tugenden und seine Talente nicht mehr gefragt. Sie sind zur Last und zum Relikt der Sowjetära geworden. Harte Arbeit und Fleiß sind Utopie und zahlen sich nicht mehr aus. Jetzt hat die Ellbogenmentalität den Vorrang. Man muss die richtigen Leute oben kennen, sich mit Kriminellen und Banditen gut verstehen können, skrupellos und bereit sein, über Leichen zu gehen. Sonst ist man sehr schnell raus aus dem Geschäft.
Mein Vater ist kein krutoj.- ein Cooler, ein Hartgesottener, ein Rowdy. Dieser „russian extreme“ ist nichts für ihn. Das kann er nicht, das konnte er nie. Er gibt auf. Ihm fehlt die Kraft. Er ist ein Russlanddeutscher. Das ist seine einzige Rettung und Option. Die Auswanderung. Wenigstens haben wir die Wahl. Die Anderen müssen bleiben und zusehen, wie sie in diesem Chaos weiterkommen. Mein Vater nicht. Er will eine neue Existenz aufbauen, aber nicht mehr hier. Dieser Flug ist für ihn ein Schlussstrich, der sein altes und sein neues Leben voneinander trennt. Für immer. Wir heben ab und mein Russland löst sich in den Wolken auf. Er nimmt sein Glas und trinkt auf die Zukunft …und mein Herz brennt.

Die Auswanderer. Aus der Luft erscheint Deutschland wie eine große Cremetorte. Gelbe, braune und rote Streifen mit einem grünen Überguss drum herum, die sich bei der Landung nach und nach in Felder, Böden, Wälder und Dächer verwandeln… und ein Märchen entsteht. Welcher Emigrant kennt diesen bewegenden Moment nicht? Der Augenblick, in dem man der neuen Wahlheimat zum aller ersten Mal ins Gesicht blickt. Erwartungsvoll, neugierig aber auch ängstlich und unsicher, wie beim Anblick eines schönen Mädchens. Ob in Amerika, Deutschland oder Israel. Diese Gefühle sind immer gleich.

Ich stehe am Zoll und starre alles um mich herum an. Diese neue Umgebung wirkt auf mich beindruckend und einschüchternd. Der Flughafen ist riesig und prahlt mit Farben, Spiegeln und Lichtern, die ich nur aus den schlechten Raubkopien der amerikanischen Filme kenne, die in der ganzen Sowjetunion und jetzt in der GUS im Umlauf sind. Dass ist also diese „andere Welt“, von der man in Russland mit abgöttischer Bewunderung spricht.

Ich bin dran. Ein fülliger Beamte mit Knebelbart gibt mir meinen Pass und die Einreisepapiere zurück. Wir sind doch nicht allein. Mein alter Herr hat vorgesorgt. Ein Freund meines Vaters, den wir noch aus Russland kennen, holt uns hier ab. Sein schwarzer Jeep hat einen breiten Kofferraum und wir - sechs große Koffer dabei. Jeder von uns zwei. Sechs Stoffkoffer und zwei rotkarierte chinesische Reisetaschen, voll gestopft mit unserem alten Leben. Ich habe noch nie eine Tiefgarage live gesehen. Ihre Stockwerke bilden eine lange Spirale, voll von lackierten Autos, Mopeds und Motorräder, die im grellen Licht der Lampen verführerisch glänzen. Wir fahren raus zur Autobahn. Vorher sehe ich noch rasch ein paar Häuser, Straßen und Tankstellen eines fremden Lebens an mir vorbei ziehen. Eines fremden Lebens… das jetzt auch meins ist.

Die Auswanderer. Ein Monat in Deutschland. Ein Monat in der neuen Heimat. Ich fühle mich immer noch wie ein Gast. Auch jetzt. Ich stehe in der Einkaufsstraße und atme den herben Duft des Frühlings ein, der mit der landfrischen Luft der Felder und den Geruch von Brennholz vermischt ist. Der Duft ist sehr stark und sehr intensiv. Das ist etwas, das mir kein Mensch in Russland glauben würde, sollte ich jemandem tatsächlich über den Westen und Deutschland schreiben oder erzählen. Für sie ist das Ausland der Inbegriff für etwas Schönes, Glanzvolles und Besonderes, das über alles Irdische im Alltag der Russen erhaben ist, es sogar sein muss. Zumindest in ihren Köpfen. Dort, im Ausland ihrer Phantasie, in diesem Märchenland mit gebratenen Hähnchen und goldenen Flüssen, kann es nur die absolute Schönheit, Glück und tolle Aromagerüche geben. Kein Brennholz, keinen Müll oder keine Jauche. Nichts, aber gar nichts, aus dem gewöhnlichen Leben der Menschen. Dagegen ist nichts zu machen. Sie sind verliebt in dieses Märchen. Etwas Anderes wollen sie gar nicht haben oder hören.

Dabei sehe ich zufällig mein eigenes Spiegelbild im großen Schaufenster eines Schuhgeschäfts. Ich brauche neue Turnschuhe für den Sportunterricht. Wir möchten mit dem Onkel hier gleich welche aussuchen. Ich sehe im Spiegelbild einen jungen Mann, der (nach russischen Maßstäben ziemlich nachdenklich und ernst) für westliche Vorstellungen jedoch sehr böse und mürrisch, zurückschaut. Ich bin verwirrt und fühle mich von den jüngsten Ereignissen und Veränderungen in meinem Leben völlig benebelt und überrumpelt. Plötzlich aus der Bahn gerissen. Ich glaube zu träumen und kann es immer noch nicht fassen, dass all das hier wirklich mit mir passiert. Dass ich den Krallen des russischen Militärs entkommen bin, aber dafür jetzt diesen Preis bezahle: Das Leben und Sterben im Exil. Dass ich mich so eben zwischen Heimat und historischer Heimat, zwischen Mutter und Vater, zwischen Herz und Vernunft entschieden habe und mit dieser Wahl für immer leben muss. Aber ich lebe. Ich lebe!!!
Mein Herz nimmt ein Bad aus Schmerzen und Erinnerungen. Ich habe Sehnsucht erfahren. Ich ahnte nicht, wie sehr dieses Wort, das ich sonst nur aus Büchern kenne, im wahren Leben weh tut. Der Himmel über meinem Kopf, die Luft, das Gras, die Häuser und Straßen sind jetzt alle deutsch. Das ist normal, aber daran muss man sich erstmal gewöhnen. Nicht einfach, wenn man vorher noch nie die andere Welt gesehen hat, überhaupt im Ausland gewesen ist. Nicht einmal in einem befreundeten, sozialistischen Ausland, wie Bulgarien, Ungarn oder Polen. Das macht bei der Auswanderung übrigens sehr viel aus. Wenn ein Deutscher nach Frankreich geht, bekommt er da ein anderes Land zu sehen, das seinem Weltbild trotzdem sehr ähnlich ist. Mehr oder weniger. Wenn ein Osteuropäer nach Westen kommt, steht er gleich einer völlig neuen Zivilisation gegenüber.

Diesen Eindruck habe ich jedenfalls. Ich fühle mich geistesabwesend und habe dauernd das Gefühl, in meinem Körper leben zwei verschiedene Menschen. Der erste, den ich gut kannte, starb damals im Flugzeug und ich schleppe jetzt nur noch seine Leiche mit. Der andere, im Grunde ein Fremder, wurde direkt am Flughafen in Düsseldorf geboren und steht jetzt gerade vor dem Spiegel im Kaufhaus.

Das Deutschland, das ich dabei in Augenschein nehme, ähnelt dem Märchenland auf der hübsch gemalten Blechschachtel mit Nürnberger Lebkuchen, das bis dahin meine einzige Vorstellung von diesem Land blieb. Vieles von dem Bild auf der Schachtel erkenne ich auch im Stadtbild der Innenstadt wieder: Hübsche Blumenkübel, Straßen und alte Fachwerkhäuser, die sich als kleine Restaurants und Gaststätten entpuppen. Alles harmonisch und liebevoll gestaltet. Eine wahre Idylle… und ich mittendrin.

Ich kann mich selbst nicht ausstehen. Meine Wenigkeit in diesem Bild ist genau so störend wie ein Tintenklecks auf einem Renaissance -Gemälde. Ich fühle mich nicht wie ein Bestandteil,… eher wie ein Fremdkörper. Wird sich das eines Tages ändern?
Die Auswanderer. Wieder in Deutschland. Ich sitze am Schreibtisch in einem halbgefüllten Übergangswohnheim und übersetze einen Zeitungsartikel. Das ist ein Ausschnitt aus dem TV-Magazin in dem es um den französischen Thriller „ Der Schock“ mit Alain Delon geht. Der Satz „ Christian will die Knarre an den Nagel hängen“ macht mir richtig zu schaffen. Ich komme nicht weiter. Dieses Wort Knarre ist mein gordischer Knoten bei der Eroberung der deutschen Sprache. Dieser komische Begriff steht nicht in meinem Wörterbuch, das ich extra für solche Fälle aus Russland mitgenommen hatte. Anders als Kolchose, Ausstellung der sozialistischen Errungenschaften, Parteikamerad oder Lenin-Denkmal. Alles nutzlose Sätze und Worte, wenn man sich auf einmal unter den „echten“ Deutschen befindet. Mein Wörterbuch ist überholt. Er stammt noch aus den alten Sowjetzeiten.

Ich fühle mich hilflos, aber eine Erinnerung aus meinem Leben, kurz vor der Auswanderung, hindert mich jedes Mal daran, „das Handtuch zu werfen“. Diese Erinnerung spielt sich in Russland ab. Es ist Sommer, August, und mein Vater hat seit einem halben Jahr seine Arbeit als Leiter des Kommunalen Dienstes bei der Stadtverwaltung verloren. Er arbeitet jetzt in einem kleinen Lebensmittelladen, den er zusammen mit seinem Freund schmeißt. Heute Morgen haben sie dreihundert Kisten mit Kirschen und Obst bekommen und bis zum Mittag, bei glühender Sonne, zu zweit ausgeladen. Er kommt nach Hause, müde und klatschnass, holt sich ein frisches Hemd aus dem Schrank und gibt uns - meiner Schwester und mir - das Geld für den Deutsch-Unterricht. Seit feststeht, dass wir nach Deutschland auswandern, hat Papa eine alte Deutschlehrerin, ebenfalls eine Russlanddeutsche, für uns engagiert. Sie soll uns die Sprache unserer historischen Heimat, so gut es geht, beibringen. Das klingt nach Luxus und auch wenn ihr Honorar symbolisch ist (wir Russlanddeutsche halten immer zusammen): dieses Geld muss man erstmal verdienen. Die Dame weiß nichts von unseren Plänen und setzt auf Gründlichkeit, die wiederum Zeit erfordert. Zeit, die wir nicht haben.

Meine Lehrerin ist eine typisch sowjetische Lehrerin: privat, nett und sanftmütig, aber streng und gnadenlos im Unterricht. So muss das sein, damit es funktioniert. Ich habe bis morgen Zeit, um einen Auszug aus Goethes Wanderlied auswendig zu lernen, wobei ich allen Grund zum Zweifeln habe, ob das im Hinblick auf die bevorstehende Auswanderung wirklich die richtige Lernpraxis ist – Gedichte und Lieder statt Vokabeln und Sätze zu lernen. Überhaupt habe ich große Zweifel, dass ich dieser Aufgabe, eine Fremdsprache zu sprechen, sie zu beherrschen, jemals gewachsen sein werde. Das Geld meines Vaters erscheint mir jetzt schon als eine komplette Fehlinvestition. Zumindest bei mir. In dem Moment, als ich auf sein verschwitztes gestreiftes Hemd blicke, während seine Hand mir den Geldschein für die Lehrerin gibt, werde ich von Scham und Gewissensbissen gepackt. Ich muss mich beherrschen, um nicht zu weinen. Mein Vater tut mir auf einmal Leid. Während er in der Hitze Kisten mit Obst schleppt, habe ich nichts Weiteres zu tun, als in der kühlen Wohnung ein paar Lieder und Vokabeln zu lernen. Ich, ein junger, gesunder, und kräftiger Bursche, der eigentlich anstelle meines alten, kranken Vaters die schweren Kisten schleppen sollte. Ich muss ein Mann sein, anstatt in Selbstmitleid zu zergehen. Diese Scham half mir damals in Russland. Diese Scham hilft auch jetzt in Deutschland.

Ich lerne weiter. Die Lösung kommt plötzlich und unerwartet. Abends bekommen wir einen kurzen Besuch von unserem Onkel, der früher selbst Deutschlehrer an einer sowjetischen Schule war und jetzt in der Nähe des Übergangsheimes lebt. Er beendet meine Qual mit einem einzigen Satz. – „Man bezeichnet als Knarre eine Pistole“.- sagt er und lächelt. Und schon ist die Welt wieder in Ordnung. Meine Wut und Depression sind plötzlich weg.
Die Auswanderer. Das letzte Bild. Dieses Mal zwanzig Jahre später. Ein Italienurlaub im sonnigen Mailand. In unserem Hotel gibt es ein Satellitenfernsehen und an die Hundert fremdsprachige TV-Kanäle. Als ich nach einer Reihe englischer und arabischer Sender plötzlich Deutsch von dem Bildschirm höre, reagiert mein Gehör so, als wäre diese Sprache meine Muttersprache: die Wörter hören sich heimisch und bekannt an. Direkt danach kommen auch ein paar russische Kanäle. Ich schalte um und merke plötzlich… dass ich nichts mehr merke. Kein Übergang, keine Barriere, überhaupt nichts mehr. Nur ein Informationsfluss. Ich nehme die Gedanken der Menschen wahr, nicht die Sprache in der sie sie äußern. Das ist faszinierend… und erschreckend.

Dabei habe ich mich am Anfang doch so schwer mit der Sprache und mit dem Leben hier getan. Das ist inzwischen eine alte Geschichte. Seit ich zweisprachig geworden bin, sind meine Gefühlswelt und meine Wahrnehmung total durcheinander. Die Auswanderung, dieses Leben in einer anderen Welt, haben mich völlig verändert und gespalten. Ich weiß nicht mehr, wer ich wirklich bin. Ich kann nicht sagen, wohin ich tatsächlich hingehöre. Hier oder da? Bin ich eher ein Russe oder doch ein Deutscher? Ich habe zwei Seelen, aber nur einen Körper. Aber hat nicht jeder Auswanderer dasselbe Problem?


XXX

Das Leuchten des Bildschirmes unterbricht die Reihe der Erinnerungen, die in meinem Kopf ablaufen. Ich bin wieder in Deutschland und in der Gegenwart gelandet. Hier versucht das Familienoberhaupt gerade etwas in gebrochenem Spanisch zu bestellen. Seine Aussprache ist falsch. Das ist das Gemeine an den Fremdsprachen. Nur eine Silbe und schon entsteht ein völlig anderer Sinn. Die Angestellten im Baumarkt sehen ziemlich ratlos aus. Sie wissen immer noch nicht, was dieser deutsche Riese von ihnen will. Erst als unser Auswanderer ihnen seinen Einkaufszettel zeigt, hellen sich ihre Gesichter langsam auf. Das Problem ist gelöst. Die Soap-Sendung läuft weiter und ich muss an der Stelle ungewollt schmunzeln. Diese „Strapazen“ kommen mir sooooo bekannt vor. Ich habe das alles hinter mir.

Die erste Zeit im Ausland ist oft von Fehlern, Niederlagen und skurrilen Situationen geprägt. Jeder Auswanderer weiß wovon ich rede. Es ist nicht einfach, sich im neuen Alltag zurecht zu finden, selbst wenn man sich freiwillig für dieses Leben entschieden hat. Nicht alles klappt sofort oder ist, wie man es sich zu Hause vorgestellt hatte. Das sorgt für Enttäuschung und Nostalgie. Man fängt an, an sich selbst zu zweifeln und das zurückgelassene Leben zu vermissen. Alles, was man dort so gehasst oder verabscheut hat, erscheint plötzlich nicht mehr so schlimm oder tragisch. Man braucht viel Zeit, bis diese triste Zeit vorüber ist. Zeit, in der man viel über das Leben und sich selbst lernt.

Man entdeckt Dinge, die einem vorher, nicht bewusst waren. Zum Beispiel, wie sehr ein Mensch an seiner Muttersprache hängt, wenn sie plötzlich aus seinem Leben verschwindet, auch wenn er mit der Sprache des Gastlandes bestens vertraut ist. Es sind nicht die Worte allein, die einem fehlen, sondern der Klang, der das Herz und die Seele wärmt. Dass man Orte, an denen man drüben tausend Mal am Tag vorbei lief, plötzlich in Erinnerung hat und sie zu vermissen beginnt, obwohl sie einem früher nichts bedeutet haben. Dass man, wenn man von Heimweh oder Enttäuschung gepackt wird, darüber schlecht mit Einheimischen reden kann, weil man damit ungewollt ihre Gastfreundlichkeit verletzt und jede Form von Kritik hier unhöflich ist. –„Denn schließlich bist du doch freiwillig hier“- würde man dann in ihren Augen lesen können.

Ein Leben im Ausland bedeutet auch harte Arbeit. Nicht nur im Job. In erster Linie an sich selbst. Rumfeilen, bis alle Ecken geschliffen sind. Bis man zum Einheimischen wird. Dabei ist die Sprache besonders wichtig, denn die paar Brocken Spanisch oder Englisch, mit denen man bis jetzt das Lob der Einheimischen im Urlaub kassierte, reichen für ein einwandfreies Dauerleben hier nicht aus. Man würde sich sonst in der Sprache gefangen fühlen, wie ein Zeh in einem zu engen Schuh, der ständig schmerzt.

Ich muss dabei ungewollt an die Zeiten denken, in denen ich den Kampf mit der deutschen Sprache und mit dem Heimweh nahezu täglich führte. Wie oft habe ich in diesen Momenten alle Deutschen in Deutschland beneidet. Sie lebten in einem reichen und sicheren Land, gingen in Läden voller Waren und Lebensmittel, sprachen ihre Sprache und mussten nirgendwo auswandern, nur weil einem der Einsatz im Krieg drohte oder das Brot zum Leben fehlte. Sie konnten andere Länder bereisen und Sprachen erlernen. Sie konnten - ja, aber sie mussten es nicht. Diese Wahlfreiheit war ihr Glück und ihr Privileg. Ich hielt die Deutschen für ein glückliches und gesegnetes Volk. Ein Zaubervolk, dem es gelungen ist, ein wahres Märchen auf Erden zu schaffen. Ihr Land war ein Märchenland und ein Beispiel für eine schöne und perfekte Heimat.

Umso größer war mein Erstaunen darüber, als ich eines Tages den Titel einen Sendung auf den Seiten eines TV-Magazins entdeckt habe: Die Auswanderer. Ich hielt das Ganze für einen Witz. Ich konnte nicht glauben, dass es tatsächlich Menschen gibt, die dieses sichere Märchenland - Deutschland - freiwillig verlassen möchten, wo doch die halbe Welt draußen immer noch zu uns rein will? Das ergab für mich keinen Sinn.
Stattdessen dachte ich an diesen jungen Mann vor dem Spiegel des Kaufhauses, dessen zerbrechliche Seele damals zwischen Russland und Deutschland schwebte und seitdem nicht mehr zur Ruhe kommt. An diese Farben und Lichter, die mich wahrhaft faszinierten. Aber auch an die Gesichter der Menschen, an die Straßen und die Parks, an mein Geburtshaus und an russische Birken. An alles, von dem ich mich schon einmal trennen musste, an mein Leben dort, das ich für dieses Leben hier zurück gelassen habe. Ich möchte diese Entscheidung kein zweites Mal treffen müssen.

Wissen die, die Deutschland jetzt für immer verlassen möchten, wie viel Herzschmerz, Sehnsucht, Arbeit und Geduld dafür erforderlich ist? Wissen sie, was „Auswanderung“ wirklich bedeutet?

Ich höre nicht auf, den Westen mit dem Osten und diese Auswanderer mit mir zu vergleichen, mir immer wieder diese Frage zu stellen, ob „ihre“ Auswanderung doch nicht anders als „meine“ ist? Wie viel, von dem was ich damals erlebt habe, in ihrem neuen Leben in Spanien auch vorkommen wird? Was treibt einen westlichen Menschen dazu, ein wohlhabendes Land gegen ein anderes wohlhabendes Land zu tauschen, täglich in eine fremde Haut und Sprache zu schlüpfen und dabei einen Teil seiner eigenen Seele einzustampfen? Ob es wirklich klug ist und sich lohnt, auf all dieses sichere und vertraute Leben von früher freiwillig zu verzichten, wenn dazu, nach meiner Ansicht, keine Not, keine dringliche Notwendigkeit besteht? Ein armes Land gegen ein reiches, ein Land im Krieg, ein Land in Not, würde ich immer verstehen. Aber alles andere übersteigt meinen Verstand. Warum tut man sich so etwas an? Lässt das Land, die Freunde, die Sprache, alles was einem hier wert und lieb ist, für eine Glücksoption dort opfern. Eine Option, die keine Garantie ist.

Ist das das Abenteuer, der Ruf der Ferne, ein Kindestraum oder der Wunsch nach Erfolg? Ich kann das einfach nicht begreifen. Dabei haben sie und ich etwas Gemeinsames –wir sind alle AUSWANDERER.

Eine Sache ist mir nach Jahren doch klar geworden. Selbst ein glückliches und erfülltes Leben in der neuen Heimat wird einem niemals sein altes Zuhause ersetzen können. Zumindest nicht ganz. Alles wird für immer ein wenig anders sein und anders bleiben, auch wenn man sich gut daran gewöhnt hat.
Unsere Auswanderer träumen vom Glück in einer anderen Welt. Die Wenigen haben es bereits gefunden. Sie leben und kosten ihren Traum aus. Es geht ihnen gut. Genau so wie mir. Eines werden sie dabei trotzdem nicht verhindern können. Dass man mitten in diesem selbstausgesuchten Paradies (vielleicht in Norwegen, vielleicht auf Kreta), doch eines Tages die Sehnsucht nach etwas Heimischem entdeckt, sei es auch die Sehnsucht nach einer deutschen Bratwurst. Mich würde das gar nicht wundern...

Ende

Roman Dell

23.06.2013-22.05.2014
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Beitrag von zuzu »

Männer und Frauen sind verschieden. Dagegen ist nichts zu machen. Die wahre Kunst besteht darin, mit all den Mängeln des Gegengeschlechts in Harmonie zu leben. Dass das nicht leicht ist, beweist uns der Alltag. Denn kaum eine Frau schimpft nicht über ihren Mann. Männer können nicht kochen. Männer können nicht putzen. Männer sind herzlos. Männer sind brutal. Die Liste „unserer „Sünden ist ziemlich lang. Aber sind wir Männer wirklich solche Übeltäter oder steckt in uns doch viel mehr drin? Ich habe mir ein paar Gedanken dazu gemacht und bin dabei zu einem erstaunlichen Schluss gekommen: Manchmal sind Männer… bessere Frauen, aber es ist sehr schwer die „richtigen“ zu finden. Heitere Ansichten zu einer todernsten Angelegenheit. Darum geht es heute in dieser Geschichte.



[center]Manchmal sind Männer… bessere Frauen.[/center]

[center](Kurzgeschichte)[/center]


Für unsere Frauen, die uns trotzdem lieben.


XXX

Kaum eine Frau schimpft nicht über ihren Mann. Männer können nicht kochen. Männer können nicht putzen. Männer können nicht zuhören. Männer sind herzlos. Männer sind Schweine. Männer sind brutal.

Diese verwöhnten Nervensägen, die sich (warum auch immer) für Gott, Papst und König in einer Person halten, bringen einem nur Sorgen und Ärger und sonst gar nichts. Aber was hat man als Frau schon für eine Wahl? Männer sind ein Problem, für das es noch keine Lösung gibt. Denn es ist anstrengend, einen Mann zu haben… aber genauso schwierig ohne ihn. Ein wahres Dilemma, in dem sich die Frauen seit den Schöpfungszeiten befinden. Männer sind schuld daran, dass sie so desillusioniert und unglücklich sind.

Und undankbar sind diese Kreaturen auch noch. Man braucht nur an die Mütter und ihre erwachsenen Sprösslinge zu denken. Und überhaupt, ohne das schwache Geschlecht wären alle unsere Söhne, Brüder, Enkel, Väter, Großväter und Ehemänner schon längst ausgestorben und untergegangen. Ein wahres Glück, dass es auf der Erde die Frauen gibt.
All das müssen wir, Männer, uns von den Frauen dauernd anhören. Und wenn man besonderes viel Pech hat, nicht nur zu Hause, sondern auch im Büro. Als jemand, der mit Großmutter, Mutter und Zwillingsschwester aufgewachsen ist, weil mein Vater aus beruflichen Gründen sehr spät (und manchmal gar nicht) nach Hause kam, sind mir die „ Mängel“ und „Vergehen“ meines eigenen Geschlechts durchaus bekannt und bewusst und ich bemühe mich aufrichtig besser und anders zu sein.

Trotzdem kann ich bei aller Liebe das starke Geschlecht nicht generell als Übeltäter bezeichnen, auch wenn vieles an den Klagen der Frauen der Wahrheit entspricht und absolut gerechtfertigt ist. Männer und Frauen sind schon verschieden, aber müssen die Fronten deswegen so verhärtet sein?

Als ich erneut eine Kollegin verächtlich „Männer!“ sagen hörte, konnte ich das nicht mehr wie sonst reumütig hinnehmen, (einer muss ja für seine Artgenossen gerade stehen) und habe beschlossen zur Feder zu greifen. Ich musste uns Männer einfach in Schutz nehmen und habe mir dabei ein paar Gedanken dazu gemacht…

XXX

Dabei fiel mir auf, dass nicht alles an uns sooooo schlecht ist. Ich versuche das einfach zu beweisen. Es gibt Dinge die wir Männer sehr gut können und beherrschen … Kochen zum Bespiel. Auch wenn die eine oder andere Frau an dieser Stelle jetzt laut „Hä?“ sagt. Männer, die kochen? Ja! Uns gibt’s wirklich. Ihr werdet mir glauben.

Mag sein, dass eine Frau zu Hause die Küche beherrscht, in der Welt der Gastronomie sieht das Ganze anders aus. Johan Lafer, Tim Mälzer, Horst Lichter, Christian Rach, Jamie Oliver, Alfons Schubeck und Nigel Slater sind nur einige prominente Vertreter aus den Reihen der männlichen Köche, die diese (angebliche) „Frauenarbeit“ von Generation zur Generation tun und uns jeden Tag schöne und leckere Gerichte kreieren und vorsetzen. Dass Männer die besten Köche sind, brauchen sie niemandem zu beweisen. Sie wissen selbst, dass das einfach stimmt. Das ist aber auch nicht das Einzige, was mein Geschlecht noch vorweisen kann.
Das zweite Steckpferd heißt nämlich die Mode. Auch völlig irre und kaum zu glauben, dass wir Männer, Geschmack und Phantasie haben können und sogar gut darin sind.

Jedes Mal, wenn ich eine bildhübsche Frau auf der Straße vor sich hin stolzieren sehe, fühle ich mich von leisem Triumph und Schadenfreude erfüllt, wenn ich nur daran denke, dass das schöne Kleid, die Schuhe, die Handtasche, der Schmuck, die Strümpfe und das Parfüm, die unsere Schöne gerade so selbstbewusst in der Öffentlichkeit trägt und für ihren persönlichen Ausdruck der eigenen Individualität hält, in Wirklichkeit…oft der Phantasie und Kreativität eines Mannes entsprungen ist.

Auch das ist und bleibt eine überwiegend männliche Domäne. Karl Lagerfeld, Jean Paul Gaultier, Yves Saint Laurent, Gianni Versace, John Galliano, Calvin Klein, Christian Lacroix, Christian Dior, Guy Laroche, Takado Kenzo, Ralf Simon, Jeremy Scott; Paco Rabanne, Guccio Gucci, Pierre Cardin, Wolfgang Joop, Harald Glööckler, Rudolph Moshammer oder Louis Vuitton. Diese Liste der berühmten männlichen Designer und Modeschöpfer ist ziemlich lang. Zwar haben Frauen wie Coco Chanel, Nina Ricci, Stella McCartney oder Jil Sander sich im Laufe der Zeit in dieser Glamourwelt der Männer behauptet, aber verdrängt, verdrängt haben sie sie aus dem Gewerbe nicht.

Auch hier kann man als starkes Geschlecht durchaus punkten. Eine schöne Frau in einem schönen Kleid, das von einem Mann geschnitten und entworfen ist, wo die Männer doch nichts von den Frauen wissen und verstehen?…. Kann die Rache noch schöner sein? Aber muss denn dieser Wettstreit überhaupt sein?

Trotzdem geht der Kampf der Geschlechter einfach weiter. Und wenn schon Männer selbst solche Bücher wie „Wozu sind Männer eigentlich überhaupt noch gut?“ schreiben und publizieren, ist das kein Wunder, dass Frauen und Feministinnen einen Mann generell in Frage stellen und dabei ziemlich radikal mit ihm umgehen, indem sie sagen: „Wozu braucht die Frau heute eigentlich noch einen Mann? Kochen und putzen können wir selbst. Und für den Rest gibt es, Gott sei Dank,…die Beate Uhse!“

Das tut weh und geht wirklich zu weit. Der Mann als Auslaufmodell? Das geht gar nicht. Auch Männer können leiden und fühlen und sind für die Schönheit, genau wie Frauen, sehr empfindlich. Sehr sogar. Dass das Herz eines Mannes nicht aus Stein ist, beweist uns die Weltliteratur. Und schon sind wir beim Thema Männer und Gefühle.

Frauen halten das starke Geschlecht für unfähig zur Liebe und Treue. Ist ein Mann generell dafür geeignet? Gewiss doch! Warum denn nicht? Dabei stammen die meisten Liebesgeschichten aus den Federn von Männern, denen man so oft Mangel an Gefühlen und Sensibilität vorwirft.

Dass wir dennoch im Stande sind, die schönsten und rührendsten Liebesgeschichten der Welt zu schreiben und uns durchaus in die Gefühlslage einer Frau zu versetzen, ist eine Tatsache, die durch das eine oder andere Klischee immer wieder verdrängt wird.

Ich spreche die Wahrheit und um das zu beweisen, brauche ich nicht einmal Romeo und Juliet zu erwähnen, die wohl berühmteste und tragischste Liebesgeschichte aller Zeiten, von einem Mann Namens William Shakespeare erfunden und geschrieben. Oder auf die Die Leiden des jungen Werthers von Johann Wolfgang von Goethe, Anna Karenina von Leo Tolstoj oder Madame Bovary von Gustave Flaubert zu verweisen.

Auch die Schriftsteller der Moderne haben den Frauen genügend schöne und zärtliche Verse gewidmet, wie der von mir sehr geschätzte algerische Schriftsteller Yasmina Khadra, der einen schlichten und wunderbaren Satz zum Thema Liebe schrieb, ohne dabei übertrieben sentimental oder ja sogar kitschig zu sein: „ Damals, als ich der Liebe begegnete, hatte ich gedacht, ja, das ist es, ich lebe, statt zu existieren, und ich hatte mir geschworen, alles zu tun, um mein Glück für immer und ewig zu bewahren“ ( Yasmina Khadra. Die Landkarte der Finsternis. Ullstein Verlag. 2013)

Auch der angehende Star des französischen Liebesromans Nicolas Barreau findet für Liebe und Frauen immer die richtigen Worte, wie auch in seinem Buch Menu d´amour, wo der junge Franzose diesmal folgendes schreibt: „ In jener Nacht wurde die kleine Mansardenwohnung in dem schiefen Haus in der Rue Mouffetard zu einem glücklichen Ort. Ich habe später in größeren Wohnungen gewohnt und in schöneren. Ich habe in breiteren und weicheren Betten geschlafen. Doch mein Glück war nie größer als dort, wo wir engumschlungen auf einer schmalen Matratze lagen, dem Regen lauschten, der auf das Dach prasselte, und ganz leise wurden vor Liebe“ (Nicolas Barreau. Menu d´amour. Thile Verlag. München.2013) Rührend, aber nicht kitschig, nicht wahr?

Mit fast 80 000 000 verkauften Exemplaren ist der US-Bestsellerautor Nicolas Sparks der erfolgreichste Schriftsteller im Genre der Frauenliteratur und mit Sicherheit auch ein Frauenversteher. Denn eines steht für mich fest. Die vielen Frauen, die diese Romane weltweit gelesen haben, können sich ganz bestimmt nicht irren. Dieser Mann weiß, was die Frauen von ihm wollen.

Die großen Maler und Bildhauer der Weltgeschichte waren ebenfalls überwiegend Männer. Frauen wie Camille Claudel oder Frida Kahlo blieben hier, nach wie vor, eine Randerscheinung. Aber nicht nur Schriftsteller und Künstler können mit der Welt der Frau etwas anfangen. Psychologen und Frauenärzte tun das auch. Die meisten davon sind auch Männer, die sich täglich mit den Problemen der Frauen auseinandersetzen und ihren Körper und Geist heilen.
Das zeigt dem schwachen Geschlecht dass wir Männer doch nicht verloren sind. Wir können auch anders, wenn wir wirklich wollen. Sollen die Frauen doch von uns denken, was sie wollen.

XXX

Im Kampf der Geschlechter stecke ich zwischen beiden Fronten. Ich bin ein Mann, der die Frau zu verstehen versucht. Wenn’s nach mir geht, müssen unsere Geschlechter keinen Krieg miteinander führen und sich dauernd etwas beweisen oder darüber streiten, wer im Leben die Hosen an haben soll, wer Recht hat und wer nicht. Das ändert nichts. Wir sind so wie wir sind und dabei bleibt’s. Die wahre Kunst ist damit zu leben. Das versuche ich jedenfalls.

In der Mittagspause plaudere ich immer mit unseren netten Vorzimmerdamen, die mir stets einen leckeren Kaffee und Naschzeug anbieten. Dabei sprechen wir über dieses und jenes, wie es sich unter Arbeitskollegen im Büro gehört. Neulich hat mir eine von ihnen ihre Ledertasche gezeigt, die sie aus dem letzten Urlaub in der Pfalz mitgebracht hatte. Die Tasche ist toll. Eigentlich sind das sogar zwei. Ein Teil lässt sich durch Knöpfe ablösen und einzeln tragen, wenn man nur den Ersatzgürtel dafür anlegt, der in der Tasche auch liegt. Ihre dunkelrote Farbe passt gut zu ihren Schuhen und zu dem Schal, den sie um den Hals trägt.

Wir gehen die Beschaffenheit des Produkts und seinen Preis ausführlich durch. Er ist günstig. Vor allem für zwei Taschen. Ein Kollege schließt sich unserem Gespräch an. Auch das muss eine Frau zugeben können. Es gibt Männer, die im Gespräch mit Frauen mitreden können. Wir sind nicht so taub und blind, wie man von uns denkt.

Dabei ertappe ich mich beim Gedanken, dass mir ein Gespräch wie dieses viel leichter fällt, als ein paar Worte über Formel Eins oder Fußball zu verlieren, auch wenn ich in anderen Dingen gerne und durch und durch ein typischer Mann bin.

Dennoch ist das nicht leicht für uns Männer, die Welt einer Frau richtig zu verstehen und es ihr immer recht zu machen, auch wenn man sich aufrichtig darum bemüht. Der Grund dafür sind die Frauen selbst. Sie machen es einem Mann sowieso ziemlich schwer. Sie wissen doch gar nicht, was sie wirklich wollen: einen zärtlichen Hasen, der für sie kocht und wäscht oder den brüllenden Löwen, mit dem sie Gefahr und Abenteuer erleben. Beides in einem gibt’s niemals.
Dabei könnte das Ganze viel einfacher werden, wenn die Frauen nur eines begreifen würden: So schlimm ist es mit uns wirklich nicht. Manchmal sind Männer… bessere Frauen. Es ist nur sehr schwer die „Richtigen“ zu finden. Dass es die gibt… das habe ich euch gezeigt.

Ende
Roman Dell

22.10.2014-09.11.2014
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Beitrag von zuzu »

Geschichten entstehen auf vielerlei Art. Die einen werden vom Leben geschrieben, die anderen denken wir uns selbst aus und manchmal hat man einfach das Glück, plötzlich einen Freund oder Menschen zu treffen, der einem Idee und Anstoß für eine neue Story gibt, wie diese zum Beispiel.

[center]Modeschrei
[/center]

[center]Für Meik Fokkink, der mich zu dieser Geschichte inspirierte[/center]


[center](Kurzgeschichte)[/center]


Seit einigen Wochen macht das Umfeld von Thomas X sich sehr große Sorgen um ihn. Der junge Student aus dem Ruhrgebiet wird von allen Seiten genauestens beobachtet. Seine Eltern schütteln fassungslos mit dem Kopf. Die eigene Schwester findet ihn nur noch widerlich und ekelig. Die Freunde und Bekannte gehen ihm vorsichtig aus dem Weg und stöbern jeden Morgen in der Blut-Zeitung. Bei dem letzten Besuch ließ der sonst noch so coole Onkel Klaus, (den man nun wirklich mit nichts beeindrucken kann, weil er Woodstock und LSD Zeit voll mitmachte), eine Info-Broschüre des Innenministeriums „ Mein Sohn hat sich radikalisiert. Der sichere Ausstieg . Was tun?“ in seinem Zimmer liegen. Rein „zufällig“ natürlich. Und als der Telefon- und Internetanschluss von Thomas (ganze 3,5 Stunden!!!) nicht funktioniert hat und man nur ein störendes Kratzen im Hörer hörte, waren alle Freunde und Verwandten sich absolut einig: Das war kein Zufall… sondern die NSA.

Auch muss der arme Mann sich dauernd dumme Sprüche wie „ Hallo Obermufti“ oder Taliban-Witze von seinen Mitmenschen gefallen lassen, denn unser Thomas….trägt einen Bart. Kein Kinnbart, Schnurbart, Backenbart, Dreitagebart oder Unterlippenbart. Nein. Ein Vollbart. Das muss doch etwas bedeuten!?

Nur er allein ahnt nichts von der „eigenen Tragödie“, über die jeder in seinem Familienkreis bestens Bescheid weiß. Unser Thomas bleibt cool, geht auf Partys, lernt für die Prüfung und lässt die ersten Seiten der Skandalzeitung umsonst auf einen Bericht über ihn warten. Eigentlich, hat sich in seinem Leben gar nichts verändert. Trotzdem ist der junge Student ein wenig irritiert. Was haben die Menschen auf einmal für ein Problem mit ihm? Oder besser zu sagen…mit seinem Bart?“

Na ja…Ein wenig Recht hat er schon. Ein Vollbart ist inzwischen keine einfache Geschichte. Leider. Nachdem zwei Zwillingstürme in Übersee gestürzt sind, sind Typen mit Bart uns plötzlich suspekt und all diejenigen, die ihn tragen, mit Vorsicht zu genießen, obwohl man damit der muslimischen Welt ein großes Unrecht antut. Schließlich ist ein Vollbart keine orientalische Erfindung. Er gehört seit geraumen Zeiten zum Alltag der Menschen und zwar sowohl im Morgenland als auch im Abendland. Nicht jeder, der ihn trägt, ist automatisch ein Taliban oder ein Terrorist. Ein Bart hat für uns Männer vielmehr eine symbolische Bedeutung. Er ist der Beweis und der Ausdruck unseres Wesens und unserer Männlichkeit. Und zwar noch vor Rauchen, Abendbier, Abschied von der Kniehose und erstem Kuss auf dem Rücksitz im elterlichen Auto.

Auch in Deutschland ist der Bart nicht gänzlich unbekannt und sogar fest in der deutschen Sprache verankert. Es gibt ihn und sogar in vielen Variationen. Als Schlüsselbart zum Beispiel, aber auch als Teil einer Ritterrüstung und nicht zuletzt… als wildes Gebüsch auf Thomas Gesicht. Ein Vollbart hat in Deutschland seinen Platz und ist Tradition.

Schon unsere Urväter, die alten Germanen, waren sehr stolz auf ihren Bart. Dieser hat ihnen oft sehr gute Dienste geleistet. Zum Beispiel bei der Brautwerbung
( als Zierde der Männlichkeit und Zeichen der Potenz) oder auf dem Schlachtfeld im Teutoburger Wald. Der große Arminius, Verzeihung, Herman der Cherusker, trieb die dreisten Römer mit seinem „Wilde-German-Look“ in die Flucht und hat damit die deutsche Sprache und die Nation vor der totalen Romanisierung gerettet.

Friedrich I., der legendäre deutsche König verdankte dem dichten und üppigen Bartwuchs auf seinem Gesicht sogar seinen lateinischen Beinamen Barbarossa, der nichts Anderes als Rotbart auf Deutsch heißt. Der Legende nach ertrank der schwäbische Kaiser der militärisch sehr erfolgreich gewesen war, während des dritten Kreuzzuges, als er ein spontanes Bad im Saleph nahm, einem Fluss, der heute Göksu heißt und in der Türkei liegt. Böse Zungen behaupten, dass er gerade in diesem Moment seinen Bart abrasieren wollte. Also, wenn das nichts zu bedeuten hat.

Albrecht Dürer, das Genie der deutschen Renaissance und außerhalb der Werkstatt ein modebewusster und eitler Mann, hatte ebenfalls nichts gegen einen gepflegten Bart einzuwenden und ließ sich damit im Laufe des Lebens sogar mehrmals selbstporträtieren, weshalb wir noch heute genau darüber Bescheid wissen, welcher Typ Bart damals in Mode war. Karl der Große, Hans Holbein und Johannes Gutenberg waren ebenfalls in ihre Barttracht vernarrt und duldeten kein Rasierzeug in ihrer Nähe. Das hatte wie gesagt mit Hypermännlichkeit, Potenz und purer Kraft zu tun…. bis der Sonnenkönig und die Franzosen damit anfingen, sich die Haut für die Damen mit der Klinge zu schaben, damit deren hübsche Gesichter beim Küssen nicht zerkratzt sind.

Dann war es sehr schnell vorbei mit unserem Vollbart in Deutschland. Seitdem hat es nur noch einen kläglichen Kompromiss gegeben: je nach Epoche lief man mit Schnurbart, Koteletten oder Backenbart in der Gegend herum. Aber selten mit voller Gesichtsbehaarung.
Aus historischen Gründen ist der Schnäuzer in Deutschland generell verpönt. Alles wegen eines österreichischen Gefreiten. Deshalb wagen nur die absolut Guten ihn in der Öffentlichkeit zu tragen. Wie etwa unser Ruhrpottliebling Götz George, alias Polizeikommissar Horst Schimanski.
Erst in den siebziger Jahren kehrte der Bart wieder zurück. Wenn auch nur für kurze Zeit. Damals bestimmten Hippies und Oberstudienrat-Typen im gleichen Maße das Stadtbild auf den deutschen Straßen… bis die Blumenkinder bürgerlich wurden, die Oberstudienräte in Pension gingen und der Bart wieder in Vergessenheit geriet. Ein glattrasiertes Gesicht gewann erneut die Oberhand in der Bundesrepublik, was ich auch bis heute glaubte, bevor ich die Geschichte von Thomas hörte. Ja, genau, was ist mit dem Thomas?

Im Übrigen hat sich das Rätsel um seinen Vollbart inzwischen in Wohlgefallen aufgelöst. Und zwar höchstpersönlich dank seiner Schwester. Vor zwei Tagen nahm sie endlich ihren ganzen Mut zusammen und schnüffelte einfach in den Sachen ihres Bruders. Dabei machte die taffe Gymnasiastin eine erstaunliche Entdeckung. Sie fand beim Thomas…nein kein Schmuddelheft, sondern die neueste Ausgabe von Men´s Health – ein Herren- Style- Magazin mit einem muskulösen und bärtigen Kerl auf der Titelseite. Und einen Artikel darüber, dass Vollbart und Tattoos der Modetrend für die nächsten Jahre bleiben und Männer, die sie tragen, bei Mädchen voll cool und total in sind. Sowie das Foto eines Bikermädchens auf dem Display seines Handys.

Danach konnte Thomas‘ ganze Sippe endlich wieder schlafen. Ihr süßer Bengel war weder schräg, noch ein Taliban, noch radikalisiert. Es ging wie so oft im Leben …um Liebe und Mädchen. Sein Vollbart war nur die Folge des Amour… und eines neuen Modeschreis, dem auch ganze 2/3 der Deutschen bewusst folgen. Wie etwa ein junger Rapper bei mir in der Bahn. Ein Professor mit Hornbrille und Ledertasche. Ein Klempner an der Ecke. Der Rocker auf dem Motorrad. Aber auch der eine oder andere Freund bei der Stadtverwaltung. Deutschland ist wieder verrückt nach einem Bart.

Zum Amour und dem Mädchen kann ich euch leider nichts mehr sagen. Das mit dem Modeschrei hatten wir aber doch schon einmal?! Eine komische Sache, finde ich. Es kommt alle zehn Jahre vor, dass manche Dinge, die vor dreißig Jahren total in waren und nur zwei Jahre später voll out geworden sind, plötzlich wieder auf den Regalen und in den Schaufenstern als „Neuentdeckung und Sensation des Jahrhunderts“ gefeiert werden. Wie etwa die Leggings in allen Farben, die Anfang der 80er Jahre selbst die Servicewüste Sowjetunion erreicht hatten, als meine Schwester gerade noch zur Schule ging. Und heute?
Heute sehe ich die Mädels dieselben Klamotten wie wir tragen und denke mir zynisch: Der Modeschrei ist ein Rad der Zeit. Aber auch Ironie des Schicksals. Denn alles kommt und geht…mit der Zeit.

Ich habe daraus eine Lehre gezogen und werde die alte russische Tweed- Jacke meines Vaters auf jeden Fall nicht mehr weg schmeißen. Wer weiß, vielleicht wird sie im nächsten Jahr auch in sein, wie der Bart und die Tattoos von heute. Ich könnte das Ding dann gut gebrauchen. Wie einen Applaus übrigens auch. Gebt euch großzügig und geizt nicht damit. Dafür werde ich mich erkenntlich zeigen und euch garantiert jede Menge Honig um den Bart schmieren! Wo denn sonst, natürlich!

Roman Dell

29.09.2014-08.10.2014
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Beitrag von zuzu »

Es gibt Dinge die in uns „ewig“ erscheinen. Dinge, die aus unserem Alltag nicht mehr weg zu denken sind, weil es sie gibt. Weil es sie immer geben soll. Aber dieser Schein trügt. Nichts ist ewig und unersetzlich. Alles wird früher oder später von der Zeit überrollt. Und diese Dinge, die uns heute noch so gegenwärtig, so selbstverständlich, so unentbehrlich erscheinen, könnten schon morgen verschwunden sein, als hätte es sie niemals gegeben, als hätten sie niemals existiert. Und zwar viel schneller als man denkt. Allein die letzten 20 Jahre sind ein perfektes Beispiel dafür. So erging es der Schreibmaschine, dem Plattenspieler, der Telefonzelle und seit kurzem auch einem handgeschriebenen Brief. Sie wurden durch Computer, CD und MP-3 Player, Handy, Skype, Internet und Emails abgelöst. Die Menschheit lebt und entwickelt sich einfach zu schnell. Kein Wunder, dass man dann schnell sentimental wird, plötzlich einen handgeschriebener Brief in den Händen zu halten, der dazu noch mit der Anrede „ Mein werter Freund „ beginnt. Einem solchen Brief verdanke ich diese neue Geschichte.



[center]Werter Freund

(Erzählung)

Altdeutsch: “Brief schreiben”
Neudeutsch: “sending a message”
Willy Meurer
deutsch-kanadischer Kaufmann, Aphoristiker und Publizist[/center]



Seit Kurzem pflege ich Kontakt zu einer älteren Dame, die meine Liebe und Leidenschaft fürs Schreiben teilt. Und mit dem Kontakt meine ich tatsächlich die „klassischen“ Briefe, handgeschrieben und in einem Briefumschlag, keine E-Mails oder SMS. Ich finde die Art, wie sie schreibt ziemlich nostalgisch und faszinierend. Sie beginnt alle ihre Briefe an mich mit Werter Freund! Das hat Klang und sorgt für Stimmung und Atmosphäre.
Als ich zum ersten Mal Post von ihr bekam, (ein üppiger DIN A-4 Briefumschlag, der kaum in den Schlitz meines Briefkastens passte) wurde mir auf einmal etwas bewusst, dass mir bis dahin nie aufgefallen war. Nämlich, wie schnell die modernen Kommunikationsmittel den privaten Brief aus unserem Alltag verdrängt haben. Kaum ein Mensch schreibt heute noch seine Briefe auf Papier und per Hand. Es sei denn, man hat eine besondere Neigung zur Romantik oder gehört zur Generation 70 Plus und kann mit der Technik und dem Internet nichts anfangen. Was soll ich sagen. Pech gehabt. Denn Feder und Kugelschreiber gab’s gestern. Heute wird gemailt und getippt.

Dabei ist das Internet erst seit 1991 allgemein zugänglich und etwa ab 2001 ein Massengeschäft, aber seine Folgen sind jetzt schon überall zu sehen und zu spüren. Unsere 4300 Jahre alte Briefkultur ist so gut wie tot. Wer hätte sich vorstellen können, dass der Brief, der schon Pharaonen, Römisches Reich, Mittelalter, Neuzeit und sämtliche Kriege und Imperien der Weltgeschichte überlebt hat, so leicht zu vertreiben ist. Zwar werden die Briefträger und die Post deswegen nicht verschwinden, (dafür sorgen schon die Ämter und Online Shops), aber man darf sich trotzdem nicht täuschen lassen, der Hightech-Welt gehört die Zukunft. Vielleicht nicht heute, aber schon morgen oder übermorgen. Das steht fest.
Ich bekenne mich „schuldig“ an dem „Niedergang“ des klassischen Briefes aktiv mitgewirkt zu haben, denn mein letzter handgeschriebener Brief liegt auch schon etliche Jahre zurück. Außerdem lässt sich bei einer Email etwas wirklich nicht bestreiten. Schnell und bequem ist der elektronische Brief schon. Ich brauche nicht mehr wie früher Wochen oder sogar Monate auf einen Brief von meiner Mutter zu warten, als sie noch in Russland lebte und mir regelmäßig schrieb.

Eine E-Mail ist in Sekunden da und sie kostet mich gar nichts. Na sagen wir, fast gar nichts, abgesehen von den üblichen Internet- und Telefonanschlusskosten. Und wenn man sich verschrieben hat, (das kommt vor, denn junge Menschen sind immer in Eile und haben niemals Zeit) lässt sich der Fehler mit der Cursor-Taste des PCs schnell und problemlos beheben. Diese komische Kiste auf meinem Tisch vollbringt wahre Wunder. Man kann damit kopieren, löschen, verschieben und einfügen und muss nicht mehr wie früher, die ganze Seite noch einmal neu schreiben. Wie praktisch.

Inzwischen ist die internet-elektronische Abhängigkeit meiner Generation schon so groß, das man sich gar nicht mehr vorstellen kann, wie man früher ohne SMS, Handy, PC, Netz und etc. überhaupt überleben konnte.

Natürlich hat dieser Komfort auch seinen Preis. Mit dem Internet ist die Welt zwar kleiner geworden, aber sie hat dafür auch enorm an Menschenwärme und Wertschätzung eingebüßt. Damals nahm man sich noch Zeit für seine Freunde und Verwandte, um ihnen „ lange Briefe zu schrieben, weil man keine Zeit hatte, kurze Briefe zu schreiben“, wie der französische Philosoph Blaise Pascal schon im 16. Jahrhundert richtig bemerkte.

Heute geht alles weniger förmlich, aber dafür sehr oberflächlich und respektlos zu. Man tippt auf die Schnelle so etwas Plumpes und Nichtssagendes wie „ Hi, Alter! Ich bin OK. Was liegt an? „ und schickt die E-Mail einfach ab. Wie die Antwort darauf lauten wird, brauch ich Ihnen wohl nicht zu sagen.

In diesem Punkt muss ich schon fast nostalgisch an früher denken. Solch lockerer Umgangston wäre damals gar nicht denkbar und zwar sowohl im Westen als auch im Osten. Dafür waren allein schon die Zeit und der Aufwand für einen handgeschriebenen Brief viel zu wertvoll, um so etwas Ordinäres zu Papier zu bringen, geschweige denn dieses peinliche „Opus“ an den Empfänger abzuschicken. Jeder Brief, den der Postbote nach Hause brachte, war ein fröhliches Ereignis, der die ganze Familie in Spannung und Aufregung versetzte.
Die Briefumschläge in der Sowjetunion unterschieden sich optisch von ihren oft farbigen und meist transparenten Modellen im Westen, die ich später in Deutschland zu sehen bekam. Unsere waren immer weiß und hatten auf der Rück- und Vorderseite ein vorgedrucktes Muster, das einem zeigte, wie man den Brief richtig adressieren sollte. Die Frontseite enthielt vorgedruckte Felder Wem, Wohin und Adresse des Absenders, sowie leere Kästchen für die Postleitzahl, die man immer in Blockschrift eintragen musste.

Die Rückseite schmückte ein fertiges Ansichtsmuster der Postleitzahl in Blockschrift, um auf Nummer sicher zu gehen. Ganz typisch war auch ein schönes buntes Bild, oben, auf der linken Vorderseite des Briefumschlages, das ähnlich wie die Briefmarke, das Portrait einer bedeutenden Persönlichkeit oder die Erinnerung an irgendein historisches Ereignis trug: 60 Jahre Oktoberrevolution oder 900 Jahre kyrillische Schriftsprache zum Beispiel.

Drei Mal im Jahr kam ein solcher Briefumschlag auch ins Haus meiner Großeltern. Er stammte von der russischen Verwandtschaft meines Großvaters, die in Kostroma lebte und uns regelmäßig schrieb. Der Brief wurde von Opa im Beisein aller Familienangehörigen geöffnet und laut vorgelesen. Ich kann mich noch heute ziemlich genau an den Inhalt dieser Korrespondenz erinnern. Zuerst wurde jedes Familienmitglied persönlich genannt und begrüßt und selbst ein Knirps wie ich nicht vergessen. Dann folgte eine nicht weniger ausführliche Schilderung der letzten Ereignisse, die das Leben der Sippe betrafen. Große Anschaffungen, Auszeichnungen, Geburten und Sterbefälle, Hochzeiten, Scheidungen und etc.

Zum Schluss kam eine meterlange Preisliste für Lebensmittel, die jeden auch noch so eifrigen Buchhalter wegen ihrer akribischen Gründlichkeit grün vor Neid hätte werden lassen. Man erfuhr aus dem Schreiben wie viel Rubel oder Kopeken solche Lebensmittel wie Butter, Kartoffeln, Zucker oder Brot zurzeit in Kostroma kosteten. Danach verabschiedete sich „die Familie“, (und zwar in derselben Reihenfolge wie bei der Begrüßungsrunde) und bat uns ihr schnellstens zu schreiben, wie teuer das Leben in unserer Stadt ist….

Ich fand die Briefe aus Kostroma öde und langweilig. Sie klangen immer gleich und ließen sich, wenn überhaupt, nur mit Hilfe des Poststempels voneinander unterscheiden. Der Reiz und die Wärme eines handgeschriebenen Briefes, dessen Freude und emotionale Bedeutung, entdeckte ich erst viel später. Da lebte ich bereits in Deutschland. Im Übrigen brauchte es in Russland unheimlich lange, bis ein Brief per Post den Empfänger erreichte.

Wenn meine Schwester während der Sommerferien, (die in der Sowjetunion 3 Monate dauerten) an ihre beste Freundin aus dem anderen Stadtteil schrieb, konnte bis zu einer Woche vergehen, bevor der Brief innerhalb der Stadt zugestellt wurde. Ein Brief aus Kostroma brauchte drei Wochen. Die Post nach Wladiwostok über einen Monat. Je weiter, desto länger. Es war allein schon durch die Größe unseres Landes, buchstäblich- eine halbe Weltreise.
Als wir nach Deutschland gingen, brach der Kontakt zu Kostroma auf natürlicher Weise ab. Die einzigen Briefe, die ich noch aus Russland bekam, waren nur die von meiner Mutter. Dabei lernte ich, dass ein Brief völlig anders sein kann. Warm, herzlich, voller Liebe und Sehnsucht. Ein Glücksbringer, ein Lebensretter und ein Talisman. Kein lebloser „Buchhalterbericht“, wie der unserer Verwandtschaft.

Ich vermisste meine Mutter. In dieser Zeit war die Deutsche Post mein bester Freund und jeder Gang zum Briefkasten ein Akt der Hoffnung und der Erwartung. Und wenn ich dann mit einem Brief in die Wohnung zurückkam, hielt ich keinen bloßen Briefumschlag, sondern ganze 50 Gramm PURES GLÜCK in der Hand. Danach packte ich den Brief schnell aus und las ihn wieder und wieder durch. Alles darin, die akkurate Schrift meiner Mutter, der Geruch des Papiers, das aus einem alten sowjetischen Schulschreibheft stammte, die Farbe der Tinte, aber auch die Gewissheit, dass Mamas Hände diesen Brief noch vor Kurzem geschrieben und berührt hatten, gab mir sofort das Glücksgefühl, ein Stück Heimat und Zuhause, auch hier, in der Fremde, bei mir zu tragen, sobald ich den Brief in die Hände nahm.

Ich musste oft mit den Tränen kämpfen, wenn ich dabei Zeitungsfotos von Lieblingssängern und Schauspielern oder den einen oder anderen Artikel von mir im Umschlag fand. Sie fügte dem Brief immer etwas vom „alten Leben“ bei. Glaubte Mama wirklich, dass mich das noch interessierte? Kino, meine eigene Schreibe, die Popstars. Alles, was mir im Leben wirklich Freude machte, war nur sie, sie allein.

Bei der Rückantwort hatte ich jedes Mal eine schriftstellerische Herausforderung zu bewältigen, so viel Info wie möglich auf zwei DIN-A4 Blätter zu packen, damit der gefaltete Brief bloß nicht zu dick erschien. Sonst bestand die Gefahr, dass er bei der Post in Russland geöffnet werden konnte und dann auf Nimmerwiedersehen verschwand. Nicht etwa aus ideologischen, (die Sowjetunion war schon längst nicht mehr da), sondern wohl eher aus pragmatischen Gründen und aus der Annahme, dass dort drin Geld sein könnte, das ein ( nach Jahren im Westen verweichlichte und naiv gewordener ) Auswanderer seinen Verwandten in einem Brief schickt.

Deshalb musste der Brief immer knapp, aber dennoch informativ sein, was mir nur selten gelungen ist. Ein Jammer, dass Skype und Email damals noch nicht erfunden worden waren. Mein Herz hatte so viel zu sagen und zu schreiben.

Eines Tages, (da war unsere Familie inzwischen glücklich wiedervereint und der Briefverkehr mit der alten Heimat so gut wie eingestellt) fand ich einen Brief in unserem Briefkasten, der aus der russischen Föderation kam. Mit pochendem Herzen machte ich den Briefumschlag auf. Er stammte von… (drei Mal dürft ihr raten) unserer Verwandtschaft aus Zentralrussland. Sie hatten die ganze Zeit nach uns gesucht.

Beim Lesen des Briefes liefen mir dauernd die Bilder aus der Kindheit vor den Augen. Auch sonst bekam ich das Gefühl, eine kleine Reise mit der Zeitmaschine zu machen. Nur die Briefmarke mit der russischen Trikolore- Fahne und der aktuelle Datumstempel auf dem Couvert zeigten, dass dieser Brief erst vor kurzem geschrieben worden war. Ansonsten blieb die Verwandtschaft dem alten Schreibstil weiter treu, auch wenn der Brief selbst aus der Feder der neuen Generation stammte. Sie grüßten jeden von uns persönlich und fragten Mama… nach Preisen für Kartoffeln und Brot in Deutschland.

Danach war aber endgültig Schluss mit den handgeschriebenen Briefen. Ich machte den Einstieg in die elektronische Welt, die schon eine coole Sache ist, wenn man von Dingen wie Handy, Email oder Skype spricht.

Wenn meine Frau in Moskau shoppt und dabei ein interessantes Buch für mich findet, schickt sie mir rasch eine SMS und fragt mich, ob sie es kaufen soll. Mein Vater hat neulich mit den Verwandten in Kasachstan geskypt und ich kann jeden Menschen und jeden Verlag auf der Welt per Email erreichen, und brauche nicht einmal eine Minute dafür. Ganz schön praktisch, wenn Sie mich fragen. Dachte ich und habe seitdem keinen Gedanken an einen handgeschriebenen Brief verschwendet und hatte auch nicht das Gefühl, dass der mir fehlt.

Das geschah erst, als der besagte Briefumschlag von meiner neuen Freundin kam.
Meine neue Bekannte ist eine echte Literatin. Sie hat etwas von diesen alten russischen Adligen und Intellektuellen, die wildfremde Menschen mit den Worten „Werte Freunde“ oder „Täubchen“ begrüßen, aber so offen, warmherzig und aufrichtig, dass sie nicht mehr wie Höflichkeitsfloskeln, sondern ehrlich und aufrichtig klingeln. Und ihr Schreibstil ist ein Meisterwerk der epistolaren Kunst. Jedes Mal, wenn ich neue Zeilen von ihr lese, komme ich mir vor, als hätte ich da einen Brief von Stefan Zweig. Klare, einfach formulierte und dennoch sehr schöne Gedanken und Sätze in einer literarisch wissenschaftlichen Sprache, die jeden Deutschlehrer vor lauter Euphorie vom Hocker reißt. Man kann wirklich jede Menge von ihr lernen. Und da sie kein Internet und keinen PC hat, und beide bewusst verabscheut, MUSS ich ihr einfach… handschriftlich schreiben.

„Nichts leichter als das, kein Problem“, dachte ich mir beim ersten Mal und war schockiert, wie schnell ich… das alles verlernt habe: mich vor ein Blatt Papier zu setzen, mir die Ruhe und die Zeit für andere Menschen zu nehmen, meine Gedanken zu ordnen und Sätze zu formulieren, anstatt wie früher drauflos zu schreiben, ohne auf die Tippfehler zu achten oder richtig zu überlegen. Hier darf nichts mehr schief gehen. Die Cursor-Taste-Funktion gibt’s bei einem Brief nicht. Aber noch einmal schön sauber schreiben, schon.

Dabei dachte ich, warum auch immer, an jene alten und guten Zeiten, in denen man in dem eigenen Briefkasten noch handgeschriebene Briefe und nicht nur Rechnungen oder Werbung, wie heute, fand. Mit welcher Freude rannte ich damals zum Briefkasten, in der Hoffnung dort einen Brief von meiner Mutter zu finden. Und wie überglücklich war ich, wenn diese Erwartungen erfüllt wurden. Wie viel Liebe und Wärme in solch einem Brief stand und wie man dort nach Sorgen und Stimmung zwischen den Zeilen suchte. Man las diese Sätze immer und wieder durch und hatte stets das Gefühl, die Mutter selbst und den Geruch vom Zuhause in dem Moment physisch zu spüren, Liebe und Wärme zu empfangen und diese Gefühle weiter zu geben, indem man seine eigene Liebe und Wärme in die Antwort einfließen ließ. Einen solchen Brief wirft man nie weg. Mit Emails und SMS geht man nicht so behutsam um, so praktisch und bequem sie auch sein mögen. Die Technik ist schnell, aber sie besitzt kein Herz.
All das wäre mir ohne meine neue Bekannte womöglich gar nicht aufgefallen. Ihr Brief holte mich zu meinen Wurzeln zurück. Dafür kann ich der alten Dame nicht genug danken und werde mich gleich an den Tisch setzen und ihr einen neuen Brief schreiben. Mindestens fünfzehn Seiten lang und natürlich per Hand. Ihre Freundschaft ist mir jeden Aufwand wert. Wer schreibt denn heute noch „Werter Freund“ zu mir? Ja, richtig! Und solche Menschen darf man nicht verlieren.

Ende
Roman Dell
18.11.2014-30.01.2015
Quellen : http://www.aphorismen.de/suche?f_thema=Brief&seite=2
http://www.aphorismen.de/suche?f_thema=Brief&seite=2
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Und hier die Geschichte für Juni:

Die Zeit ist das Wertvollste was wir haben. Wir sind Gefangene und Anbeter ihres mörderischen Tempos. Der moderne Mensch führt ein Leben auf der Überholspur. Kochen, essen, duschen, einkaufen. Alles muss schnell und reibungslos funktionieren, damit man unter dem Strich MEHR vom Tag hat. Er kann sich einfach nicht leisten, noch mehr wertvolle Zeit an die Dinge des Alltages zu verlieren, wo doch das Leben bekanntermaßen so kurz ist. Hierbei erweist sich der Coffee to go als ein wahrer Retter. Der Kaffee aus der Pappe machte die Welt von heute mobiler und die Kaffeemaschine überflüssig. In der Tat. Wozu denn selbst Kaffee aufbrühen und Strom verbrauchen, wenn die Zeit morgens sowieso knapp ist und der perfekte Muntermacher schon ab 99 Cent an jeder Ecke zu haben ist? In der Zeit kann man doch lieber etwas Sinnvolles machen: länger schlafen oder eine SMS verschicken. Der Coffee to go ist praktisch und bequem. Trotzdem muss ich inzwischen fast nostalgisch an die Zeit von früher denken, als die Welt noch keinen Coffee to go kannte. Und warum das so ist, erfahren Sie jetzt…

[center]Als die Welt noch gemütlich war…
…und man kein Coffee to go kannte.

[/center]

Für meinen Freund Meik Fokkink, der sich als wahrer Ideenspender erwiesen hatte.

( Kurzgeschichte)

Jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit sehe ich eine große Warteschlange beim Bäcker vor meinem Haus stehen. Männer und Frauen diversen Alters und Attraktivitätsgrades decken sich dort mit Pausenbrot und Getränken ein. Der absolute Verkaufsschlager ist ein Coffee to go. Ein Kaffee zum Mitnehmen, für alle die nur Deutsch verstehen.

Der bunte Pappbecher mit dem Plastikdeckel, der uns vor gar nicht so langer Zeit aus dem „Großen Teich“ erreicht hat, ist inzwischen aus dem europäischen Alltag nicht mehr weg zu denken und wird auch an deutschen Theken am häufigsten verlangt. Sechs Milliarden und fünfhundertsechzig Millionen Mal jährlich, um es genauer zu sagen. Und an die zweihundert Milliarden Mal weltweit.

Und was ist mit Brötchen, Laugenstange, Bretzel, Berliner, Kirschtasche, Obstplunder oder Streuselschnecke, den Lieblingsnaschereien der meisten Deutschen? Das will der neugierige Leser an dieser Stelle bestimmt wissen. Sie bleiben leider auf der Strecke. Wer hätte das nur gedacht!

Das Aroma des frischgebrühten Kaffees mischt sich mit der kalten Novemberluft des Herbstes. Ich kann ihn selbst hier, an der Haltestelle, einige Meter von der Bäckerei entfernt, immer noch sehr gut spüren und riechen. Dafür sorgen schon zwei Schüler die ihre ausgetrunkenen Becher eilig in die Mülltonne packen. Die Zeit ist knapp und die Straßenbahn ist schon fast da. Ich steige ein, lasse mich noch etwas schlaftrunken in den schmalen Sitz fallen und träume im Morgengrauen gemütlich von meiner sowjetischen Schulzeit… in der es ebenfalls einen Kaffee gab. Wenn auch nicht jeden Morgen.

[center]XXX[/center]

Der Kaffee gehörte in der Sowjetunion zur begehrten Rarität, die wir hauptsächlich den guten Handelsbeziehungen der UdSSR mit Indien zu verdanken hatten. Der Kaffee, sofern es in den Läden überhaupt welchen gab, wurde meistens in kleinen Metallbüchsen verkauft, die entweder braun oder silbern waren.

Die silbernen Kaffeedosen stammten allesamt aus der Sowjetrepublik Ukraine und wurden dort aus importierten Kaffeebohnen in Lviv oder Dnepropetrowsk hergestellt.
Die braunen kamen direkt aus Indien und dienten als Tauschmittel zur Begleichung der reichlichen Staatsschulden, die die Regierung Indira Gandhis bei den Sowjets hatte. Diese Schuldenlast war so hoch, dass sie sogar für eine historische Anekdote beim Volk sorgte, in der es unter anderem auch um Kaffee aus Indien ging.

Dort bedankte sich der berühmte Generalsekretär mit den dichtesten Augenbrauen der sowjetischen Geschichte während seines Staatsbesuchs in Indien bei den Gastgebern jeden Abend für den Kaffee und den Tee. Als die erstaunte Premierministerin Indira Gandhi über einen Dolmetscher vorsichtig nachfragen ließ, ob ihm das Essen auf dem Tisch überhaupt geschmeckt habe, weil er sich dauernd für den Kaffee und den Tee bei ihr bedankte, antwortete Leonid Breschnew, humorvoll wie er war, er bedanke sich nur für den Kaffee und den Tee… weil alles andere sowieso von ihm sei.

Na, ja. Witz hin oder her, aber der Kaffee aus Indien schmeckte herrlich und war, wie denn sonst, nur über gute Beziehungen im Handel zu bekommen. Die Dose aus Indien erwies sich auch in Punkto Gestaltung deutlich prunkvoller als ihre sowjetische Konkurrentin. Während die silberne Dose aus der Ukraine nur eine schlichte Überschrift Natürlicher löslicher Kaffee in Russisch trug, hatte die indische Dose, neben der in Sanskrit gestalteten Überschrift indian instant coffee und der kastanienbraunen Farbe auch noch eine hübsche tanzende Inderin im Kamasutra-Look auf dem Etikett zu bieten, die sie mühelos zur Siegerin des Wettbewerbs machte.

Der Kaffee wurde bei uns zu Hause in einem Wandschrank in der Küche wie eine Kostbarkeit aufbewahrt und hauptsächlich im Winter oder zu kalten Zeiten getrunken. Wenn der lösliche Kaffee in Dosen gerade nirgendwo zu bekommen war, holte meine Mutter gelegentlich auch lose Kaffeebohnen, die schon etwas öfter im Handel zu finden, aber nicht unbedingt billiger waren. Sie mahlte die Bohnen in einer Handkaffeemühle, gab eine Prise Salz dazu und brühte den Kaffee in einer türkischen Mokkakaffeekanne auf dem Gasherd. Dann goss sie diese göttlich riechende, dämpfende Flüssigkeit in unsere Tassen ein. Mit Zucker und Milch vollbrachte der Kaffee ein echtes Wunder. Jede Zelle meines Körpers nahm sein Aroma und seinen Geschmack genüsslich auf. Und wenn man dann aus der Wärme in die Kälte trat und der Frost mit Tausend Nadeln im Gesicht brannte, war der Kick einfach perfekt.

Da Kaffee bei uns nach wie vor eine begehrte Rarität war, habe ich in Russland die meiste Zeit nur schwarzen Tee getrunken. Davon gab es bei uns, (sage und schreibe!!!) ganze drei Sorten. Der georgische Tee, der mir überhaupt nicht schmeckte, der komische Tee aus Krasnodar (an den erinnere ich mich kaum noch) und der aromatische indische Tee, dessen gelbe Verpackung mit einem dunkelhäutigen Inder auf einem Elefanten mich schon optisch ansprach und auch geschmacklich zufrieden stellte.

Ein erklärter Kaffeetrinker wurde ich aber erst in Deutschland. Ich weiß nicht, woran es lag. Vielleicht habe ich einfach zu viel von dem Tee in Russland gekostet. Jedenfalls kann ich seitdem bis heute keinen Tee mehr trinken. Und einen Beuteltee schon gar nicht.
Deutschland erwies sich als ein richtiges Kaffeeparadies. Die Nachfahren der Dichter und Denker lieben und trinken Kaffee überall und zu jeder Zeit. Und zwar nicht nur morgens nach dem Aufstehen, sondern auch mit Kollegen im Büro, während der Mittagspause, bei den Meetings und seit kurzem auch unterwegs.

Hier habe ich zum ersten Mal das Geheimnis um das für mich verwirrend klingende Wort Kaffeekränzchen gelüftet und auch erfahren, was damit gemeint ist, wenn „Jemand den Kaffee auf hat“. Aber auch der sinnliche und betörende Geschmack von Espresso, Latte Macchiato, Cappuccino, Arabica- und Robustakaffee kennengelernt, die mir in meiner Heimat damals nicht zugänglich waren.

Ich entdeckte Kaffee in allen seinen Arten und Redewendungen und kam zum Ergebnis, dass dieses anregende Getränk, das einen stundenlang munter und wach hält, für Deutsche eine überdurchschnittlich wichtige Rolle spielte. Und zwar sowohl in ihrer Sprache als auch in ihrem Alltag und ihrer Kultur. Womit ich auch tatsächlich Recht hatte, aber nur so lange, bis der Coffee to go kam…
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Der Coffe to go löste eine Revolution aus. Er machte die Kaffeemaschine für den modernen Haushalt de facto nutzlos und überflüssig. Wozu denn selbst Kaffee aufbrühen, Zeit verschwenden und Strom verbrauchen, wenn die Zeit morgens sowieso knapp ist und der perfekte Muntermacher schon ab 99 Cent um die Ecke zu haben ist? Schnell und problemlos. In der Zeit kann man doch lieber ein bisschen länger schlafen, aber auch die Bundesligaergebnisse auf dem IPhone lesen, E-Mails checken oder eine SMS verschicken. Der Coffee to go machte unsere Welt mobil und bequem und uns, Menschen, faul und abhängig.

Auch ein Freund von mir wurde neulich zum Opfer dieser „Bequemlichkeit“. Obwohl er noch zu der alten Garde gehörte, die das Zubereiten des Wundergetränks noch nach der klassischen Methode gelernt hatte, also Wassertank, Kanne, Filter, Kaffeepulver rein, an und ausschalten, und als Faustregel die Formel immer einen Löffel mehr geben, also 7 Löffel für 6 Tassen sich gemerkt hatte, gingen die Mode und die Hightech- Zeit an ihm auch nicht vorbei. Weil seine Freundin überhaupt keinen Kaffee trank und eine Kaffeemaschine für ihn allein zu starten sich nicht wirklich lohnte, schaffte er sich irgendwann mal ein Pad-Gerät für seinen persönlichen Bedarf an. Schnell, modern und …super benutzerfreundlich. Mit anderen Worten: saueinfach. Und wenn ihm selbst das zu lange gedauert hat, holte er sich einfach einen Coffee to go. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Formel und die Kunst des Aufbrühens bei ihm verflogen.

Eines Tages gab die Maschine den Geist auf. Und das ausgerechnet an einem Feiertag. Kein Bäcker oder Kiosk in der Nähe um sich mal eben einen Coffee to go zum Frühstück zu holen. Mein Freund, der im Übrigen ein Optimist aus Überzeugung ist, ließ den Kopf trotzdem nicht hängen und ging raus, um die vergessenen „Antikteile“ aus der Garage zu holen. Er hatte die alte Kaffeemaschine zum Glück noch in der Ecke stehen.

Allerdings konnte er mit der herkömmlichen Weise aus seiner Jugendzeit nichts mehr anfangen. Wie ging das noch Mal? Kanne, Filter, heißes Wasser,… Aber wie viel Löffel Kaffee braucht man für eine Tasse? Nur eine Tasse. Denn mehr als eine braucht er nicht.

Selbst nach dem dritten Versuch wollte die alte Regel „einen Löffel mehr“ beim Aufbrühen nicht mehr funktionieren. Die Flüssigkeit lief zu schnell durch den Filter, so dass der Brüheffekt gar nicht zustande kam. Der Kaffee blieb einfach ungenießbar.
Als er immer noch durstig und frustriert zu seiner Mutter und seiner Schwester fuhr und ihnen davon berichtete, zeigten die beiden Damen keinerlei Verständnis. Vielmehr kassierte der Bruder und Sohn sogar eine Rüge von ihnen.

-„Dass die Jugend von heute nichts mehr gebacken kriegt, weiß man schon lange - meinten die Beiden sarkastisch. - Aber dass sie offensichtlich nicht einmal im Stande ist, einen einfachen Kaffee zu kochen, ist jetzt wirklich die Krönung. “ Diese „ich hole mir etwas“- Generation! Pfui! Einfach erbärmlich und degeneriert!“
Es machte nur wenig Sinn den Beiden zu erklären, dass man von etwas Großem nicht einfach auf etwas Kleines herunterrechnen kann. Viellicht mathematisch, aber doch nicht kulinarisch.
Letztendlich entschied sich mein Freund für einen faulen Kompromiss. Er packte die Kaffeemaschine wieder weg und nimmt jetzt einfach 6 Löffel löslichen Kaffee für seine übliche Morgentasse…

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Das wäre nicht der einzige Nachteil, den die Technik und der Service verursachen. So praktisch und bequem der Coffee to go im Alltag auch ist, macht er dennoch nicht ALLE Menschen glücklich und begeistert. Die Umweltaktivisten beklagen sich seit Jahren über die riesigen Müllberge und die gerodeten Waldflächen, die als Folge eines kurzen Genusses aus dem Pappbecher entstehen. Manch ein konservativer und gesellschaftskritischer Bürger geht damit sogar einen Schritt weiter. Er hält diese Coffee to go Manie für eine schädliche Modeerscheinung, die wie jeder „Blödsinn“ aus Übersee kam und unsere traditionelle deutsche Kaffeekultur zerstört und diese in absehbarer Zeit sogar verschwinden lässt.
Und ob der Kaffee aus der Pappe überhaupt schmeckt? Soll man den nicht lieber in Ruhe und mit Freunden genießen? Das ist auch eine Frage.

Nicht zu Unrecht. Eine Stunde mit Freunden gemütlich im Café zu sitzen oder zu Hause in Ruhe einen Kaffee zu trinken ist inzwischen mehr Luxus als Realität. Und eine Keramiktasse in der Öffentlichkeit sowieso voll out.
Der Schnellkaffee zum Mitnehmen ist ein Spiegelbild unserer Gesellschaft. Einer Gesellschaft, die weder zu warten noch zu genießen mehr fähig ist.

In unserer anonymen Hightech- Welt muss alles schnell und reibungslos funktionieren. Ohne Warten und Zeitverlust. Wir liefern uns täglich ein Rennen gegen die Zeit und sind Gefangene und Anbeter seines mörderischen Tempos. Wir beeilen uns zur Arbeit, schuften unter Zeitdruck und wollen überall sofort bedient werden. Wir schnappen die Überschriften in Online-Magazinen auf , anstatt, wie früher, die Zeitungen zu lesen, machen Flirten, Small-Talk und Schluss per SMS, stopfen im Vorbeigehen den ganzen Fast-Food- Mist und Automaten-Kaffee in uns hinein und meinen damit TATSÄCHLICH Zeit gespart zu haben, damit man später MEHR Zeit vom Tag und der Welt für sich hat.

Ein klassisches Leben auf der Überholspur. Der heutige Mensch ist chronisch zu spät. Er will und kann sich nicht leisten, Zeit zu verlieren. Sei es mit Essen, sei es mit Freunden, sei es mit Alltagsdingen. Gewonnen hat er dadurch rein gar nichts. Jedenfalls nicht aus der Langzeitperspektive.

Diese Meinung teile ich langsam auch. Coffee to go, E-Book-Reader, mobiles Internet, Facebook und andere technische Errungenschaften unseres Zeitalters sind eine Plage und leider nichts für mich. Auch wenn unser Alltag damit viel bequemer geworden ist als der unserer Eltern zum Beispiel. Trotzdem muss ich inzwischen fast nostalgisch an die Zeit denken, als die Welt noch gemütlich war und man keinen Coffee to go kannte. Diese Generation hatte in meinen Augen richtig Glück. Man nahm sich für Gespräche und Essen noch gerne Zeit. Unsere Hektik, virtuelle Freundschaften und künstlich verfälschte Lebensmittel, Werte und Produkte blieben ihnen, Gott sei Dank, erspart. Sie haben wenigstens noch gewusst, was es heißt…mit Freude und Genuss zu leben.

Ende

Roman Dell

14.10.2014- 27.10.2014
Zuzu

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Fuchs
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Beitrag von Fuchs »

Dankefür! :wink:
Interoperabel!

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zuzu
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Beitrag von zuzu »

Ich weiß, wir haben noch nicht Juli. Aber jetzt kommt schon die Juli-Geschichte...

Die nächsten zwei Geschichten, die ich meinem Leserkreis in Juli und August anbieten möchte, wurden ursprünglich für eine russischsprachige Zeitung in Düsseldorf bestimmt. Am Ende wollte die Redaktion die Geschichten doch nicht haben und so lagen sie nutzlos einige Jahre in der Schublade meines Schreibtisches, bis ich beschlossen habe die beiden Erzählungen ins Deutsche zu übersetzen. Wie die meisten meiner Stories, sind auch diese eine Mischung aus eigenen Erlebnissen, literarischer Übertreibung und etwas Fiktion. Damals hielt ich die Alltagsgeschichten dieser Art für keine besonderen Geschichten. Sie waren alles andere als schön und unsere Welt und Leben voll davon. Im Nachhinein musste ich feststellen, dass die Menschen die dort vorkamen, es geschafft haben uns trotzdem irgendwie zu prägen und die Erinnerung an sie tief in mir drin sitzt, auch wenn sie keineswegs zu unseren Freunden oder Liebsten zählten. Denn wie sonst lässt sich das erklärten, dass ich hier ausgerechnet die Geschichte jenes Mannes erzählen möchte, den jeder in meiner Umgebung damals mied und gehasst hat. Die Geschichte von Knacki und seinem Leben, das mir heute wie ein Drama vorkommt. Ein Drama in dem wir alle Zeugen waren…

[center]Der Knacki

(Erzählung)
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Eigentlich lautete sein richtiger Name Sergej, (so stand es zumindest in seinem Pass) aber wir - die Bewohner des zehnstöckigen Hochhauses aus dem Viertel der Bergleute - kannten ihn nur unter diesem düsteren Spitznamen – Sek - der Knacki. Sein „Kosename“ war weder erfunden noch übertrieben. Seinerzeit saß er tatsächlich in einem dieser berüchtigten sowjetischen Gefängnisse für Jungkriminelle im Fernosten des Landes, wo er seine langjährige Strafe „einbüßen“ musste, bis man ihn wieder in die Zivilgesellschaft entließ. Darum wurde er von uns gemieden und gefürchtet. Er wusste ebenfalls über seinen „Ruf“ bestens Bescheid und machte sich seine kriminelle Vergangenheit zunutze. Der Knacki hielt das ganze Viertel in Angst und Schrecken.

Obwohl er damals dreiunddreißig und bereits ein kräftiger und erwachsener Mann war, hatte er immer noch keinen Job und machte ebenfalls keinen Hehl daraus, dass er eine Einstellung weder suchte noch wünschte. Prinzipiell. Der Knast hatte aus ihm einen kompromisslosen und verbissenen Gegner aller Pflichten und Gesetze gemacht. Daher hielt er jeden Job für eine Last, die ihm vom Staat und von der Gesellschaft aufgezwungen wurden, denen er seiner Meinung nach nichts, aber wirklich gar nichts, schuldete. Wenn wohl, dann umgekehrt. Und für all die „ jenigen“ zu arbeiten, die sein Leben „kaputt gemacht“ hatten (sein Lieblingsthema in all seinen Gesprächen) kam für den Knacki überhaupt nicht in Frage. Er blieb stur. Nicht einmal der regelmäßige Besuch und die Drohungen der örtlichen Miliz, die ihn mit ihrer monatlichen Moralpredigt zu einem besseren Sowjetbürger umerziehen sollten, konnte etwas daran ändern. Er lebte nach seinen „eigenen“ Gesetzen und nahm dafür alle Konsequenzen in Kauf.
Schon um sieben Uhr morgens, machte es sich der Knacki auf der Sitzbank vor seinem Haus bequem. Er blieb dort eine Weile im Schatten der riesigen Pappeln liegen und wärmte und wälzte sich in der Frühlingssonne. Manchmal setzte er sich dabei eine alte Hornbrille auf die Nase und las eine Zeitung oder ein Buch. Er tat es mit einem dermaßen wichtigen und hochkonzentrierten Gesichtsausdruck, als handelte es sich dabei um ein schweres philosophisches Meisterwerk oder eine wissenschaftliche Lektüre. In der Regel waren das nur zerlesene Mafiakrimis oder Gefängnisthriller, die er von seinen Schnapsbrüdern hin und wieder ausgeliehen bekam. Der Knast und die organisierte Kriminalität. Diese beiden Themen beschäftigten ihn am meisten.

Bis zum Abendbrot blieb seine Existenz in unserem Viertel praktisch unbemerkt und bedeutungslos. Das „ schöne Leben“ begann erst nach einundzwanzig Uhr. In dieser Zeit bekam der Knacki seinen ersten Besuch - ehemalige Häftlinge, Junkies, Trinker oder Prostituierte.

Sein brüchiges Haus stammte noch aus der vorrevolutionären Zeit und wurde bei der Bau unserer Siedlung, (warum auch immer) vom Abriss verschont, mit der Folge, dass diese grob eingerichtete Baracke in der Gesellschaft von modernen Hochbauten jetzt wie ein hässlicher Zwerg aussah und das ästhetische Gesamtbild unheimlich störte. Darin unterschied es sich kaum von seinem räudigen Besitzer. Der Knacki hasste diese „plötzliche“ Nachbarschaft und machte uns - „Eindringlinge“ das Leben zur Hölle, denn unsere Häuser fingen fast an seiner Tür an.

Das war nicht der einzige Grund für seine offene Feindseligkeit und Antipathie. Es hatte sich so ergeben, dass unsere Plattenbausiedlung von vielen Apparatschiks - sowjetischen Funktionären - bewohnt war, die neben den klassischen Proletariern, die diese 4-Zimmer- Wohnungen hier für besondere Verdienste oder auf Grund der hohen Kinderzahl zugeteilt bekommen hatten, ihre Appartements in diesem Neubau „zu Unrecht“ erhalten hatten. Das konnte der Knacki als Opfer des Systems natürlich nicht einfach so hinnehmen und das hatte er auf vielfältige Art und Weise mehrfach mit Worten und Taten zum Ausdruck gebracht. „Die da“ müssten spüren und leiden.

Er konnte Vorgesetzte und Funktionäre sowieso nicht leiden. Nett ausgedrückt. Das Wort Hass hätte wesentlich besser gepasst. Hätten unsere Häuser ein paar Vertreter der Arbeiterklasse mehr beherbergt, hätten wir vielleicht etwas weniger Ärger mit ihm gehabt, aber so viele Bonzen auf einem Quadratmeter rumhocken zu sehen, passte eindeutig nicht in seinen Gerechtigkeitssinn. Er erklärte allen Bewohnern den Vernichtungskrieg und ging dabei ziemlich raffiniert und sadistisch vor.

Nach Einbruch der Dämmerung verwandelte sich unsere sozialistische Vorzeigesiedlung in einen Vorhof zur Hölle. Seine Sitzbank fühlte sich mit Gästen. Sie brachten Wodka, üble Gerüche und Lärm mit. Und als ob das allein schon nicht genug wäre, nahm der Knacki zusätzlich noch seinen alten Kassettenrecorder Vega - der Stolz und das Prestigeobjekt der sowjetischen Hi-Fi Technik mit, schloss ihn draußen an die großen Boxen des Soundverstärkers an und drehte die Lautstärke des Geräts voll auf…

Die „Haus-Disco“ dauerte die ganze Nacht. Kein Mensch in unserem Viertel konnte und wollte danach schlafen. Dasselbe, aber dieses Mal bereits ab sieben Uhr morgens, wiederholte sich auch am Wochenende. Man konnte von Ruhe und Schlaf in unserer Siedlung inzwischen nur noch träumen. Wir „passten“ uns den neuen Bedingungen, soweit es ging, an. Und so konnten wir uns alle richtig glücklich schätzen, wenn das tägliche Nachtkonzert wenigstens aus Sowjet-Hits oder aus aktuellen internationalen Schlagern wie Lambada bestand und waren ziemlich fertig und verzweifelt, wenn die Soundboxen ununterbrochen ausländischen Hard-Rock und Heavy-Metall spuckten. AC/DS, Kiss, Iron Maiden, Mahowar. Ihr Krach war selbst im Stadtpark, der an die Neubauten der Siedlung grenzte, immer noch gut zu hören…
Niemand versuchte dieser Willkür der Gesetzlosigkeit endlich ein Ende zu setzen und mit unserem Peiniger „ von Mann zu Mann“ zu reden, weil dies genau seiner Absicht und seiner Strategie entsprach. Er brannte förmlich darauf, einem von „denen“ die „Fresse“ einzuschlagen. Nur einmal hat es bei uns einen Helden gegeben, der sich mit dem Knacki angelegt hat. Mehr aus Unwissenheit als aus Mut, wie sich später herausstellte.
Es war ein frisch eingezogener Direktor irgendeiner Fabrik, die irgendwelche Produkte in unserer Stadt produzierte. Er wusste über Knacki und seinen Ruf noch nicht Bescheid und glaubte fest an die Macht der sowjetischen Miliz.

Nachdem dieser füllige Onkel im gestreiften Pyjama keuchend runter kam um den Ruhestörer zornig in die Schränke zu weisen, blühte der Knacki richtig auf. Endlich hatte ihn jemand so auf dem Kicker, dass er sogar eine dicke Lippe bei ihm riskierte. Er nahm die Herausforderung dankend an und baute sich zum Kampf auf.

- Was willst du Opa?- zischte er verächtlich durch die Zähne und spuckte dem Fabrikdirektor direkt auf die Hausschuhe. – Hast du zu viel Kohle, oder was? Soll ich dafür sorgen, dass du den Rest deines verfickten Lebens nur noch für die Scheißmedizin und die Tabletten ackern gehst? Das kannst du gerne bei mir haben. Komm schon, du Auspuff! Was ist? Machst du dir jetzt in die Hose, Hurensohn? Dann lass das Arbeitervolk in Ruhe und verpiss dich in deine Bude! Bist du blöde oder taub? Steh nicht herum! Lass uns klopfen, du Sack! Hier, gleich! Ich werde dich so windelweich prügeln, dass du jeden Morgen Blut pisst. Weißt du, wie sich das anfüllt? Mich hat man so verdroschen, du - Missgeburt. Aber ich bin ein Mann und du, du hast nicht die Eier dafür! Mach dich schnell aus dem Staub, so lange ich noch in Gnadenstimmung bin. Ich zähle bis drei. Eins, zwei…


Aber zu einem Kampf kam es doch nicht. Der eingeschüchterte Direktor setze sich eilig in Bewegung und verließ beschämt das Schlachtfeld, begleitet von den Rufen des Knackis, der ihm spöttisch hinterher rief: “ So ist das brav, du Ratte! Und pass schön auf deine Eier auf, du Auspuff! Du wirst die noch sicher für deine Nachkommen brauchen. Und überhaupt, zu viel Schlaf ist ungesund, Opi! Kümmere dich lieber um deine Alte, damit sie nicht so hysterisch durch die Gegend läuft und anderen Menschen, die sich nur ein bisschen amüsieren wollen, mit ihrer Scheißruhe auf den Sack geht. So wie ich das sehe, hat die blöde Kuh es langsam nötig, dass man es ihr ordentlich besorgt. Dann wäre sie endlich zufrieden und beschäftigt und hätte keine Zeit, sich wegen der lauter Musik und so einem Scheiß aufzuregen. Na, kriegst du das hin, oder soll ich kurz vorbeikommen und das für dich übernehmen?“

Der letzte Satz war unter der Gürtellinie. Zwischen den dünnen Wänden der sowjetischen Hochhäuser gab es keine Geheimnisse. Das Privatleben der Bürger spielte sich vor den Augen und den Ohren der Nachbarn ab. Ein gefundenes Fressen für die Gerüchteküche. Der Knacki musste bestimmt von jemandem gehört haben, dass das Ehepaar seit Jahren kinderlos war und die gemeinsamen Bemühungen, ein Baby zu bekommen, ausschließlich an dem Direktor scheiterten. Jeder begriff die Anspielung auf die Potenzprobleme des Herausforderers. Die Schnapsbrüder fingen an zu lachen.

Damit sein Sieg noch lange in Erinnerung blieb, beschloss der Knacki an uns ein Exempel zu statuieren und spielte die ganze Zeit das neue Album von Metallica ab. Dass niemand in unserem Viertel in dieser Nacht mehr geschlafen hat, brauche ich euch nicht zu sagen.

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Der Knacki lebte nicht allein. Er teilte die Wohnung mit den eigenen Eltern, aber das spielte bei seinen täglichen „Nachtkonzerten“ in unserem Viertel kaum eine Rolle. Eher umgekehrt. Der Vater schlug sich sofort auf die Seite des Sohnes, dem er in allen Belangen des Lebens immer Recht gab. Die Beiden tranken zusammen Wodka auf der Sitzbank, sangen schmutzige Lieder und schimpften auf die Regierung: der Vater auf Stalin, der Sohn auf Gorbatschow. Die Mutter, die einzige Frau und Stimme der Vernunft in dieser verrückten Familie, war völlig machtlos etwas dagegen zu unternehmen und litt mit uns mit.

Manchmal griff der Knacki zur Gitarre und sang ein melancholisches Lied. Er hatte eine angenehme Stimme und wenn sein Charakter nicht so mies gewesen wäre, hätten wir seinen (im Grunde gar nicht so üblen) Gesang vielleicht sogar gut leiden können, aber dafür war unsere Verbitterung schon viel zu groß. Der Knacki hatte alles dafür getan, damit man ihn hasste und nicht liebte.

Seine Kleidung blieb immer dieselbe, unabhängig von der Jahreszeit. Er trug eine schwarze Hose und ein gestreiftes Matrosenhemd der sowjetischen Marine, obwohl er auf Grund seiner Verurteilung und seiner Haftzeit nie gedient hat und es auch nicht durfte. Das galt damals als große Schande. Dennoch bestimmte das Thema Militär und Krieg die Hälfte seines Repertoires. Er sang von verwitweten Bräuten, ausgebrannten Panzern und sowjetischen Soldaten in der Sandhölle Afghanistans, die ihre Heimat nicht mehr lebend erreichen würden. Aber auch über Freiheit, Leben als Dieb und im Knast in der UdSSR. Sang lange und laut…und seine Schnapsbrüder sangen mit. Wie jeder Russe trank er aus Prinzip niemals allein.
Seine Gesundheit und seine Kraft waren richtig zu beneiden. Unser Knacki hatte einen durchtrainierten Bizeps, fast so groß wie bei Arnold Schwarzenegger, obwohl er nie irgendeinen Sport getrieben hatte. Es sei denn, man würde zehn Jahre Arbeit als Holzfäller im Lager als solchen betrachten. Seine einzige Beschäftigung während der gesamten Haftzeit.
Im Sommer zeigte er uns seine schmale Taille, seine breiten Brustplatten und seinen Sixpack-Bauch, wenn er jeden Morgen mit nacktem Oberkörper auf der Sitzbank saß und sich von der Sonne bräunen ließ. Wie ein erschöpfter griechischer Halbgott, der Ruhe und Kraft für neue Heldentaten tankte. Er wusste, dass die Natur ihm einen Adonis-Körper gegeben hatte, der einem Schönheitsideal und der Perfektion sehr nah kam, wären da nicht diese hässlichen kriminellen Tattoos, mit denen er von Kopf bis Fuß übersät war. Mutterliebe, Rosen, nackte Frauen und Kreuze. Er ließ alles aus dem Knastleben auf seiner Haut verewigen. Das Gefängnis steckte nicht nur in seinem Körper. Ihm gehörte auch sein Gesicht.

Die Jahre im Bau hatten die milden und zarten Züge seines Äußeren mit der Zeit hart und brutal werden lassen, obwohl er immer noch schön war. Ich fragte mich oft, was aus diesem Mann hätte werden können, wenn es diese Festnahme in seinem Leben nicht gegeben hätte. Womöglich wäre er dann Schauspieler oder Sänger geworden (seine Stimme und sein Aussehen sprachen dafür) und würde uns jetzt Autogramme und Fotos schenken. Er hätte genauso gut auch ein einfacher Mensch bleiben können. Arbeiten, leben, lachen, wie jeder von uns. Aber eine Nacht hatte seine Zukunft und seine Pläne zunichte gemacht. Eine einzige Nacht. Danach musste er sofort in den Knast….

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Man sagte, er wäre zur Zeit der Verhaftung gerade achtzehn geworden, als die Staatsanwaltschaft ihn wegen schwerer Vergewaltigung nach Kolyma geschickt hatte. Es musste auf dem Schullabschlussball oder direkt danach gewesen sein. Niemand in unserer Siedlung konnte mehr genau sagen, ob man damals nur Sekt oder auch Wodka getrunken hatte, oder wer von den Jungs sich zuerst an die Braut heran gemacht hatte und wieso dieses minderjährige Mädchen überhaupt in ihre Clique gekommen war. Alkohol, Feierstimmung, Frauenkörper. Eines hatte zum anderen geführt und obwohl diese Vergewaltigung eine Gruppenvergewaltigung gewesen war, hatte er als einziger von ihnen die längste Haftstrafe bekommen: 12 Jahre, die er im fernen Osten in Sibirien verbüßen musste.

Irgendjemand behauptete ein Knabenfoto von ihm gesehen zu haben, noch bevor man ihn „einkassiert“ hat. Er soll hübsch, sehr hübsch, gewesen sein. Wie ein junger Rock Hudson oder Gregory Peck. Man braucht nicht viel Phantasie um sich vorstellen zu können, was er dort bei den Mitinsassen „erlebt“ hat, wenn man weiß, dass in der Hierarchie der Kriminellen die Vergewaltiger und Pädophilen als erste dran genommen und am heftigsten fertig gemacht werden.

Die Mutter und der Vater bestritten beide seine Unschuld und hielten den Knacki für ein Opfer der Sowjetjustiz. Ihrer Meinung nach, sei das Mädchen gewiss keine Heilige gewesen und habe mit ihrem Minirock und ihrem tiefen Ausschnitt ohnehin die jungen Männer bewusst provoziert. Und eigentlich sei sie selbst ziemlich angetrunken gewesen und habe aus freien Stücken und weil sie eine „Hure“ war, mit jedem aus der Gruppe geschlafen, bevor ihr morgens „einfiel“, dass dies eine „Vergewaltigung“ gewesen sei. Nun wolle sie für den Verlust ihrer Jungfräulichkeit gebührend „entschädigt“ werden und nur weil einer der Täter der Sohn eines örtlichen Bonzen war, habe man dann alles ihrem armen Sohn und seinen Schulkameraden angehängt. Der wahrer Anstifter und Täter - der Sprössling der einflussreichen Eltern - sei gar nicht im Gericht gewesen und auch nicht angeklagt worden. Das war ihre Version. Vielleicht mag sie auch richtig gewesen sein, das hat den Knacki trotzdem nicht von der Zeit im Knast bewahrt. Zwölf Jahre Hölle, die er Tag für Tag für ein kurzes Vergnügen, ( ob das stimmt) mit seiner Jugend und seinem Leben bezahlen musste.

Nun befand er sich auf einem Rachefeldzug. Er wollte die Gesellschaft und die Öffentlichkeit für sein Leiden bezahlen lassen. Sich für jeden Tag seiner verspielten Zukunft, seiner zerbrochenen Träume und seiner verwelkten Jugend, an uns rächen und er tat das gut. Gekonnt gut, wie jemand, der es versteht, nicht nur Schmerzen zuzufügen, sondern auch jahrelang selber welche zu ertragen.

Im Winter tat sich für uns das Paradies auf. Der Knacki blieb zu Hause und trank dort. Er verließ seine Bude nur, um neunen Wodka und Bier zu holen. Es gab zwar weiterhin Lärm, aber dieser war bei weitem nicht so schlimm wie im Sommer. Damit bestrafte er bestenfalls nur seine eigene Familie, vor allem die Mutter, die sein Vater und er nach draußen jagten, wenn sie sich wieder mal über die Zustände und die Trinker im Hause beklagte.

Im Frühling bekam der Knacki unerwartet eine Beschäftigung. Sein Vater, ebenfalls ein ehemaliger Häftling, wurde vom Staat rückwirkend rehabilitiert und mit einem kleinen Grundstück, drei Tausend Rubel und einem Bezugsschein für den Kauf eines Schiguli für seine Haftzeit unter Stalin entschädigt. Dreitausend Rubel war 1989 eine hübsche Stange Geld und für den Bezugsschein für ein Auto stand man sogar Jahrzehnte auf der Warteliste. Vater und Sohn waren zufrieden und beschlossen, auf dem Grundstück eine Garage für den Wagen zu bauen, den ihnen die Regierung in Kürze versprochen hatte. Nun versuchte der Knacki sich in der Rolle des Bauarbeiters.

Jeden Morgen ließ er karrenweise Ziegelsteine, Zement, Sand und andere Baumaterialen nach Hause herbringen, die er direkt von der Baustelle in unserer Siedlung nahm. Die Bauarbeiten an unseren Häusern wurden erst Ende 1991 beendet. Er lief die ganze Zeit mit nacktem Oberkörper herum, schimpfte wie ein Schuster und machte kein Hehl daraus, dass die Baumaterialen von ihm gestohlen wurden. Dabei versprach er jedem, der etwas dagegen hatte, ein schnelles Ableben noch am selben Tag. Die Miliz, die Bauleitung, die Anwohner. Niemand wagte es, ihn zur Rechenschaft zu ziehen. Alle Beteiligten waren froh, dass er jetzt weniger trank und die Nachtkonzerte nur noch am Wochenende stattfanden. Das bedeutete für uns alle ein mehr oder weniger „erträgliches“ Leben.

Im Sommer passierte etwas Unglaubliches und Unerwartetes. Der Knacki verliebte sich in ein Mädchen. Zum ersten Mal seit seiner Entlassung ins Zivilleben. Aber Glück hat nur selten Platz im alltäglichen Leben. In einem Leben wie seines sowieso. Wie zu erwarten, war es eine unerwiderte Liebe….


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In unserem Hochhaus lebte ein Mädchen. Ich kann mich heute nicht mehr an ihren Namen erinnern, aber unser Knacki konnte sie ziemlich gut leiden. Das war ein offenes Geheimnis, auch wenn er das nach Außen niemals zeigte. Da ihm von Anfang an klar war, dass seine Chancen bei ihr gleich Null waren, versuchte der Knacki erst gar nicht, ihr zu gefallen. Dennoch hörte er von jetzt auf gleich mit dem Lärm auf und benahm sich außerordentlich gut, wenn nicht sogar vorbildlich, sobald sie in seiner Nähe war oder auch nur an ihm vorbei ging. Heimlich träumte er davon, eines Tages mit ihr ins Kino oder Essen zu gehen und lebte mit diesem Wunsch in den Tag hinein.

Seine Schwärmerei endete rasch als das Mädchen bald einen Freund bekam. Ihr Auserwählter war älter als sie und ein Speznas. Ein Fallschirmjäger in der sowjetischen Elitesondereinheit, (vergleichbar mit dem britischen SAS oder amerikanischen Seals) und hatte mit Mitte zwanzig bereits zwei Jahre in Afghanistan mit Mudschahidin gekämpft. Er war klein, aber sehr kräftig und zäh, wie es sich bei einem Soldaten der Special Force auch gehört. Wenn er sie zu Hause besuchte, hatte der Bräutigam immer die bügelfrische Khaki-Uniform der sowjetischen Truppen in Afghanistan an, bei der uns vor allem seine zahlreichen Medaillen und Abzeichen faszinierten, die er stolz auf der Brust trug. Er galt als Held und als eine gute Partie.

Sein Auftauchen fügte dem Herzen des Knackis eine tiefe und unheilbare Wunde zu. Er fing wieder damit an, Ärger zu machen, nicht dem Freund oder uns, nein, dem Mädchen selbst. Der Knacki bedrängte sie, lief ihr nach, oder ließ im ganzen Hof laut verkünden, wie er „ es diesem geilen Luder eines Tages so richtig besorgen würde.“

Irgendwann erreichte seine Botschaft auch die Ohren des Falschschirmjägers. Nachdem der Knacki die Braut des Soldaten erneut als Hure beschimpft hatte und wieder über ihre weiblichen Vorzüge und Reize hergezogen war, bekam er Besuch von ihrem Freund. Diese schicksalhafte Begegnung versetzte das ganze Haus in Hochspannung und Aufregung. Wir witterten einen Kampf und erhofften das Ende der Willkür in unserem Viertel. Ein Speznas vs. Gewalttäter. Das Gute oder das Böse. Wer würde siegen?

Ihre „Unterhaltung“ fand vor den Garagen hinter unseren Häusern statt, die damals noch in Bau waren. Das Gespräch war sehr kurz und schnell vorbei. Der Fallschirmjäger erschien nach fünf Minuten. Seine Nase und seine Lippen bluteten. Der Knacki wurde erst eine Viertelstunde später…reingetragen. Er hing an den Armen seiner Schnapsbrüder wie ein Kartoffelsack und bewegte sich nicht. Sein lebloses Gesicht war übel zugerichtet und sah wie ein rohes Beefsteak aus. Kurz danach rief jemand einen Krankenwagen. Der Knacki hatte eine Gehirnerschütterung.…

Einen Monat lang genoss unser Haus eine nahezu akademische Ruhe, aber unsere Freude war zu früh. Nach der Schlägerei vor den Garagen fehlte von unserem Retter jede Spur. Womöglich fürchtete er sich doch vor der Rache des Gesindels, das nach dieser schändlichen Niederlage jetzt überall in unserem Viertel auf der Lauer lag. Aber vielleicht war er auch mit dem Bonzenvater seiner Braut nicht klar gekommen und hatte deshalb Schluss mit ihr gemacht. Wir haben die ganze Wahrheit nie erfahren. Der Knacki kehrte einen Monat später zurück: noch finster und brutaler als je zuvor. Seine Rache war grausam. Er trank, machte Lärm und benahm sich wie es ihm passte, aber viel lauter, zynischer und rücksichtsloser als früher, weil ihm und uns jetzt eines klar war: Wir hatten niemanden mehr, der uns vor ihm schützen konnte…

Doch bald bekam er wieder ein neues Mädchen. Dieses Mal war der Pfeil der Amour aber gnädig mit ihm. Seine Auserwählte und er passten gut zusammen. Auch sie rauchte Zigaretten, trank Wein und fluchte wie ein Kutscher. In ihrem knappen Minirock und mit ihrem grellen Make-up, erschien sie einem eher vulgär als schön und war die Verkörperung dessen, was jeder prüde Sowjetbürger mit dem Wort „Straßenmädchen“ meinte, wenn man diese Sorte Frauen traf. Eine Frau die rauchte und trank galt in der sowjetischen Gesellschaft als schlecht, gefallen und verdorben.

Sie lernte hier den Beruf einer Köchin und kam aus irgendeinem Dorf in unsere Stadt. Ihr Auftauchen brachte Veränderungen in Knackis Leben. Ab jetzt trat er etwas kürzer und erwähnte seine unglückliche Liebe und alles, was davor vorgefallen war, mit keinem einzigen Wort mehr. Selbst das Repertoire seiner Nachtkonzerte wurde weicher und lyrischer. Es wurde durch sowjetische Pop-Bands wie „ Zärtlicher Mai“ oder „Mirage“ ergänzt. Sein Mädchen stand auf deren Lieder. Und überhaupt, die Liebe machte einen anderen Menschen aus ihm und zeigte, dass er für die Gesellschaft nicht ganz verloren war und auch anderes sein konnte, wenn er nur wollte. Der Knacki trank, aber nicht mehr so viel, fluchte, aber nicht mehr so heftig und die täglichen „Orgien“ endeten jetzt um elf Uhr abends und nicht wie sonst vor dem Sonnenaufgang. Danach gingen er und seine Angebetete schlafen.

Die Mutter des Knackis mochte das Mädchen nicht, konnte ihr positiver Einfluss auf den Sohn jedoch nicht abstreiten. Sie „ertrug“ sie, wie alles in diesem Haus. Der Vater war von der „ Schwiegertochter „ dagegen richtig begeistert. Er bot dem Mädchen Birnen und Äpfel an und verlangte von ihr nie, für ihn und den Sohn den Wodka zu holen.
Der Knacki schien sie ebenfalls gerne zu haben, hatte aber nicht vor, das Mädchen zu heiraten, auch wenn sie schon seit einer Weile zusammenlebten, was in der prüden sozialistischen Gesellschaft als Zeichen der „Hurerei“ galt und absolut inakzeptabel war.

Wir haben niemals geglaubt, dass es zwischen den Beiden lange halten würde und konnten unseren Augen im ersten Augenblick nicht trauen, als wir den gewölbten Bauch seines Mädchens zum ersten Mal gesehen haben. Er gab uns zu hoffen, dass ein normales Leben auch in dieser Siedlung bald nichts Unmögliches mehr sein könnte. Der Sommer ging vorbei. Dann kam der Herbst und später der Winter. Die Zeit verging und der Bauch des Mädchens gewann weiter an Größe. Auch der Knacki ließ sich nicht mehr auf dem Hof blicken. Man hörte tagelang nichts mehr von ihm. Selbst in der Silvesternacht blieb es in unserem Viertel ziemlich ruhig. Abgesehen von dem üblichen Lärm, den es während der Feiertage gibt. Wir waren sprachlos und fingen fast schon an, daran zu glauben, dass die künftige Vaterrolle einen anderen Menschen aus ihm gemacht hatte. Einen Mann der Verantwortung übernimmt, zur Arbeit geht, alles in allem NORMAL ist.

Das Rätsel um ihn löste sich erst im Januar auf. Wir erfuhren, dass Knacki….verstorben war. Es war direkt während der Feiertage geschehen. Es stellte sich heraus, dass er drogenabhängig war und schon lange Heroin intravenös spritze. An diesem Tag hatte er eine zu hohe Dosis und danach noch jede Menge Wodka zu sich genommen. Sein Herz hatte das einfach nicht mehr mitgemacht…
Jetzt wurde jedem von uns allmählich klar, warum er vormittags immer so still, fast leblos da lag und sich die ganze Zeit in der Sonne wärmte. Er war high und zugedröhnt.

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Er wurde ohne großes Aufsehen beigesetzt. Entgegen dem verbreiteten Brauch, für die Familie des Verstorbenen etwas beizusteuern, wurde für den Knacki kein Geld in der Nachbarschaft gesammelt. Ich bezweifle auch, dass jemand wirklich etwas für ihn gegeben hätte. Man brachte ihn schnell und kommentarlos unter die Erde und tat so als hätte dieser Mensch niemals existiert. Und eine Woche später brachte seine Freundin ein Kind zur Welt. Aber ihre Tochter hatte keinen Vater mehr. Die Großeltern nahmen die junge Mutter mit dem Kind bei sich auf.

Ein oder zwei Mal meldeten sich auch die Schnapsbrüder und Saufkumpanen des Verstorbenen zurück, in der Hoffnung, hier ein Glass Wodka umsonst zu trinken zu bekommen, aber die beiden Frauen jagten sie weg. Auch der Großvater musste ihnen rasch folgen, als er leicht angetrunken zu randalieren versucht hat. Die beiden Frauen haben sich jedes Mal durchgesetzt. Irgendwann mal hörte er ganz mit dem Trinken auf. In unserem Viertel kehrten endlich Ruhe und Frieden ein.

Nur ein Mal wurde diese Harmonie kurz unterbrochen. Die Schwiegermutter und ihre Schwiegertochter stritten sich. Es war zwei Monate nachdem Knacki beerdigt worden war. Die Fast- Schwiegermutter hatte die Fast- Schwiegertochter mit einem fremden Mann auf der Straße erwischt, gerade in dem Moment, als die beiden sich wild küssten. Der alten Frau platzte der Kragen. Sie konnte sich kaum vor Wut einkriegen.
- Hure! Dreckige Hure! rief sie der Schwiegertochter empört ins Gesicht. Kaum ist mein Sohn weg, wackelst du schon mit dem Auspuff wie eine läufige Hündin und machst mit fremden Männern vor meinen Augen herum. Hast du kein Gewissen, keine Scham mehr? Und dann hast du uns noch dein Balg angedreht. Ist das die Dankbarkeit dafür, dass wir dich aufgenommen haben? Es ist noch nicht sicher, ob das Kind überhaupt von Serjoscha ist. Sei froh, dass wir so gütig sind und dich nicht mit deinem Hurenkind auf die Straße setzten. Ein Glück, dass Sergej das nicht mehr sieht!
- Ich lasse mir nichts von dir sagen, gab die Schwiegertochter wütend zurück ohne sich aus den Umarmungen des Mannes zu lösen. Sieh dich doch selbst an! Dein Sohn war kein Mann! Nein! Ein Fußabtreter, ein Scheiß-Junkie, ein Alkoholiker war er. Er konnte ohne Stoff und ohne Flasche keinen einzigen Tag überleben. Du und dein Sohn solltet euch glücklich schätzen, dass ich mich mit so einem Stück Scheiße wie euch eingelassen habe. Wofür soll ich euch dankbar sein? Für diese Bruchbude und einen Fressnapf auf dem Tisch? Nicht einmal Alimente werde ich von eurem Sergej bekommen können! Und ich Doofe, dachte mir, ich wäre einem echten Kerl, einem Helden begegnet. Jemandem, der unschuldig zwölf Jahre im Knast saß. So einer ist stark und kann dich beschützen, so einer lässt dich nie im Stich! Mit dem werde ich eine Familie gründen. Und? Nichts. Gar nichts. Weißt du was? Ich pfeife auf deine Meinung! Ein Kind braucht einen Vater. Einen Vater und kein Auspuffendrohr wie dein Sohn. Wer bist du überhaupt, um über mich ein Urteil zu fallen? Guck doch, mit wem du selbst lebst!

Das ganze Hof war der Zeuge ihrer verbalen Auseinandersetzung. Wir konnten unsere Schadenfreude kaum verbergen. Endlich wurden wir gerächt, endlich bezahlte jemand für unser Leid. Wir gingen alle davon aus, dass die Schwiegertochter nach diesem Krach noch in derselben Nacht das Haus verlassen würde. Aber sie blieb und lebt dort bis heute.

Tagsüber trifft sie sich mit dem jungen Mann, der sie auf der Straße geküsst hatte und abends kümmert sie sich mit Sergejs Mutter um das Kind. Sie hängen zusammen die Wäsche der Kleinen auf oder schieben gemeinsam den Kinderwagen mit dem Kind auf dem Hof. Knackis Tochter. Hin und wieder streiten sie sich, lassen es ordentlich krachen und finden doch wieder zusammen. Vielleicht ist das das Mysterium, das das Geheimnis der russischen Seele offenbart? Sie kann lieben, verstehen, hassen und vergeben. Alles gleichzeitig. Vor allem vergeben. Darin ist jeder Russe gut.

Und du lieber Leser fragst mich womöglich:- „ Was war das gerade? Wozu hast du mir diese Story überhaupt erzählt?“. Und ich antworte dir ehrlich: „ Keine Ahnung! Das ist etwas, das man das Leben nennt! „

Ende
Roman Dell
Russische Fassung
03.06-06.06.2009
Deutsche Übersetzung
01.03.2015- 06.04.2015
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Beitrag von zuzu »

Der Sommer ist zu Ende, die Geschichten gehen weiter...


Die heutige Erzählung stammt ebenfalls aus meinem Düsseldorfer Zyklus. Sie handelt von Recht und Unrecht und auf welcher haardünnen Grenze diese beiden Begriffe im Leben sich manchmal bewegen.


[center]Die Abrechnung

(Kurzgeschichte)
[/center]
Von allen Eigenschaften der menschlichen Natur sind mir die Häme und Grausamkeit des Homo Sapiens am meisten zuwider, selbst dann wenn man meint, diese im Namen der Gerechtigkeit einsetzen müssen. Darum erzähle ich ungern diese Geschichte und tu das nur, um dem Leser zu zeigen, auf welcher haardünnen Grenze Recht und Unrecht sich manchmal bewegen, aber auch um den Menschen ins Gewissen zu reden und ihre Seele aufzurütteln. Dabei ist diese Geschichte keine besondere Geschichte, ganz im Gegenteil, die Welt und das Leben sind voll davon. Aber fangen wir doch lieber von vorne an.

Als Kind aß ich gern frisches Obst: Äpfel, Aprikosen, Pflaumen, aber vor allem Süß- und Sauerkirschen, wie die meisten Mädchen und Jungen in unserer Hochbausiedlung. Dabei zeigten wir Kinder nur wenig Interesse daran, die so begehrten Früchte auf dem Markt oder im Geschäft zu kaufen. Wir beschafften uns diese Leckereien lieber auf „räuberische“ Art. Das bedeutet im Klartext: man plünderte einfach sämtliche Obstbäume in der Umgebung.
Dafür brauchten wir nur unseren Stadtdschungel zu verlassen und uns in Richtung städtisches Grünflächenamt - Seljentrest- zu begeben, um dort fette Beute zu machen. Die Obstbäume, die dort am Rande des Betriebsgeländes chaotisch wuchsen, galten für uns als „herrenlos“.
So ganz „herrenlos“ waren sie aber trotzdem nicht. Eigentlich hatten die Bäume sogar einen offiziellen Besitzer. Sie gehörten allesamt der örtlichen Kommune, also unserer Stadt, aber diese kümmerte sich nur sporadisch um sie. Und weil die „Onkel“ und „Tanten“ aus der Welt der Erwachsenen immer so viel um die Ohren hatten, übernahmen wir Kinder, die „Ernte“ für sie und hatten keine moralischen Bedenken dabei. Weshalb auch? Da alles in unserem demokratischen Arbeiterstaat offiziell dem Volk gehörte und jeder von uns, hypothetisch betrachtet, auch ein Teil dieses Volkes war, war das Thema schlechtes Gewissen damit schnell vom Tisch. Genauso schnell, wie die gestohlenen Früchte in unserem Magen.
Obwohl ich generell das Leben in einer Clique strikt mied (sowohl damals als auch heute), machte ich bei diesen Raubzügen ausnahmsweise mit und war genau wie die Anderen untröstlich, als wir eines Tages feststellten, dass das Grünflächenamt über unsere „Aktionen“ inzwischen Bescheid wusste und das Gelände mit Stacheldraht hatte einzäunen lassen. Arbeiterstaat hin oder her. Danach konnten wir von den Gratis- Äpfeln, Kirschen und Pflaumen auf dem Betriebsgelände von Seljentrest nur noch träumen. Aber diese Pechsträhne dauerte nur kurz. Schon bald geriet ein anderer, wenn auch winzig kleiner, Obstgarten in unser Blickfeld. Es war der Garten von der sommersprossigen Irka.

[center]XXX[/center]
Die sommersprossige Irka wohnte im Nachbarhaus, einer kleinen heruntergekommenen Baracke, die beim Bau unserer Siedlung vom Abriss verschont geblieben war. Der Leser kennt sie bereits aus der Knacki-Geschichte. Ihren Spitznamen verdankte Irka der beachtlichen Anzahl von Sommersprossen, die sie von Kopf bis Fuß überall bedeckten. Mit ihren dreiundsechzig Jahren war die sommersprossige Irka bereits seit 8 Jahren Rentnerin, hatte aber dennoch lange nicht das Gefühl zum alten Eisen zu gehören. Darum färbte sie sich die Haare mit Henna rot, benutzte einen knallroten Lippenstift und achtete auf die Mode, so gut wie es bei unserer Planwirtschaft und unserem Dauerdefizit in den Läden nur ging.

Im Sommer hatte sie meistens ein weißes Kleid aus Musselin an, den sie mit einem Damenhut in derselben Farbe kombinierte. Es war ihre einzige Rettung vor der Sonne und der Hitze, denn die Sommer in Südrussland sind immer glutheiß. Im Winter lief sie in einem, wie sie selbst behauptete, dieser französischen Mäntel herum, die nach den Filmen mit Alain Delon und Catherine Deneuve in unserem Land in Mode gekommen waren und trug dabei gerne schwarze Stiefeln mit hohen Absätzen.

Die sommersprossige Irka besaß einen Garten, der genau betrachtet kaum größer als ein Beet war. Nur ein paar Meter Land, die sie liebevoll mit Bäumen und Blumen bepflanzte. Dieses Hobby bedeutete ihr sehr viel. Ihre Wohnung befand sich im Erdgeschoß. Über ihr wohnte der Knacki, aber sie litt keineswegs unter seinem täglichen Nachtlärm. Die meiste Zeit ihres Lebens arbeitete sie als technische Aushilfe in einem Straßenbahndepot und war inzwischen halb taub auf dem linken Ohr. Bevor sie in Rente ging, hat sie noch fünf Jahre an einer Schule gearbeitet. Sie putzte Treppen und Klos und schrubbte den Boden. Die Kinder machten sie zu einem Kettenhund. Es gab nichts Leichteres, als Irka in Rage zu versetzen. Sie drohte den Schülern mit dem Schrubber und spuckte mit nicht druckreifen Wörtern um sich.

Von den Nachbarn im Haus wusste ich, dass Irka an der Schule richtig gemobbt wurde. Alle Schüler, von klein bis groß, quälten und erniedrigten sie. Die Blagen liefen mit schmutzigen Schuhen rum, wenn Irka gerade gewischt hatte, oder kippten ihren Eimer mit dem schlammigen Wasser einfach um, so dass dieser mit einem lauten Knall über die Treppen flog und die frisch geputzten Stufen wieder dreckig machte. Und sie schrie die Kinder mit Schaum vor dem Mund an, wütend und machtlos über ihre Peiniger. Irgendwann mal ging sie in Rente.
Die sommersprossige Irka war nie verheiratet, hatte jedoch einen erwachsenen Sohn. Er arbeitete irgendwo auf Sachalin, in der Handelsflotte. Es ging das Gerücht, dass ihr Kind ein Bastard war, dass sie im Krieg ein Techtelmechtel mit vielen Deutschen gehabt hatte und dass der Vater ihres Sohnes deshalb ein Wehrmachtsoffizier aus Deutschland war. Der Staat zahlte Irka nur 60 Rubel Rente. Das war nicht besonders viel. Den Rest verdiente sie mit dem Garten dazu und kam so über die Runden. Die Obstbäume wuchsen direkt vor ihrem Haus.

Unser Mikrorayon war eine Vorzeigeneusiedlung, die erst vor kurzer Zeit entstanden war, während ihr Haus, noch aus der Zarenzeit, fast schon auseinanderfiel und eigentlich abgerissen werden musste. Als Irka vor vierzig Jahren hier einzog, war diese Gegend ein riesiges unbebautes Brachland. Sie nutze die Gunst der Stunde und die Lässigkeit der Behörden und schnappte sich illegal ein paar Meter Land, wo sie sofort ihre Obstbäume anpflanzte: Kirsch-, Apfel-, Aprikosen- und Birnbäume. Nebenbei züchtete sie auch Blumen: Rosen, Astern und Tulpen.

Später ließ sie ihren Garten mit Holzlatten vor Dieben und Strolche einzäunen. Nun waren die Bäume inzwischen riesengroß und boten Schutz vor der Sonne. Im Sommer stellte Irka eine Holzbank und einen Tisch drunter und machte dort nachmittags immer ein kleines Nickerchen oder saß da und lass die Zeitung, meistens „ Prawda“ (Die Wahrheit) oder „Trud“ (Werk). Das städtische Grünflächenamt, unsere einzige Einnahmequelle, war bereits versiegt und wir suchten dringend nach einem neuen „Jagdrevier“, das uns weiter mit frischem Obst und natürlich umsonst, versorgen könnte. Irkas Garten kam uns dabei sehr gelegen. Ihr Unglück war einfach vorherbestimmt.

[center]XXX[/center]
Irkas Ernte war immer gut. Die Äste beugten sich förmlich unter der Last der leckeren Früchte. Kirschen, Äpfel, Birnen und Aprikosen. Wenn es so weit war, holte sie immer eine große Holzleiter aus dem Haus und sammelte die Früchte in einer Kupferschale ein. Dann sortierte sie die gesamte Ernte nach Obstarten und bot diese den Passanten in großen emaillierten Eimern an, die sie entlang des Gehweges aufstellte. Ein Beutel Kirschen für 30 Kopeken, ein ganzer Eimer für 3 Rubel. Der Garten brachte ihr zusätzlich 40 bis 60 Rubel ein, die ihr sonst in der Rente fehlten. Es war genug für ein bescheidenes Leben.

Die überladenen Äste mit Früchten, die inzwischen schwer über den Zaun hingen, brachten uns Kinder in Versuchung, jedes Mal im Vorbeigehen eine Handvoll davon schnell zu pflücken und in unseren Taschen verschwinden zu lassen. Am Anfang schien Irka nichts von diesen „Überfällen“ zu bemerken. Erst als die Äste deutlich „lichter“ wurden, verstand sie, dass da etwas nicht stimmte und ihre Wachsamkeit nahm ab sofort für uns bedrohliche Ausmaße an. Nun wachte sie wie ein Cerberus über ihre Bäume und ihren Garten und ließ keinen von uns an die Früchte. Wenn jemand von uns trotzdem nach einem Apfel oder einer Beere aus ihrem Garten griff, stürzte sie mit Schimpftiraden auf uns zu und warf uns ihren Holzstock oder kleine Kieselsteine hinterher. Alle Bitten von der sommersprossigen Irka etwas Obst umsonst zu bekommen, wurden von ihr kategorisch abgelehnt.
- Gib mir etwas Kleingeld, Söhnchen!- antwortete sie jedes Mal. – Dann kannst du auch die Tüte voll machen. Und wenn nicht, dann geh weiter.

Kein Wunder dass sie bei allen in der Siedlung bald höchst unbeliebt war. Ihr egoistisches „Kleinkapitalisten-Verhalten“ passte keineswegs zu der sowjetischen Philosophie und der Lebensart, nach der bei uns theoretisch kein Platz für den Geiz und den Individualismus war und man alles brüderlich mit der Gemeinschaft teilen sollte. Die sommersprossige Irka scherte das kaum. Sie wollte Geld für ihre Früchte haben und drohte jedem, der sie weiter ärgerte oder bestahl mit der baldigen Abrechnung in Person ihres Sohnes.

„ Wartet mal ab, da kommt mein Sohn Iwan zurück! Er wird euch schon zeigen, dass man eine hilflose Frau nicht ungestraft kränken und beleidigen darf! Er wird sich um euch, Strolche und Diebe richtig kümmern!“- schrie sie jedes Mal und ballte ihre knochigen Fäuste zusammen.
Niemand nahm ihre Drohung ernst. Bis jetzt hatte man Iwan noch nie in unserer Siedlung gesichtet. Man zweifelte inzwischen sogar an seiner Existenz. Darum machten wir Kinder wie bisher weiter und provozierten die alte Frau, indem wir ihre Früchte direkt vor ihren Augen stahlen und ihr danach aus sicherer Entfernung zuriefen: „Die sommersprossige Irka – taube Närrin! Alte Schabracke! Du kriegst uns nicht! Du kriegst uns nicht.“

Uns war schon klar dass, sie uns niemals einholen könnte. Darum beobachteten wir entspannt, wie sie uns wütend und hilflos Pest und Verrecken an den Hals wünschte und uns verfluchte, wobei sie Schaum und Speichel in alle Richtungen spuckte. Es war grausam, aber amüsant.
Die meisten Eltern in unserem Haus wussten über die Streiche ihrer Kinder Bescheid, unternahmen jedoch nichts dagegen. Stattdessen zuckten sie nur lässig mit den Schultern und sagten laut: „Das sind doch Kinder! Was erwartet diese alte Verrückte von uns?“
Abgesehen davon hielten sie das, was wir mit Irkas Obstbäumen regelmäßig veranstalteten keineswegs für einen richtigen Diebstahl. Schließlich pflückten wir nur die Äste die über dem Zaun und nicht im inneren des Gartens hingen. Diese Äste gehörten in unserer Rechtsvorstellung der Allgemeinheit. Welcher Diebstahl war das also bitte schön? Wir sahen überhaupt keinen Grund, uns nicht weiterhin bei ihr „bedienen“ zu dürfen.


[center]XXX[/center]
Der Tag, an dem dieses Unheil in unserer Siedlung geschah, ließ am Anfang nichts Böses ahnen. Ein paar Jungs aus unserem Blockhaus beschlossen dem Garten von der sommersprossigen Irka nachmittags erneut einen kurzen Besuch abzustatten und die überladenen Äste ihres Kirschbaums ein wenig zu erleichtern. Der Augenblick dafür war auch sehr günstig und perfekt. Die sommersprossige Irka machte gerade ein Nickerchen. Sie hatte sich eine alte Zeitung unter den Kopf gelegt und döste im Schatten.

Nach dem das städtische Grünflächenamt sein Gelände hatte einzäunen lassen, machte ich nicht mehr bei unseren „Raubzügen“ mit. Auch die „Aktionen“ in Irkas Garten blieben für mich ein klares Tabu. Nicht dass ich Angst vor meinen Eltern gehabt hätte, meine Mutter ahnte nicht einmal, dass ich an den früheren „Überfällen“ auf dem Gelände des Grünflächenamtes „beteiligt“ gewesen war, aber etwas in mir sagte mir, dass das, was wir Irka antun wollten, eigentlich überhaupt nicht gut oder sogar schlecht war. Darum begnügte ich mich damit, den anderen Kindern einfach aus dem Fenster meines Hauses zuzuschauen.

Ich weiß nicht mehr, wer von den Kindern an dem Tag diese Kirsche von ihrem Baum abgerissen hatte. Ich weiß nur, dass seine Eltern wohlhabend waren. In unserem Hochhaus wohnten viele Reiche und Direktoren. Der Junge pflückte den Ast leer und ließ die Beeren sofort in seinem Mund verschwinden. Dann noch einen Ast. Und noch einen. Seine Gier und sein Appetit waren groß. Größer als sein Kindermagen und seine Hände.
Irgendwann mal beschloss er, noch mehr Kirschen auf Vorrat zu pflücken und packte entschlossen den nächsten Ast an. Dann zog er den Ast dicht an sich heran und begann mit der Arbeit…

Vielleicht war der Ast zu trocken oder zu dünn. Vielleicht hatte der Junge einfach zu viel Kraft. In den Moment, als er erneut nach einer großen Kirsche direkt vor seiner Nase greifen wollte, brach der Ast in seinen Händen zusammen und der junge Dieb fiel wie ein Kartoffelsack auf den staubigen Boden. Dieser Lärm machte die sommersprossige Irka augenblicklich wach. Sie öffnete die Augen und staunte nicht schlecht über den frechen Eindringling, direkt vor ihrer Nase.

Ihre Reaktion entsprach voll und ganz ihrem zornigen Wesen. Sie griff nach einem schweren Holzstock vor ihren Füßen und warf ihn dem Jungen hinterher. Gewöhnlich war ihre Treffquote nicht besonders hoch. Genauer gesagt gleich null. Meistens verfehlte der Stock sowieso sein Ziel oder fiel nach nur wenigen Metern kraftlos auf den Boden. Auch sonst war es für uns keine große Kunst ihren Würfen und Schlägen geschickt auszuweichen. Aber dieses Mal war alles anders. Der Zorn verlieh der sommersprossigen Irka die Eigenschaften eines Woroschilow-Schützen.

Der Stock traf den Jungen direkt an der Nase, die dann sofort zu bluten begann. Der kleine Dieb fing an laut zu weinen und machte sich mit blutbeschmiertem Gesicht und erbeuteten Kirschen in der Hand auf den Weg nach Hause. In der Zeit spuckte die sommersprossige Irka ihre Hasstiraden und beschimpfte den jungen Räuber als „Balg“, „Hosenscheißer“ und „Lump“
Unglücklicherweise gehörten die Eltern dieses Jungen zu jener Kategorie von Menschen, die ihre Kinder immer bedingungslos in Schutz nehmen, ohne sich vorher überhaupt die Frage zu stellen, wer eigentlich schuld ist. Auch heute.

Eine Minute später stand die aufgebrachte Mutter des Kindes bereits vor Irkas Zaun und verlangte lautstark nach der „alten Hexe“, um mit der sommersprossigen Hure „abzurechnen“. Ihr Mann hinkte seiner Frau gehorsam hinterher. Er arbeitete als Fernfahrer und wollte sich gerade umziehen, als der Streit ausgebrochen war. Sein halb zugeknöpftes Hemd guckte aus der Jogginghose raus. Das Gesicht des Mannes lief rot an. Er war nicht allein mit seinem Zorn. Die anderen Bewohner unseres Hauses fühlten sich ebenfalls von dem „barbarischen“ Angriff Irkas auf das „schutzlose Kind“ angewidert und betroffen und kamen mit auf die Straße.

Das Volk versammelte sich vor ihrem Zaun. Immer mehr Eltern gingen raus und bekundeten ihre Solidarität mit der Familie des „Opfers“. Irkas „Schandtat“ brachte die Geduld und das Fass des Volkszorns an diesem Nachmittag zum Überlaufen. Sie schrien die sommersprossige Irka an, die jetzt stumm und eingeschüchtert vor dem Zaun ihres Gartens stand und spuckten der alten Frau ins Gesicht.

Hin und wieder fielen Worte wie „ rothaarige Dirne“, oder „ geizige Dreckshündin“ in die Menge. Auch die angebliche „Hurerei“ Irkas mit den Deutschen kam dabei schnell zur Sprache. Man wünschte Irka, sie möge an ihrem Geiz verrecken und sich ihre Früchte man weiß schon wohin zu schieben.

Leider war Irka nicht klug genug, um schnell zu erkennen, dass sie jetzt besser dran wäre, Reue und Schuldgefühl zu zeigen und die Gemüter der Eltern zu beruhigen, anstatt sie weiter anzuheizen. Stattdessen verteidigte sie sich verbal gegen die aufgebrachte Menge und warf den Eltern der „Hosenscheißer“ und „Strolche“ Gegenanschuldigungen und Beleidigungen entgegen.

Irgendwann mal reichten die Worte auch nicht mehr. Das Volk war so weit und sehnte sich nach Rache. Man wollte Irka physisch spüren lassen, welche schwere Beleidigung sie dem Arbeitervolk und dessen Kindern mit ihrem „kapitalistischen Geiz“ angetan hatte und ihr eine Lektion erteilen.

Die wütenden Eltern machten sich an ihre Bäume heran. Sie rissen die Früchte von den Ästen und steckten sie demonstrativ in die Taschen und Tüten, die ihre Kinder schadenfroh und mit den Minen von Unschuldslämmern jetzt bereit in den Händen hielten. Die Erwachsenen warnten die Alte ausdrücklich davor, ihre Kinder auch nur ein einziges Mal mit dem Fingen anzurühren, wenn sie ihre Lust und ihren Hunger nach frischem Obst in ihrem Garten stillen wollten. Die zwei drei leer gepflückten Ästen würden sie schon nicht arm machen.

Am Anfang versuchte die sommersprossige Irka ihren Besitz gegen die Eindringlinge tapfer zu verteidigen, aber ihr Widerstand wurde schnell gebrochen. Man warf die Alte auf den Boden und wälzte die schreiende Irka noch ein paar Meter durch den Staub, bevor sie kraftlos vor ihrer Sitzbank zusammenbrach und dort liegen blieb. Währenddessen ging die Abrechnung einfach weiter.

Die sommersprossige Irka rappelte sich wieder auf. Ihr Gesicht war rot und verkratzt. Die knallroten Haare, die wir die ganze Zeit für gefärbt gehalten hatten, erwiesen sich in der Tat als eine gut gemachte Perücke. Irkas Haar war in Wirklichkeit ungekämmt und gelbgrau. Die Alte saß neben der Bank im Staub und schluchzte laut. Gelegentlich brummte sie ihren Peinigern irgendwelche Worte hinterher, die nur sie selbst verstand, weil ihr Fluch im Lärm versank. Ihr blieb nichts anderes übrig, als der eigenen Bestrafung beizuwohnen und hilflos zu beobachten, wie die Öffentlichkeit mit ihr abrechnete. Sie konnte ohnehin nichts mehr dagegen tun.

[center]XXX[/center]
Irgendwann Mal machte den Lärm auch den Knacki wach. Er erschien am Hof und mischte sich sofort unter die Leute. Naiv wie ich war, erwartete ich, dass er die alte Frau ritterlich in Schutz nehmen würde, schon deshalb weil, er unser „Bonzen-Haus“ zutiefst hasste, aber der vermeintliche Retter schlug sich unerwartet auf die Seite der Gegner.

- Weißt du, was man mit Geizkragen wie dir in dem Bau machte?- zischte er durch die Zähne und spuckte Irka vor die Füße. – Man warf sie den Knastbrüdern in die Runde, damit sie sich bei uns etwas von der Nächstenliebe lernen!

Dann holte er die Axt und machte sich an die Arbeit. Etwas kaputt machen, das konnte er gut. Unter den Zurufen und dem Jubel der Versammelten, brachte der Knacki mit nur wenigen Hieben den Zaun zum Fall. Dann ging er zu den Bäumen über. Apfelbaum, Kirschbaum, Birne, Aprikose. Einer nach dem anderen. Er arbeitete gründlich und schnell. Seine geübten Hände flogen nur so in der Luft. Nach einer halben Stunde lagen alle Bäume auf dem Boden. Irkas Garten war vollständig zerstört und die Meute machte sich an die Beute. Sie füllten ihre Taschen mit Obst und Früchten.

Die sommersprossige Irka saß da und verlor kein Wort. Über ihre Wangen flossen Tränen.
- Was heulst du, du dummes Weib! – stellte der Knacki ihr grinsend eine Frage.- So macht man das eben mit den Ratten! Du hättest nicht so scheiß geizig sein müssen. Heul doch weiter! Selber schuld!


[center]XXX[/center]
So rechnete unser Haus mit der sommersprossigen Irka ab. Die gefällten Bäume und die Zaunlatten wurden noch in derselben Nacht von den Nachbarn und den Bewohnern der anliegenden Häuser für Bauzwecke gestohlen und weg geschafft.
Die sommersprossige Irka ließ keine neuen Bäume mehr im Garten anpflanzen. Auch ihr Zaun wurde nicht mehr repariert. Überhaupt traute sie sich nur selten aus dem Haus. Sie hauste die ganze Zeit in ihren vier Wänden und ging nur abends ins Geschäft: Brot und Milch holen. Ihr angeschwollenes Gesicht verdeckte sie mit riesigen Sonnenbrillen. Irgendwann erinnerte sich niemand mehr an diesen Zwischenfall.

Zwei Jahre später bekam sie Besuch von einem Mann. Er war riesig und hatte den Körperbau eines Herakles. Er kam nicht allein. Neben ihm standen eine zierliche, aber äußerst sympathische blonde Frau und ein kleines Mädchen. Irkas Enkelin und die Tochter ihres Sohnes. Sie kamen in die Stadt, um ihre alte Großmutter zu besuchen.

Natürlich fragten sie sie auch irgendwann nach dem verschwundenen Garten. Eine halbe Stunde später kam der Sohn grimmig raus und ging nach oben, in die Wohnung des Knackis. Er wollte mit dem Knacki „von Mann zu Mann“ reden. Zu der Zeit war der Ex-Sträfling schon lange tot. Wir wurden keine Zeugen seiner furchtbaren Rache. Anstelle des Knackis wurde die Tür von seiner Mutter geöffnet. Irkas Sohn schlug die Tür wortlos zu und ging zurück.
Am nächsten Tag sah man die sommersprossige Irka draußen ihre Koffer packen. Der Sohn nahm die Mutter mit nach Sachalin. Er hatte inzwischen genug Geld bei der Handelsflotte gespart und kaufte sich dort eine 4-Zimmer-Wohnung. Noch am selben Abend verließ Irka unsere Provinzstadt. Seitdem fehlt von ihr jede Spur. Wir hörten und sahen sie nie wieder.
Es wäre gelogen hier zu sagen, dass die Bewohner unserer Siedlung Irkas Anwesenheit vermissten. Die meisten von uns hielten sie ausnahmslos für eine egoistische, kleinbürgerliche Eigenbrötlerin und die Abreibung, die man ihr damals im Namen der Öffentlichkeit verpasst hatte, für selbstverschuldet und gerecht. Es war ein Volksgericht, keine Selbstjustiz. Die Gemeinde ließ sie für ihren Geiz, ihre Gier und ihren Egoismus gebührend bestrafen.
Ich hatte keinen Kontakt mehr zu den Jungen aus dem Haus. Auch nicht zu dem Knaben, wegen dem all das hier geschah. Vielleicht hielten sie mich für seltsam oder eingebildet, aber nach der Sache mit Irka konnte und wollte ich mit ihnen nichts zu schaffen haben. Weder mit den Kindern, noch mit deren Eltern. Mit jedem, der an der Lynchjustiz über Irka, dieser Abrechnung damals, beteiligt war. Ich ekelte mich davor, diese Menschen zu sehen und zu begrüßen.

Keiner von diesen Eltern und Kindern war wenig bemittelt oder richtig arm. Sie lebten gut und hatten jeden Tag Wurst und Käse gleichzeitig auf dem Tisch. Ihr Bonzen-Gehalt war sicher hoch genug, um Früchte und Obst auf dem Markt zu kaufen, während der Garten für Irka die einzige Lebensabsicherung war und diese Frau im wahrsten Sinne des Wortes „ ernährte“. Der sowjetische Sinn für Gleichheit und Gerechtigkeit war in ihrem Fall hier einfach fehl am Platz.
Ich selbst schämte mich für meine Feigheit. Ich hatte weder den Mut noch die Stärke finden können, die sommersprossige Irka vor dieser Demütigung und dieser Bestrafung zu schützen und zu bewahren. Ich hatte alles, was man ihr damals angetan hat, widerstandslos geschehen lassen.

Auch wenn Irka nicht für ihre überschwängliche Freundlichkeit oder Großzügigkeit bekannt war, war sie dennoch eine Mutter, eine Großmutter, eine ältere Frau. Wir hatten kein Recht so respektlos und so menschenverachtend mit ihr umzugehen.

Seitdem nehme ich mir vor, niemals den Umgang zu Menschen zu pflegen, die ich auch nur einmal der Grausamkeit in der Öffentlichkeit überführt habe, selbst wenn sie ihr Verhalten damit rechtfertigen, dass ein Leben ohne dies kein Leben ist und diese Gewalt zu der Gerechtigkeit gehört…Dafür kann ich die Tränen von Irka einfach nicht vergessen…

Ende
Roman Dell
Russische Fassung: 05.06.2009
Deutsche Übersetzung: 12.04.2015- 10.05.2015
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Und das bringt uns der Oktober:

Man begegnet ihnen überall. Es kann ein bildhübsches Mädchen mit schulterlangen Haaren, langen Beinen und schönen Augen sein, das alle Blicke der Männer auf der Tanzfläche auf sich zieht oder eine alte Oma mit buntem Kopftuch, die auf ihr Enkelkind vor dem Eingang zum Kindergarten wartet. Aber auch der mürrische Busfahrer, in dessen Bus man täglich einsteigt, der arbeitswütige Bauarbeiter um die Ecke, die Krankenschwester oder die Pflegerin im örtlichen Krankenhaus.
Auf ihren Ausweisen steht: Schneider, Braun, Müller oder Schmidt, aber ihre Vornamen sind Olga, Irina, Aleksandr oder Andrej. Sie alle sind – Russlanddeutsche. Rund 4,5 Millionen von ihnen leben hier und bringen die Einheimischen jedes Mal in Verwirrung, wenn sie sich im Gespräch als Volksdeutsche vorstellen. Russlanddeutsche? Wie geht das denn? Gibt es etwa andere Deutsche als „Original-Deutsche“, so was wie Frankreichdeutsche, Englanddeutsche und etc. Und überhaupt: Was tun Deutsche eigentlich in Russland? Nun dann! Liest einfach meine neueste Geschichte.



[center]Seit wann gibt es in Russland Deutsche? [/center]

[center](eine Erzählung)[/center]

Mit neun Jahren fiel mir zufällig der Personalausweis meines Vaters in die Hände. Das kleine Buch mit dem Wappen der Sowjetunion, kaum größer als eine Postkarte, zählte schon lange zu den Objekten meiner kindischen Neugier. Ich träumte davon einmal darin zu blättern, weil seine knallrote Farbe und die goldenen Druckbuchstaben mir etwas Wichtiges und Besonderes zu sein versprachen, wie alle Dinge aus der Welt der Erwachsenen. Normalerweise lag ein Ausweis bei uns nie frei herum. Allein schon wegen uns Kindern. Wir durften auf keinen Fall damit spielen oder ihn verlieren. Deshalb wurde der Pass immer an einem sicheren Ort aufbewahrt. Meistens in dem Jackett meines Vaters, das er jeden Tag zur Arbeit anzog und das nur von der Mutter gesäubert, gewaschen und angerührt werden durfte.

Mein Vater war ein vielbeschäftigter Mann. Er leitete ein großes Straßenbahndepot und war kaum zu Hause. Diese Woche musste er wegen der starken Schneestürme schon wieder die Räumungsarbeiten in der ganzen Stadt persönlich kontrollieren und kam erst heute Morgen nach Hause zurück: hungrig, müde und ziemlich gereizt. Daheim wartete schon eine dämpfende Schüssel Bortsch, eine frische Kohlsuppe, auf ihn, die er wie ein Python in nur wenigen Minuten mit einer soliden Portion Brot, Butter und Schmand herunterschlang, während unsere Mutter auf die Schnelle noch ein dutzend Blinis- das sind russische Pfannkuchen, für ihn in der Pfanne briet. Nun ruhte er satt und zufrieden in seinem Bett und gab ein lautes Schnarchen von sich. Wir alle mussten jetzt leise sein, um Papas Schlaf nicht zu stören. Eine schwierige Aufgabe, die jedem Kind in meinem Alter enorme Anstrengungen kostete und mir daher wie eine richtige Qual vorkam.

Dagegen half nur ein gutes Buch. Ich war schon gerade dabei, heimlich irgendein erwachsenes Buch aus der Büchersammlung meiner Mutter zu entwenden, als ich dort etwas viel Interessanteres als „ Der Liebhaber von Lady Chatterley“ entdeckte. Es war der Pass meines Vaters. Dieser besagte Pass, den mein Kinderherz schon so lange begehrte. Dieser Pass lag jetzt da, auf dem Nachttisch im Schlafzimmer meiner Eltern, völlig unbeaufsichtigt. So eine Chance bekam man nicht ein zweites Mal angeboten. Ich zögerte nicht lange. Prompt schnappte ich mir den Pass und begab mich sofort in mein Kinderzimmer. Dort hatte ich alle Zeit der Welt um den Ausweis meines Vaters zu begutachten und zu studieren.
Richtig viel Spaß hatte ich dabei aber nicht. Der Pass meines Vaters erwies sich als eine…öde und völlig unspektakuläre Lektüre. Dort stand nichts Interessantes drin. Nur langweilige Dinge, Geburtsdatum, Geschlecht, Namen der Kinder. Nichts, was mir nicht ohnehin schon bekannt war. Die meisten Blätter im Pass waren leer und unbeschrieben.

Hätte ich das nur gewusst,- dachte ich enttäuscht- hätte ich mich gleich für „Lady Chatterley“ entschieden. Ich wollte schon den Pass wieder ins Schlafzimmer meiner Eltern zurückbringen, als mir plötzlich eine Zeile ins Auge sprang. Eine winzige Zeile, die ich im Pass meines Vaters völlig übersehen hatte. In der Spalte Nationalität stand, in schöner kyrillischer Handschrift Deutsch geschrieben….

DEUTSCH. Dieses Wort versetzte mir einen Schock. Bis jetzt kannte ich die Deutschen nur aus Filmen und diese lebten eigentlich in Deutschland, wie die Franzosen in Frankreich, Japaner in Japan und wir Russen in Russland. So hat man uns es doch im Unterricht erklärt! Diese Stelle im Pass machte mich stutzig und neugierig. Und so fragte ich mich die ganze Zeit: Wenn Deutsche in Deutschland leben, was tun sie dann bitte schön in Russland? Ist mein Vater etwa ein Ausländer?

Das Letzte kam mir ziemlich absurd und unwahrscheinlich vor. Seit kurzem strahlte das sowjetische Fernsehen jeden Donnerstag eine Folge der westdeutschen Krimiserie „Derrick“ aus, die neben den vielen sowjetischen Kriegsfilmen und DDR – Biopics über Beethoven oder Wagner, meine einzige Vorstellung von Deutschland war. Aber diese Deutschen auf dem Bildschirm, sahen anders aus. Anders als mein Vater. Sie waren riesig, blond und hatten blassblaue Augen, die Einen zwar sehr freundlich, aber gleichzeitig auch sehr leer und kühl anschauten.

Mein Vater war bei Weitem nicht so groß, wie jeder durchschnittliche Mann aus dieser Serie. Sein Haar war rot und seine Augen warm und braun. Auch sprach er ein akzentfreies Russisch und sah überhaupt nicht „deutsch“ aus, wenn man die Schauspieler aus „Derrick „als „Mustergermanen“ zum Vorbild nahm. Wie konnte er dann doch ein Deutscher sein? Und warum hatte er überhaupt keinen Akzent?

Diese Fragen ließen mir keine Ruhe.
-Mama! Ist mein Vater in Deutschland geboren? Warum steht in seinem Pass dass er ein Deutscher ist. Wurde er als Kind hierhin gebracht? Was tun Deutsche eigentlich in Russland? Ich dachte sie leben nur in Deutschland? Sind das die Deutschen, die die Sowjetunion überfielen? Ist mein Vater einer von „diesen“ Deutschen?
Mit diesen Fragen ging ich sofort zu meiner Mutter, die auf Grund ihres Studiums als belesene und gebildete Frau in der Nachbarschaft galt und schon öfter um Rat oder Hilfe gefragt wurde. Vor allem, wenn das eine oder andere Großmütterchen in unserem Hochhaus, einen Brief an die Behörde oder an die Verwandtschaft schrieb.
- Aber nein, mein Sohn! Bist du verrückt?! – Meine Mutter zog die Augenbrauen hoch. - Dein Vater wurde hier geboren und hat die Sowjetunion nicht überfallen - beruhigte sie mich. - Aber in einem irrst du dich nicht. Dein Vater ist tatsächlich ein Deutscher. Seine Eltern sind vollblutige Deutsche.
- Aber wie ist das möglich? Leben Deutsche etwa nicht in Deutschland. Wie können sie dann auf einmal hier sein? Und warum leben wir dann hier, und nicht in Deutschland? – löcherte ich sie mit weiteren Fragen. Mein Vater- ein Deutscher!!! Ich konnte das immer noch nicht begreifen oder glauben.

Darauf hatte meine Mutter keine Erklärung parat.
-Lass dir das alles am besten von deinem Herrn Vater selbst erklären, antwortete Mama etwas genervt und ungeduldig.
Sie räumte gerade die Küche auf und hatte alle Hände voll zu tun. Damit verwies sie mich auf das laute Schnarchen aus dem Schlafzimmer, das ich nicht zu unterbrechen wagte, auch wenn die Frage, um die es jetzt ging, für mich alles andere als eine Lappalie war. Schließlich erfährt man nicht alle Tage, dass man einen Deutschen zum Vater hat.

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Am nächsten Tag stellte ich meinen Vater zur Rede und zeigte ihm diese Stelle im Pass. Ich wollte von ihm unbedingt wissen, ob dieses Wort in Kursiv nicht vielleicht doch einen Fehler oder ein Irrtum ist. Dass Deutsche noch irgendwo außerhalb Deutschlands leben könnten, überstieg immer noch die Grenzen meiner Vorstellung. Entgegen meiner Erwartung wurde mein Vater gar nicht böse. Meine Worte machten ihn eher still und nachdenklich, als hätte er schon immer damit gerechnet, dass ihm diese Frage von mir eines Tages gestellt wird. Er steckte den Ausweis wieder in seine Innentasche und warf mir einen ernsten Blick.
- Das ist kein Irrtum, wenn auch etwas ungewöhnlich. - fing er danach vorsichtig an. - In der Sowjetunion leben über zwei Millionen Deutsche, mein Sohn! Die russische Zarin Katharina die Große, selbst eine Deutsche, hatte sie einst ins Land geholt. Damals wurden in Russland gute Fachleute aus dem Ausland gesucht, vor allem Einwanderer aus Deutschland. Wir sind die Nachfahren dieser Menschen.

-Das heißt, wir sind genauso deutsch, wie die Typen aus der „Derrick“ Serie? -fragte ich ziemlich erstaunt. - Ist das so?
-Fast. Deutschland ist unsere historische Heimat, die wir vor dreihundert Jahren verlassen haben. Ethnisch gesehen, sind wir genau wie diese „ Derrick“ Deutschen! – sagte Vater nach einer kurzen Überlegung.- Dennoch haben wir Russlanddeutsche unsere eigene Geschichte. Die ist nicht einfach und sehr lang. Aber wenn du es noch genauer wissen willst, musst du schon ein paar Geschichts- und Fachbücher darüber lesen. Sie sind nämlich viel schlauer als ich.
Das ganze Thema fiel ihm irgendwie schwer. Ich merkte es schon allein an der Art, wie er dieses Gespräch mit mir führte.
-Was deine andere Frage betrifft, mein Sohn. Wir sind nicht „die Deutschen“, aus den Kriegsfilmen, auch wenn wir mit ihnen dieselbe Sprache und dasselbe Blut teilen. Diese Deutschen sind aber andere Deutsche. Sie gehörten Hitlers Wehrmacht an, also dem „Bösen Deutschland“, unter dem das „gute Deutschland“, d.h. die normalen Menschen, das einfache Volk wie du und ich sehr stark litten. Die Russlanddeutschen haben der UdSSR nie etwas Böses getan und hatten es auch nie vor. Warum auch? Unsere Vorfahren haben ihre Wahlheimat immer sehr gern gehabt. Uns ging es gut, sogar sehr gut, bis dieser verdammte Krieg kam. Im Krieg werden die Menschen schnell wütend. Sie können nicht mehr klar denken und lassen sich von den Emotionen und nicht von der Vernunft leiten. Darum wurde damals kein Unterschied mehr zwischen „ihnen“ und „uns“ gemacht. Jeder der deutsch war, galt als Feind. Wir mussten für die Taten der Anderen bezahlen, weil wir genau wie sie einen deutschen Namen trugen und deutsches Blut durch unsere Adern floß. Die sowjetische Regierung hatte Angst, dass wir mit den Nazideutschen sympathisieren und ließ uns über Nacht nach Kasachstan und Sibirien umsiedeln. Dort lebten meine Eltern einige Jahre in einem Sperrgebiet und mussten sich jede Woche in einer Kommandantur melden. Auch ich wurde in einer solchen „Spezialsiedlung“ geboren. Das ist ein Teil unserer Geschichte. Aber eines darfst du niemals vergessen: Deutsche als Volk und „diese Deutschen“ sind nicht dasselbe! Und nun lass mich noch etwas ruhen. Morgen fängt die neue Woche an und ich muss schwer arbeiten.
Damit war sein kurzer Exkurs in die Geschichte an dieser Stelle vorbei, jedoch nicht mein Interesse für die Geschichte der Deutschen und der Russlanddeutschen. „Diese Geschichte“ ging für mich weiter.

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Natürlich befolgte ich den Rat meines Vaters, mir ein paar Geschichtsbücher zu diesem Thema zu besorgen. Ich brannte förmlich darauf, noch mehr über Deutschland und die Russlanddeutschen zu erfahren. Ein Gang in die städtische Bücherei eröffnete mir eine neue Welt, deren Existenz ich bis jetzt niemals vermutet hatte. Das, was ich da in den schlauen Büchern und Lexika las, versetzte meine Kinderseele in pures Erstaunen.

Eigentlich war die Präsenz der Deutschen in Russland nichts Schändliches oder Exotisches. Eher umgekehrt. Natürlich und willkommen. Sie gehörten praktisch zur russischen Geschichte. Die meisten russischen Fürsten und Zaren waren mit Prinzessinnen aus Deutschland verheiratet. Auch waren es überwiegend deutsche Wissenschaftler, die in der Russischen Akademie für Wissenschaft und Kunst saßen, die bis zur Mitte des 18 Jahrhunderts als eine Hochburg für Einwanderer und insbesondere Akademiker aus Deutschland galt. Sie bekleideten hohe Staatsämter, dienten in der russischen Marine und in der Armee und waren als Ärzte, Handwerker und Ingenieure sehr begehrt und erfolgreich. Erst zwei blutige Weltkriege hintereinander haben diese harmonische und fruchtbare Beziehung ruiniert und zerstört.
Die ersten Deutschen, die den russischen Boden betreten haben, waren ausschließlich Hansa-Kaufleute. Sie unterhielten in Nowgorod ein Handelskontor, als dieses Land noch kein Imperium war, sondern aus mehreren Fürstentümern bestand und in den frühmittelalterlichen Chroniken des Westens den skandinavischen Namen Gardarike trug. Mit der Gründung und der Expansion des Moskowiter Reiches, der das Fürstentum Nowgorod eines Tages unterwarf, wurde der Hauptsitz der Deutschen nach Moskau verlegt, wo ihnen sogar ein ganzes Viertel, der sogenannte „Deutsche Vorstadt- Nemezkaja sloboda“ gehörte.

Der erste russische Zar Iwan der Schreckliche warb die Deutschen im Großen Stil an. Hauptsächlich Ingenieure, Handwerker und Militärfachleute. Jene Fachleute, die ihm mit dem Wunder-Know-How aus dem Westen zu seinen bedeutenden militärischen Erfolgen - Sieg über die Krim-Tataren und Eroberung von Kasan -verhalfen. Auch Peter der Große setzte diesen Erfolgskurs fort. Er holte einzelne Deutsche, aber auch Dänen, Franzosen, Italiener und Holländer in sein Reich. Doch erst Katharina die Große löste eine Massenauswanderung aus Deutschland aus. Russland lockte mit dem Rubel und mit Vorteilen: Auch meine Vorfahren ließen sich von ihren Schätzen und von diesem Ruf verführen.

Mit jedem neuen Buch entdeckte ich ein anderes Deutschland. Ein Deutschland, das außerhalb des gewöhnlichen Deutschlandbildes von Goethe, Schiller oder Heine existierte. Ich lernte den tapferen Fürsten Barclay de Tolly kennen, der in der Schlacht um Borodiono an der Seite des legendären Feldmarschalls Kutusov dem „Großen Korsen“ und seiner berühmten Grande Armée die Stirn bot und als einer der Helden des vaterländischen Krieges 1812 galt. Las die Werke der Schriftsteller Alexander Herzen, Anton Dellwig, Wilhelm Küchelbecker und Denis Fonwisin (von Wiesen), die neben Aleksandr Puschkin, Leo Tolstoj und Fjodor Dostojewski zu den bedeutendsten russischen Literaten ihrer Epoche zählten. Unternahm die erste russische Weltumsegelung mit dem Admiral Adam von Krusenstern und entdeckte mit Fabian Gottlieb von Bellingshausen die Antarktische Halbinsel - den nördlichsten Teil der Antarktikas. Ein wissenschaftliches Ereignis, das seitdem bei den Gelehrten in aller Welt für Streit sorgt. Waren es die Russen oder doch die Britten, die den sechsten Kontinent der Welt zuerst entdeckten?
Auch der sowjetische Polarforscher Otto Schmidt und seine Tscheljuskin- Expedition, die mehrere Wochen auf dem Packeis in der Arktis ums Überleben kämpften, sorgte bei mir für rege Spannung und Interesse. Besonders stolz war ich jedoch auf den deutschen Agenten Richard Sorge, der einen deutschen Vater und eine russische Mutter hatte, und trotz der Tatsache, dass er das russische Reich bereits im Alter von vier Jahren verlassen hatte und mit seinen Eltern nach Berlin gegangen war, jedoch sein Leben für die Sowjetunion opferte und dabei keinen Augenblick zögerte. Alle diese Menschen waren Deutsche und Russen, genauso wie ich. Diese Erkenntnis, dass wir etwas Gemeinsames miteinander teilten, gab mir plötzlich das Gefühl etwas Besonderes zu sein. Anders als die Anderen.

Schon bald machte ich jedoch die Erfahrung, dass ich dabei nicht allein war. In unserer Provinzstadt lebten ca. dreihundert Familien, die deutschstämmig waren, zerstreut wie Rosinen auf einem riesigen Streuselkuchen. Da war zum Beispiel ein älterer Maler, mit dem mein Vater eine rege Freundschaft unterhielt und der ab und zu auf einen Tee zu uns kam. Oder eine stadtbekannte Ärztin, die den Ruf einer begnadeten und ausgezeichneten Chirurgin genoss und sehr beliebt und gefragt war. Aber auch wenige prominente Menschen: Fleischer, Bauern, Arbeiter. Mein Vater hieß jeden willkommen. Man lernte sich meist durch Zufall kennen, ehe man eines Tages, wenn man dann glaubte, sich endlich gut genug zu kennen, vorsichtig einander fragte, ob man eventuell auch „dazu“ gehört.

Ein westlicher Leser mag vielleicht an dieser Stelle verwundert oder sogar ziemlich empört darüber sein, aber für uns damals, war es eine völlig normale und alltägliche Vorgehensweise. Bei zweiundzwanzig Millionen Menschen, die im zweiten Weltkrieg allein in der UdSSR zum Opfer fielen, hängte man seine deutsche Herkunft verständlicherweise nicht unbedingt an die große Glocke, auch wenn ich als Kind gar nichts damit zu tun hatte und obendrein Halbblut und vorbildlich sowjetisch erzogen war. Als Halbblut trägt man sowieso eine schwere Bürde. Man ähnelt einem Körper mit zwei Seelen. Aber kann man sich dabei für eine bestimmte davon entscheiden? Muss man das? Soll man das? Ich habe bis heute keine Antwort darauf.
Als ich die ersten Russlanddeutschen außer mir traf, stellte ich fest, dass unsere gemeinsame Herkunft selbst bei bisher unbekannten Menschen sofort für eine gegenseitige Sympathie sorgte und uns spontan miteinander verband, auch wenn die Menschen, die man dabei im Laufe der Zeit kennengelernt hatte, nicht unbedingt die Interessen und den sozialen Status mit mir teilten. Wie etwa ein neuer Schüler, der Anfang des Schuljahres in meine Klasse kam und einen verdächtig deutsch klingenden Namen trug.

In der Pause erkundigte ich mich vorsichtig bei ihm, ob er auch einer von uns war, wobei er mir sofort ins Wort fiel und energisch mit dem Kopf nickte. Soweit ich mich erinnern kann, haben wir uns seitdem immer sehr gut verstanden, obwohl er sich gerne fürs Sport interessierte, während ich nach wie vor eine Leseratte blieb.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde die Russische Föderation ein willkommenes Ziel für religiöse Verbände, Organisationen und Gemeinden die zu uns aus aller Welt strömten. Auch Kirchenmänner aus Deutschland. In dieser Zeit gründete mein Vater in Schachty einen Deutschen Verein. Die neuapostolische Kirche hielt dort gelegentlich ihre Gottesdienste ab. Mein Vater nahm mit ihr Kontakt auf. Dabei ging es ihm damals weniger um Religion selbst, es hätte jede beliebige Kirche an dieser Stelle sein können. Wichtig war nur, dass sie aus Deutschland kam und deutschsprachig war. Mein Vater hatte da eine Vision.

Er wollte alle deutschstämmigen Bürger unserer Stadt in diesem Verein sammeln, damit man dort seine Kultur, seine Interessen oder die Sprache untereinander pflegen und austauschen konnte. Die Kirche aus Deutschland half ihm dabei. Wir bekamen Bücher auf Deutsch, aber auch Lebensmittel und Kleiderspenden, die dann in der Gemeinde verteilt wurden.
Einmal nahm er mich zu einer solchen Versammlung mit. Sie fand in dem großen Besprechungsaal eines alten Wasserwerkes statt. Dort sah ich in dem unbeheizten Raum an die hundert Menschen verschiedenen Alters auf ihren Holzstühlen sitzen. Alte Omas und Opas, Kinder und Jugendliche, Männer und Frauen im Alter meines Vaters. Sie alle sahen sehr russisch aus. Nur ihre Namen waren es nicht. Braun, Hoffmann, Wagner, Schulz, Kraft. Mein Vater machte hinter jedem einzelnen Namen auf seiner Liste einen Hacken
Dieses Ereignis ließ mich nicht los. Noch nie im Leben hatte ich so viele Menschen gleicher Herkunft und Sprache auf einem Quadratmeter zusammen hocken gesehen. Es war der Moment, in dem das statistische trockene Wort Volk plötzlich bildlich wurde und zum Leben erwachte. Ein unvergesslicher und bewegender Moment.

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So sehr ich von der Kultur und der Geschichte des Deutschen fasziniert war, gab es da trotzdem etwas, was mir die Freude daran, das Blut und das Erbe zwei großer Nationen in mir zu tragen, deutlich verdarb. Zweimal im Jahr, am 9. Mai, dem Tag des Sieges und am 22. Juni - der Beginn des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion, wurde ich schmerzlich daran erinnert, dass ein Deutscher zu sein, ja selbst ein Halbdeutscher, nicht immer etwas Gutes und Positives bedeutete. Deutscher zu sein bedeutete Schuld und Sühne in sich zu tragen.
So lange ich nichts von der Herkunft meines Vaters wusste, konnte ich ohne weiteres alle Kriegsfilme über den zweiten Weltkrieg sehen, ohne mich schuldig oder persönlich angesprochen zu fühlen. Die Fronten waren für mich einfach und geklärt. Wie schwarz und weiß. Die da waren die Bösen und wir die Guten. Wie konnte es sonst auch anders sein? Ich liebte Russland und war sehr gerne russisch. Diese Zeile im Pass riss mich aus diesem Traum los. Von einem Tag auf den Anderen, erlebte ich den Schock, plötzlich erfahren zu haben, dass ich, wenn auch nicht direkt, in dem Massendenken der meisten Menschen automatisch in das feindliche und nicht in unser Lager gehörte. Nicht wir, sondern die da war. Trotz meinem russischen Großvater, der im zweiten Weltkrieg als Ass-Flieger tapfer auf der Front gekämpft hatte. Trotz der Tatsache, dass meine Mutter selbst eine Russin war. Trotz meiner eindeutig russischen Seele und Erziehung. Nur weil mein Name, allein der Name, nicht mein Herz, deutsch war.

In diesem Augenblick spielten die glorreiche Geschichte und die Verdienste der Russlanddeutschen in Russland, so wie die Kultur der Deutschen allgemein, ihre Dürer, Wagner oder Beethoven und was auch immer, keine Rolle mehr. Deutsch zu sein war einfach nur schlecht und allein auf den Krieg reduziert.

Eine der vielen guten Seiten, die ich an dem Charakter und an der Seele des russischen Volkes trotzdem besonders schätze und bewundere, ist seine uneingeschränkte Gabe zu verzeihen und zu vergessen. Dafür bin ich ihm ewig dankbar.

Obwohl jeder in unserer Klasse wusste, dass mein Name deutsch war, haben meine Schulkameraden mir nie etwas Böses gesagt. Wir hatten schon Streit, aber nie deswegen. Damit unterschied ich mich deutlich von der älteren Generation, die es noch ganz anders erlebt hatte. Vielleicht lag es aber auch daran, dass der Krieg wirklich schon so viele Jahre zurück lag. Trotzdem fühlte ich mich in diesen Tagen unwohl und wie an den Pranger gestellt. Als würde ich meinen deutschen Namen direkt auf der Stirn eingebrannt tragen.

Als mein Vater eines Tages den Entschluss fasste, mit uns doch nach Deutschland zu gehen, glaubte ich fest und naiv daran, dass dieses Gefühl der Beklemmung und der Scham für meinen deutschen Namen, in Deutschland sofort wieder verschwinden würde, weil der hier nichts Besonderes war und man schließlich „unter sich“ ist. Dabei ähnelte ich dem gefühlsvollen Sprössling einer verarmten Sippe aus der Provinz, der sich voller jugendlichen Elans in die Arme der reichen Verwandten aus der Hauptstadt wirft und einen höflichen, aber dennoch kühleren Empfang als erwartet, bekommt. So war es auch bei mir.

In Deutschland angekommen stellte ich überraschend fest, dass kaum jemand außer mir hier mit dem Begriff Russlanddeutsche etwas anfangen konnte. Von den berühmten Russlanddeutschen und ihrer Geschichte ganz zu schweigen. Jeder Fremde der hierher kam, landete sofort in den Riesenkessel der Völker und Nationen, die sich gerade in Deutschland aufhielten und im Volksmund besser unter dem Sammelbegriff AUSLÄNDER bekannt waren. Hier war ich genau das, was ich in Russland bei den Russen niemals zu sein geschafft hatte - ein Russe und kein Deutscher.

Auch hatte man überhaupt kein Verständnis dafür, dass man als Volksdeutscher aus Russland die erste Zeit nur sehr schlecht oder kaum noch Deutsch sprach, was im Angesicht unserer Geschichte dort eigentlich klar auf der Hand lag. Wer dies heute immer noch nicht begreift, na dem kann leider auch nichts mehr helfen.

Die ersten vier Jahre hier lernte ich fleißig Deutsch. Ich war ehrgeizig und ich hatte einen geheimen Plan. Seitdem habe ich viel zu tun. Ich habe die Geschichte der Russlanddeutschen zu meiner persönlichen Aufklärungsmission gemacht. Jeder, der mich heute nach meiner Herkunft fragt, bekommt von mir sofort einen kompletten Geschichtsunterricht in Sachen Deutsche im Ausland serviert. Wie eine Bekannte aus der Nachbarschaft neulich. Eine höffliche und elegant gekleidete Dame.

Wir sprachen gerade über die Jugend von heute und waren uns ziemlich schnell einig, dass vor zwanzig Jahren alles viel besser und schöner war als jetzt. Die Qualität, die Arbeit, die Bezahlung und vor allem die Menschen. Mein Akzent machte sie etwas neugierig. „Welcher Landsmann?“- wollte die gute Frau sofort von mir wissen. –- „Ich bin ein Russlanddeutscher“.- befriedigte ich ihre Neugier.

-Ein Russlanddeutscher? Wie geht das denn?- Ihr gepudertes Gesicht zeigte eine Mischung aus Befremden und Verwirrung.
Natürlich wusste sie nichts darüber Bescheid. Dann stellte sie mir eine Frage. Diese Frage. Die Frage die ich mir damals auch stellte. Eine Frage, die mir seitdem dauernd gestellt wird. So oft, dass ich das schließlich zum Thema dieser Geschichte gemacht habe. Einmal dürfen Sie dabei ruhig raten: Seit wann gibt es in Russland Deutsche? Das ist die Frage, die mir inzwischen nicht mehr peinlich, sondern im Gegenteil-willkommen ist. Danach, beginne ich sofort mit dieser Geschichte…

Ende
Roman Dell
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Beitrag von zuzu »

Manchmal erweist sich eine Story, die ursprünglich als eine literarische Mischung aus Wahrheit und Fiktion gedacht war, im Nachhinein als eine ungewollte Prophezeiung. Diese Geschichte ist ein Beispiel dafür. So eben habe ich erfahren, dass der Mann von dem ich die Hauptfigur dieser Erzählung erschaffen habe, im letzten Jahr verstorben ist. Wir standen uns ziemlich nah und dass er nicht mehr da ist, füllt mein Herz mit Leere und Traurigkeit. Ein römischer Philosoph hatte einst einen Menschen mit Asche und Staub verglichen, von dem nach dem Tod nichts übrig bleibt. Ich will ihm heftig widersprechen. Onkel Grischa, du wirst nicht vergessen. Du lebst weiter in dieser Geschichte.

[center]Onkel Grischa

(Kurzgeschichte)
XXX[/center]

Ich musste erst ein paar Jahre in Deutschland leben, bevor ich bemerkte, dass man nicht immer eine Reise nach Russland machen muss, wenn man Sehnsucht und Heimweh nach seiner alten Heimat verspürt. Es reichte schon drei oder vier Straßen weiter zu gehen, um plötzlich dorthin zu gelangen,… zu dem Haus, in dem Onkel Grischa lebte. Wir lernten uns bei einer Weiterbildungsmaßnahme kennen, wozu uns das Arbeitsamt verdonnert hatte. Ich hatte nicht vor, hier Freundschaften oder Bekanntschaften zu schließen. Es war ein reiner Zufall, der uns damals zusammen brachte. Wir mussten uns beide den Platz auf der Schulbank teilen.
Er war damals schon siebenundfünfzig, während ich erst vor kurzem achtzehn geworden war. Trotz dieses erheblichen Altersunterschiedes, haben wir uns auf Anhieb sehr gut verstanden und gemocht. In meiner Kindheit war ich ein einsamer Junge, der kaum auf der Straße spielte, dicke Geschichtsbücher und Abenteuerromane liebte und die Gesellschaft seiner Altersgenossen bewusst mied. Meinen ersten richtigen Freund bekam ich in Person von Onkel Grischa.

Er stammte aus Sankt Petersburg, wobei er den „neuen“ alten Namen der Stadt kategorisch ablehnte, vielleicht aus Trotz, vielleicht aus sowjetischer Gewohnheit. Er stellte sich immer noch als Grigori aus Leningrad vor.

Ähnlich wie Jean-Baptiste Grenouille aus dem Roman von Patrick Süskind besaß auch Onkel Grischa eine ganz besondere Gabe: Nein, er hatte keine Ahnung von den Gerüchen und Parfums, sein Talent lag woanders. Er verstand es allen Menschen zu gefallen. Und zwar wirklich allen, ohne Ausnahmen und Übertreibungen.

Ob Männer oder Frauen, Kinder oder Erwachsene, Deutsche oder Russen. Jeder, der die Bekanntschaft dieses Mannes machte, wurde sofort von Onkel Grischa beeindruckt und fasziniert. Er hatte das imposante Aussehen eines kaukasischen Großfürsten, weshalb er von uns sofort den Spitzname Bagration* bekam. Er hatte eine heisere und daher leicht erotische Sängerstimme, große feurige Augen, einen dichten Schnurbart und dicke volle Lippen. Seine herkulische Gestalt machte jeden jungen Mann, wie mich, neidisch. Selbst ein grobes Faltennetz auf der Stirn und graue Haare schafften es nicht, ihn ein bisschen älter oder gewöhnlicher aussehen zu lassen. Im Gegenteil, all dies verlieh Onkel Grischa einen ganz besonderen Charme. Wir Männer nannten ihn schon nach 3 Minuten Mein Freund und luden den Kerl auf ein Gläschen Wodka ein. Und die Frauen… die fielen ihm zu Füßen. Selbst die dauernd gereizten Sachbearbeiterinnen des Arbeitsamtes waren seinem Sexappeal und seiner Ausstrahlung gegenüber machtlos. Sie fingen augenblicklich an zu scherzen und zu lächeln, was ihren strengen Furienmienen für kurze Zeit so etwas wie Sympathie und Menschlichkeit verlieh, sobald Onkel Grischa stotternd mit seiner monatlichen Vorsprache „ Guten Tach, ich michh hierr melden“ begann.

Ich weiß nicht, wie er es jedes Mal so intelligent anstellte, aber die Menschen halfen ihm irgendwie von allein. Er musste niemals um Hilfe betteln. Irgendjemand kümmerte sich schon um ihn und tat es mit noch mehr Eifer und Elan, wenn Onkel Grischa’s Gesicht ein wenig verlegen aber dafür umso glücklicher und zufriedener strahlte. Ich wurde ebenfalls Opfer seines Charismas.

[center]XXX[/center]

Onkel Grischa lebte in einer 1 ½ Zimmer-Wohnung auf dem Dachgeschoß eines grauen Mietshauses, in die ich mich sofort verliebte, weil es ihm gelungen war, die düstere Atmosphäre, die Gerüche und die Ausstattung der „stolzen Stadt auf Newa“ hier in Deutschland entstehen zu lassen, die mir so sehr aus den Romanen von Dostojewski und aus der Sowjetzeit bekannt waren. Ich kam öfter auf eine Tasse Tee bei ihm vorbei und blieb dann bis zum Abendbrot.

Onkel Grischa verköstigte mich mit den leckersten Bratkartoffeln und dem knusprigsten Fleisch der Welt, das er mit grob geschnittenen Zwiebeln, Paprika und Tomaten in einer riesigen verkohlten Gusspfanne auf dem Gasherd briet. Obwohl sein „Schuppen“ alle Eigenschaften einer vernachlässigten, wenn nicht sogar heruntergekommenen Junggesellenwohnung aufwies und sehr karg, ja nahezu spartanisch eingerichtet war, strahlte diese Wohnung eine kaum vorstellbare und dennoch vorhandene Ruhe und Gemütlichkeit aus. Romantik, Einsamkeit, Wärme und Schwermut lebten hier harmonisch unter einem Dach.

Onkel Grischa war ein begnadeter Gitarrenspieler. Auf seiner Kommode stand ein schwarzweißes Bild, das ihn als jungen Mann mit einer Geige am Kinn zeigte, wobei er diese musikalische Periode in seinem Leben als eine „peinliche Affäre“ bezeichnete und sich nach wie vor mit Treue und Liebe dem Gitarrenspiel verschrieb.

Ich weiß nicht, wie gut er als Geigenspieler gewesen ist, aber die Gitarre erwachte in seinen Händen zum Leben. Ich liebte den Klang seines petersburgischen Dialektes, besonders dann, wenn er den Griff der Gitarre in seinen, für einen Musiker ungewöhnlich großen Fingern hielt, ihre Saiten zärtlich berührte und die ersten Strophen eines mir unbekannten Liedes sang. Von diesem Lied kenne ich heute nur den ersten Satz auswendig: „Hier werde ich den Weintraubenkern in der Erde vergraben."

Onkel Grischa vergötterte sowjetische Barden und Rocksänger: Wladimir Wysotzki, Alexander Rosenbaum, Boris Grebenschikow, Viktor Tzoj oder Bulat Okudschawa* und spielte ihre Songs stundenlang auf seinem alten Audiorekorder von „Sharp“ ab. Wir tranken dabei einen guten armenischen Cognac (ich nahm einen Pitcher, er bevorzugte Gläser) und unterhielten uns darüber, „wie das Leben so ist“. Für mich, einen jungen Mann aber auch erwachsenen Menschen, verkörperte Onkel Grischa einen richtigen sowjetischen Held, der bereits mehrere Leben gelebt hatte, bevor das Schicksal ihn nach Deutschland trieb. Dieser Mann hatte einiges erlebt und genau so viel mitgemacht. Er war Ingenieur in einer Rüstungsfabrik, wo die Sowjets ihre gefürchteten MIG-Düsenjäger produzierten, er war auch Boxer, Rausschmeißer, Bar-Musiker, Straßenreiniger, Inkassobeauftragter und hatte die letzten Jahre seines Lebens in Jelzins Russland auf der Straße verbracht, weil man ihn aus seiner Wohnung vertrieben hatte. Eine alltägliche Sache in den 90ern.

Onkel Grischa scheute keine Arbeit. Ob Lagerhelfer, Gepäckträger, oder Putzteufel in einem öffentlichen WC. Er machte alles mit. Auch zeigte er gerne wie viel physische Kraft und Ausdauer in seinem Körper steckte, wenn er Kühlschränke, Möbel oder schwere Einkaufstaschen für seine Nachbarn im Haus hoch schleppte. Mir lief jedes Mal ein Schauer über den Rücken, vor allem wenn ich die Bilder aus seiner Jugend sah, wie viel Kraft und Energie in diesem Körper damals stecken musste, wenn er mit fast sechzig immer noch ein solcher Hercules war und alle Menschen in Begeisterung und Erstaunen versetzte.

Sein Lebensstil ließ sich in etwa mit dem eines Diogenes* vergleichen, der auf den Straßen Athens in einem Fass lebte und Alexander den Großen zum Teufel jagte. Er hielt sich für einen überzeugten Philosophen und Nihilist, der alles ablehnte und an nichts glaubte. Obwohl er sich dauernd über seine Gesundheit beklagte und dabei gerne mehrere Gläser Wodka leerte, stand für mich eines immer außer Frage: nach all dem Stress sich so gut zu halten, dass konnte nur ein Mensch mit unerschütterlichem Glauben an sich.

Im Haus von Onkel Grischa herrschte ein sowjetisches Kolorit. Und damit meine ich bunte Fototapeten mit Naturmotiv an der Wand, grüne Lenin-Tischlampe auf seinem Schreibtisch ein sowjetischer Abrisskalender aus dem „Russenladen“ von nebenan, oder mehrere Wäscheleinen direkt im Bad, die Onkel Grischa vor den Augen seines deutschen Vermieters hinter dem Duschvorhang versteckte.

Er kaufte losen Bohnenkaffee beim „Araber“ um die Ecke und kochte ihn auf „sowjetische Art“ auf dem Herd in einer türkischen Mokkakaffeekanne, die er auf einem der Flohmärkte in Essen erworben hatte. Wenn wir dann im Sommer vor dem offenen Fenster in seiner Dachgeschoßwohnung saßen, Mokka oder Cognac genüsslich auf der Zunge zergehen ließen und dabei Sascha Rosenbaum singen hörten: …„In Afghanistan, in der „schwarzen Tulpe“ (Hubschrauber) mit Wodka im Glas, schweben wir über die Erde“* (er war vernarrt in dieses Lied) vergaß ich für einen Moment, dass nur einige Schritte von uns eine andere Welt, die Welt der Deutschen, begann, und hier in seiner Wohnung unser „russisches Deutschland“ existierte.

Die deutsche Sprache zählte nicht unbedingt zu seinem Steckenpferd, dennoch erlernte er ein paar Worte und Sätze auf Deutsch, mit denen er im Alltag halbwegs zurechtkam. Für alle anderen Fälle hatte er mich. Ich begleitete ihn freiwillig auf seiner Odyssee durch die deutschen Ämter. Im Gespräch benutzte er sogar für die geläufigsten Wörter der deutschen Sprache, die sich mit der Zeit im Alltagsrussisch aller Einwanderer einschleichen, stets russische Begriffe, womit seine Sprache immer frei von Germanismen blieb.

So nannte er die Bäckerei zum Beispiel einen „Brotladen“. Für Mahnung setzte er das Wort „Strafsanktion“ ein. Und Tankstelle blieb für ihn nach wie vor eine „Petroleum Station“ auch wenn er inzwischen seit sieben Jahren in Deutschland lebte. Selbst für das Horrorwort aller Migranten, das Arbeitsamt, gab es bei ihm eine viel angenehmere und elegantere Bezeichnung. Er nannte den Laden ein "Beschäftigungsbüro".

Ich liebte Onkel Grischa. Seine Hilfslosigkeit tat mir leid. Besonders dann, wenn er die Geborgenheit seiner Wohnung verließ und sich in die Welt der Deutschen traute. Ich half ihm überall, wo ich konnte. Auf Onkel Grischa aufzupassen wurde zu meiner Lebensaufgabe und zu meiner wichtigsten Mission. Diese Arbeit war keine Last für mich. Für Onkel Grischa immer da zu sein, bedeutete für mich Freude und Lebenssinn. Ich konnte mir selbst in meinen schlimmsten Albträumen nicht vorstellen, dass ich ihn eines Tages vergessen oder gegen jemand anderen ersetzen würde. Dabei ging dies schneller als gedacht. Und ich hatte nicht einmal das Gefühl, dass ich ihn verraten würde, denn in meiner Welt gab es auf einmal Marina.

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Marina war ebenfalls eine Migrantin. Sie kam mit ihren Eltern aus Kasachstan hierher und lebte erst seit drei Monaten in Deutschland. Verglichen damit, zählten meine vier Jahre hier bereits zum Steinzeitalter und ich nahm das Mädchen gerne unter meine Fittiche. Irgendwann mal wurde Liebe daraus und ich vergaß, dass Onkel Grischa ohne mich im Land der Deutschen hoffnungslos „verloren“ war.

Die erste Zeit bemühte ich mich noch seine Termine einzuhalten oder die Briefe und Fragen der Behörden zu beantworten, aber irgendwann war ich nur noch für Marina da. Hin und wieder meldete sich mein schlechtes Gewissen zurück, aber wenn ich Marinas Lippen auf meinen spürte, wurde dieses in Sekunden verdrängt, wohlwissend, dass ich dem alten Mann damit ein Unrecht antue.

Die Reue kam ein halbes Jahr später, als Marina bereits… verheiratet war. Allerdings nicht mit mir. Ich fühlte mich am Boden zerstört und hoffte, dass Onkel Grischa, der die Erfahrung aus vier Ehen und hunderten Affären im Gepäck hatte, mir wieder auf die Beine helfen könnte. Einfach zuhören würde, mich stumm anlächeln oder einen dieser wertlosen Tipps geben würde, die zwar heilen aber nicht helfen, die alte Liebe zurück zu holen.

Es war ein sonniger Tag und ich freute mich, ihn endlich wiederzusehen. Ich dachte mir bereits eine Entschuldigung für meine Untreue aus, als ich plötzlich sah, dass sein Namensschild an der Türklingel fehlt. Ich fühlte mich auf einmal sehr beunruhigt. Er war doch nicht ausgezogen oder verreist? Und so blieb ich eine knappe halbe Stunde vor seiner Tür stehen, bevor der erste Mensch endlich aus dem Haus herauskam.
Es waren genau genommen zwei. Sie trugen die orange Arbeitskleidung der hiesigen Müllreinigungsfirma und hatten beide schwere Kisten mit altem Schrott in der Hand. Unter diesen Sachen entdeckte ich plötzlich auch die türkische Mokkakaffeekanne und fühlte mich auf einmal wie vom Schlag getroffen. Es war unmöglich, dass ich mich irrte. Das da war eindeutig seine Mokkakaffeekanne.
Wie ein Verrückter stellte ich mich den Arbeitern entgegen und holte die Mokkakaffeekanne aus dem Korb raus.
- Hier wohnte ein alter Mann auf dem Dachgeschoß. Sind das die Sachen aus seiner Wohnung? Ist er umgezogen? Diese Mokkakaffeekanne gehört ihm!- sagte ich stotternd den Müllmännern.
- Umgezogen? So könnte man es auch nennen. Ich vernahm eine Note Galgenhumor in ihrer Rede.
- Ja. Jetzt ist er dort. Sie deuteten mit dem Finger in den Himmel.- Und zwar seit gestern.

Sie warfen den „Trödel" in den Müllwagen und gingen ihrer Arbeit schnell und gewissenhaft nach. Und ich stand da und sah wie gelähmt zu, wie Onkel Grischas Sachen- seine Gitarre, seine alte Couch, sein Rekorder, seine Fußmatte und sonstiges im Rachen des Müllwagens verschwanden . Für alle bloß nur alter Trödel und nur für mich - die Spuren und der Beweis seines Lebens. Mein Onkel Grischa hatte ich jetzt für immer verloren. Zum ersten Mal seit der Trennung von Marina weinte ich wieder. Seitdem werde ich die Gewissensbisse nicht los, die Reue darüber, dass ich ihn damals wegen einer „falschen“ Liebe im Stich ließ, dass ich mein persönliches Glück höher stellte als unsere Freundschaft, menschliche Werte und Mitleid , dass ich in Marinas Armen lag, während er einsam und hilflos, sich mit Wodka zugrunde richtete.

Auch kann ich keine Barden-Lieder mehr hören, weil ich dabei an seine Hände und seine Stimme denken muss, wie er „Hier werde ich den Weintraubenkern in die Erde vergraben“ auf der Gitarre spielte und sang und ich bin mir jedes Mal der Tatsache bewusst, dass ich den einzigen Freund in meinem Leben… für Marinas Lippen verraten habe.
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Ende
Roman Dell
Russische Fassung 22.08.2007
Deutsche Übersetzung 07.03.2015-12.03.2015

Quellen und Anmerkungen
*(Ein berühmter russischer Großfürst und General kaukasischer Abstammung, der während der Schlacht um Borodino 1812 auf dem Schlachtfeld gefallen ist: Anmerkung des Autors)
*„ In Afghanistan, in der schwarzen Tulpe mit Wodka im Glas, schweben wir über die Erde“ Aus dem sowjetischen Lied „Schwarze Tulpe“. Lyrik und Musik von Alexander Rosenbaum.
*: Wysotzki, Rosenbaum, Grebenschikow, Tzoj oder Okudschawa- sowjetische Rockbarden.
*Diogenes- ein griechischer Philosoph zu Zeiten Alexanders des Großen, der als Obdachloser auf den Straßen Athens lebte und den berühmtesten König und Feldherrn des Altertums darum bat, ihm nicht die Sonne zu versperren.
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Beitrag von zuzu »

Zum Jahresende neigen viele Menschen spontan dazu, in ihrem Leben eine Art Bilanz zu erstellen. Dabei stellen wir jedes Mal erbittert fest, das uns oft die Zeit zum Leben fehlt, weil wir den überwiegenden Teil unseres Tages auf der Arbeit verbringen. Erst am Wochenende wird dieser ewige Kreislauf künstlich unterbrochen und man bekommt eine Vorstellung davon, was es heißt, endlich zu leben, statt mechanisch zu existieren. Je länger wir in diesem Strom des Lebens schwimmen, desto öfter haben wir das frustrierende Gefühl, unser Leben, jeden einzelnen kostbaren Augenblick davon, für die meist trivialen Dinge des Alltages zu verschwenden, statt das Leben in seiner ganzen Vielfalt zu genießen. Und ganz ehrlich, wer von uns hat da nicht schon einmal davon geträumt, ein Leben zu führen, in dem man nur das tut, was uns wirklich Spaß macht. Aber geht so etwas überhaupt? Ich habe mir auch diese Frage gestellt und seht, was daraus geworden ist. Eine neue Dezember-Geschichte.



[center]Ein Tag in deinem Leben
(Kurzgeschichte)[/center]

Ein Tag in deinem Leben, wie sieht er aus, wie fängt er an? Vielleicht geht es dir genauso wie mir. Um 6 Uhr morgens geht dein Wecker an, du stolperst ins Bad, schlürfst deinen Kaffee in der Küche, setzt dich ans Steuer oder steigst in die Bahn. Dann geht es zur Arbeit: auf die Baustelle, in die Werkstatt, zum Geschäft oder ins Büro. Dort verbringst du die nächsten 9 Stunden deines Lebens, abzüglich der Mittagspause, was den Pflichtteil deines gesamten Tages ausmacht. Nachmittags träumst du schon sehnsüchtig vom Feierabend. Zwischen 16 und 18 Uhr darfst du endlich raus. Danach die Routine: Fahrt nach Hause, ein paar Einkäufe im Laden um die Ecke, leichtes Abendbrot, (mit oder ohne Familie), die Tagesschau, vielleicht noch eine Krimiserie oder einen Film. Mehr Zeit ist nicht drin. Dann kommt die Nacht und alles beginnt von Vorne: das Aufstehen, die Fahrt, die Arbeit, die Rückkehr…

Erst am Wochenende wird dieser ewige Kreislauf künstlich unterbrochen und man bekommt eine Vorstellung davon, was es heißt, endlich zu leben, statt mechanisch zu existieren. An diesen Tagen können wir uns allen Dingen zu widmen, für die uns im Laufe der Woche die Zeit fehlt: unsere Familien, Kinder, Freunde, Hobbys etc. Diese Ruhetage verwandeln uns in andere Menschen. Wir leben auf, singen, grillen, lachen und träumen davon, die Uhrzeiger im Wohnzimmer würden für immer stehen bleiben, damit die neue Woche niemals anfängt. Dann hätten wir endlich genug Zeit um ein Leben zu führen, das uns nur Freude und Spaß schenkt, unserer Vorstellung vom Glück entspricht. Ein naiver und sehnlicher Traum, der von dem schrillen Weckruf des Weckers jedes Mal brutal zerstört wird…

Je länger wir in diesem Strom des Lebens schwimmen, desto öfter haben wir das frustrierende Gefühl, unser Leben, jeden einzelnen kostbaren Augenblick davon, ( auch jetzt gerade), für die meist trivialen Dinge des Alltages wie Kochen, Putzen, Waschen, Einkaufen oder für unsere Arbeit zu verschwenden, uns in diesem monotonen Ablauf und dieser Routine zu verlieren und unterzugehen, statt dieses Leben in seiner ganzen Vielfalt zu entdecken, zu reisen, zu träumen, zu genießen, es tatsächlich zu leben und zu erleben. Dabei wird uns doch so oft gesagt, das Leben sei etwas Schönes und Einzigartiges und man dürfe keine Sekunde davon vergeuden , sondern man solle sich bemühen so zu leben, als wäre jeder Tag in dieser Welt ein besonderer Tag. Aber ist das denn möglich und wer von uns tut das schon?
-. „Träume nicht dein Leben, lebe deinen Traum“ – sagen uns Promis und Psychologen. Diese Damen und Herren haben leicht reden. Aber wie soll ein einfacher Bürger, wie du und ich, es eigentlich schaffen, „seinen Traum zu leben“, wenn man gleichzeitig zur Arbeit gehen oder die Wäsche für seine Familie machen muss?

Mit diesem Dilemma bin ich nicht allein. Millionen von Menschen auf der ganzen Welt stellen sich gelegentlich die gleiche Frage. Auch sie sind gezwungen ihre Träume und Wünsche nahezu täglich zu verdrängen und stattdessen Häuser zu bauen, Felder zu bestellen, Kinder in der Schule zu unterrichten, Züge zu steuern, andere Menschen zu pflegen, Müll weg zu schaffen, Verbrechen aufzuklären, Waren einzuräumen oder Akten zu studieren und dabei das Leben als Leben immer auf „später“ zu verschieben. Später bedeutet, wenn man genug Zeit dafür haben wird. Zeit um nur das zu tun, wozu man wirklich Lust hat, nicht das was man machen muss. So wie jetzt. Wie würden ein solches Leben und solche Tage überhaupt aussehen?
Jeder hat seine eigene Vorstellung davon. Der Eine würde die halbe Welt bereisen, im Garten arbeiten, Sport treiben oder die steilen Berge heraufklettern. Der Andere ins Kino gehen, Freunde zu treffen, Rad fahren, zu jagen, zu schwimmen oder einfach nur sich ordentlich ausschlafen. Die Palette der persönlichen Wünsche ist bunt und lang.

Ich gebe zu, bis heute ähnliche Gedanken und Wünsche gehabt zu haben. Mein Traumtag wäre dann, einen sonnigen Sommermorgen mit einer Tasse Espresso, einem Croissant und der frischen Ausgabe der FAZ an der Düsseldorfer Promenade zu beginnen. Mehr Zeit fürs Reisen, Schreiben, gute Bücher und Filme zu haben, meiner Familie alle schönen Dinge kaufen und alle Wünsche erfüllen zu können und die betörende Schönheit dieser Welt, in den Gesichtern der Menschen, den Bauten, den Bäumen und in der spiegelglatten Fläche des Rheins zu genießen. Friedlich und sorglos, ohne Zeitdruck. Das wäre wahrhaftig ein fantastischer Tag!

Wäre… aber das ist der auch so, denn das Buch "The Kindness of Strangers" von Don George, eine Sammlung von Geschichten von der Freundlichkeit der Menschen, hat meine Einstellung dazu über Nacht verändert. Eine gute Freundin von mir, Nadja, erzählte begeistert von diesem Buch und zeigte mir gleich einen Auszug davon, das Vorwort von Dalai-Lama, das sie besonderes beindruckt hatte. Dort brachte der Große Tibeter einen genialen Gedanken zu Papier, der mir schlagartig etwas Wichtiges im Leben klar machte, das ich bis dahin völlig übersehen hatte. Ich gebe hier seine Worte wieder. Darin verbirgt sich die Formel des Lebens.
Er schrieb„ Wenn wir wirklich darüber nachdenken, dann hängt unser Überleben, selbst heute, von der Freundlichkeit von so vielen Leuten ab. Vom Moment unserer Geburt an sind wir unter der Obhut und Freundlichkeit unserer Eltern; später im Leben, wenn wir unter Krankheit und hohem Alter leiden, sind wir wieder abhängig von der Freundlichkeit anderer. Dies ist der Faden, der sich durch unser ganzes Leben zieht. In jedem Moment gibt es hundert Millionen freundliche Handlungen auf der ganzen Welt. Und auch wenn zur selben Zeit zweifellos auch viele boshafte Handlungen stattfinden, so sind diese bestimmt in der Unterzahl. Vielleicht wird dieser Art von guten Neuigkeiten keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt, weil es so viel von ihr gibt. Damit werden wir aktiv dazu beitragen eine friedlichere, harmonischere und freundlichere Welt zu gestalten“.

Seine schlichten Worte fielen wie ein fruchtbares Saatgut auf den Boden meiner Seele, das kurz darauf zu wachsen und zu gedeihen begann. Ich musste plötzlich an meinen Traumtag in Düsseldorf denken. Mein Traumtag hing ebenfalls von der Freundlichkeit anderer Menschen ab. Diese Tasse Espresso auf meinem Tisch wurde mir von einem Kellner gebracht. Die rauen Hände der Tagelöhner haben diesen Kaffee in Brasilien vorher angebaut und geerntet. Ein Schiffskapitän oder Pilot sorgte dafür, dass der später nach Deutschland kam. Die Bauarbeiter schufen die Altstadt und die Promenade. Der Straßenbahnfahrer brachte mich hierhin. Die FAZ auf dem Tisch wurde ebenfalls von Menschen geschrieben und geliefert. Jetzt saß ich da und genoss meinen Kaffee.

Ohne diese Menschen wäre das Ganze aber gar nicht möglich. Das, was in ihrem Leben täglich Routine und Belanglosigkeit ist, wofür sie ihre Wünsche und ihre Lebenszeit opfern, sorgt bei mir gerade für Genuss und Vergnügen. Und auch meine Routine wird für jemanden draußen nützlich sein. Daraus entsteht eine Kettenreaktion. Wir sind ständig von Freundlichkeiten umgeben und auf solche angewiesen. Niemand ist nutzlos oder umsonst auf der Welt. Das wäre mir ohne Nadjas Buch und den Dalai Lama vielleicht erst später klar geworden. Vielleicht hätte ich auch niemals daran gedacht. Man lernt das Leben Schritt für Schritt kennen und weiß zum Schluss nur, dass man nichts weiß. Diese Sache jedoch schon.

Ein Tag in deinem Leben ist ein Wunder, an dem die halbe Welt täglich hängt . Jeder dieser „unbedeutenden“ Tage, ist die Summe unserer Handlungen, addiert mit unseren persönlichen Hoffnungen und Erlebnissen und geteilt durch das Schicksal und die Macht des Universums über uns. Des Universums, in dem wir alle auf einander angewiesen sind, auch wenn wir uns gern einreden wollen, allein und unabhängig in dieser Welt zu sein. Dabei lehrt uns diese Gleichung des Lebens, dass das genau das Gegenteil ist. Unser tägliches Überleben hängt von der Gemeinschaft, nicht von dem Individuum selbst ab. Das hat der Dalai-Lama sehr gut erkannt.
Man braucht nur das Wort Freundlichkeit durch Handlung zu ersetzten, aber der Sinn des Buches bleibt trotzdem gleich. Auch wenn wir den Alltag stets beklagen, ist der alles andere als sinnlos. Diese tägliche Routine, bei der wir glauben, unser Leben an Belanglosigkeiten und Trivialem zu verschwenden, ist in Wirklichkeit der Grund, warum es uns gibt. Denn ein Tag in deinem Leben schenkt dem Leben des Anderen auch einen Tag…

Ende

Roman Dell
07.07.2014- 01.08.2014

Quellen
The Kindness of Strangers: Tales of Fate and Fortune on the Road. Winner of Independent Publisher Book Award, Travel Essay category, 2004Ed. by Don GeorgeVerlag: Lonely Planet Publications 2008
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brucki
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Beitrag von brucki »

Wintergedanken von Roman Dell in der neuen isso.:

http://www.isso-online.de/files/isso_au ... screen.pdf

(ab Seite 30)

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zuzu
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Beitrag von zuzu »

Und hier die Geschichte, die Roman Dell uns im neuen Jahr schenkt:

Als Kind glaubte ich, dass die Autoren und Künstler sich für ihre Werke immer von außergewöhnlichen Menschen und magischen Orten inspirieren lassen und das Produkt dieser Schöpfung unter besonderen Umständen entstehen muss. Dabei ist das genau umgekehrt. Das ist der „graue“ Alltag, kein magischer Ort, der den Künstlern und Autoren immer wieder neuen „Stoff“ liefert. Dabei finden die meisten dieser Storys oder Momente nicht selten dort statt, wo man zunächst nichts Magisches oder Außergewöhnliches vermutet. Mich hat meine Muse damals in der Bücherei „erwischt“. Dort wurde „Die Unbekannte mit dem Namen einer griechischen Göttin“ geboren, die für mich, in jeder Hinsicht, eine ganz BESONDERE Geschichte ist.


[center]Die Unbekannte mit dem Namen einer griechischen Göttin.


Erzählung
[/center]

Vor zwölf Jahren machte ich die beste Investition meines Lebens. Ich holte mir einen Leserausweis von der Gelsenkirchener Bücherei. Für knapp sechzehn Euro im Jahr und etwa ein Euro und dreißig Cent im Monat, oder läppische vier Cent pro Tag bekam ich einen fast uneingeschränkten Zugang zu der ganzen Welt. Tausende Bücher, Hörbücher, Bildbände, Musik-CDs, CD-ROMs, PC-Spiele, Spielfilme oder Zeitschriften. Ein Universum des Wissens und dazu praktisch umsonst. Meine Gier und Freude kannten keine Grenzen.

Es hatte Jahre gedauert, bis dieser Traum von mir in Erfüllung ging. In meinem früheren Leben war ich ein richtiger Bücherwurm. Meine durchschnittliche Ration lag damals zwischen dreizehn und achtzehn Titeln…pro Monat. In der neuen Heimat musste ich eine Weile auf das Lesen verzichten, da meine Sprache dafür noch viel zu schlecht war. Ich hatte selbst bei einem Kinderbuch große Schwierigkeiten. Diese Zeit ohne Lesen erschien mir wie ein Entzug. Ich vermisste die vertraute Welt der Bücher. Sie waren ein Teil von mir. Ich brauchte sie. Also lernte ich wie besessen Deutsch. In der restlichen Freizeit starrte ich sehnsüchtig die Schaufenster der Buchläden an und wünschte mir eines Tages, all die darin befindlichen Schätze lesen und verstehen zu können… bis dieser Moment tatsächlich kam.

Als ich das erste Mal die Stadtbücherei in Gelsenkirchen-City betrat, fühlte ich mich von ihrer Größe und ihren üppigen Buchbeständen nahezu sprachlos und überwältigt. Sie waren um einiges größer als die in meiner alten Heimat. Allein die Geschichtsabteilung (übrigens mein Lieblingsgenre) bedeutete für mich die Qual der Wahl. Hunderte von Büchern: Antike, Mittelalter, Renaissance und Neuzeit, alles dabei. Teure Bildbände mit Zeichnungen und Fotos, Fachbücher und Enzyklopädien, die alle Kriege und Ereignisse aus jedem Zeitalter der menschlichen Geschichte in sich aufbewahrten.

Die restlichen Bücher waren nicht weniger interessant. Insbesondere Romane, die ich mir ab und zu auch auslieh. Ihre Titelblätter weckten bei mir Sehnsucht und Illusion. Sie zeigten Landschaften, Gestalten und Gesichter von Menschen, die man im Alltag vergeblich sucht. Eine meist erfundene Realität, die allein auf den Buchseiten und nicht in der Wirklichkeit existierte. Bilder, die zum Nachdenken und zum Träumen brachten, die die Liebe, die Menschen und die Welt schmackhaft machten und somit auch das Leben selbst.

Manche dieser Bücher waren neu. Sie rochen nach dem Verlag und nach Druckfarbe. Andere dagegen schon ziemlich alt. Sie trugen die Spuren und die Gerüche der Menschen und der vergangenen Zeit. Solche Bücher liebte ich am meisten. Wenn ich ihre abgenutzten Buchrücken liebevoll mit den Fingern berührte und an dem vergilbten Papier der Seiten roch, fragte ich mich immer wieder dabei, wie viele Hände und Schicksale dieses Buch bereits kannte. Darin liegt die Macht und Magie des gedruckten Wortes.

Es war klar, dass die Stadtbücherei schnell zu meinem zweiten Zuhause würde. Damit schloss sie eine wichtige Lücke in meinem Leben, die nach der Auswanderung die ganze Zeit in mir klaffte. Es war das Gefühl einer verlorenen Heimat, die ich in ihren hellen Räumen wiederfand. Hier konnte ich die neue Welt draußen vergessen und mich lieber in meiner vertrauten Welt bewegen.

Eines Tages wurde ich dabei auf ein Buch aufmerksam, das mich vor allem durch seine triste und nostalgische Optik ansprach. Es war ein sehr dünnes Buch, fast schon eine Broschüre. Der Buchumschlag - ein schwarzweises Foto - zeigte einen jungen Mann vor einem Fenster, der wehmütig und verträumt in die Ferne blickte.

Das gefiel mir. Diese Sehnsucht, Hoffnung, Traurigkeit und Schmerz. All das, was es in meinem Leben bereits schon gab und was meine Seele zerriss. Auch der Titel des Buches weckte bei mir bestimmte Erwartungen: Siesta mit Blanca las ich die Überschrift. Der Klappentext des Romans berichtete von einem jungen Mann, der wegen einem Maler von der Frau seines Lebens verlassen worden war und seitdem seiner Liebe nachtrauerte. Natürlich nahm ich das Buch sofort mit.

[center]XXX[/center]

Wie jeder junge Mensch meines Alters sehnte ich mich damals nach der Liebe und der Zweisamkeit, die mir bis dahin verwehrt geblieben waren. Ich hatte Sehnsucht nach schönen und traurigen Damengestalten, die mir bei Remarque, Dostojewski, Tolstoi oder Sagan begegnet waren und stellte mir alle Frauen als reine und gebrechliche Wesen vor. Romantisch, schutzlos, zärtlich und leidenschaftlich. Jemand, für den es sich lohnt zu leben und zu sterben, wie Antonius und Cleopatra, Tristan und Isolde, Romeo und Julia…

Leider hatten die Mädchen der Gegenwart nur wenig für „solche Liebe“ und Dramen übrig. Ich fand die Erlösung in Romanen, die die Liebe als bitteren Leidensweg und als Erleuchtung beschrieben und wenig von ihrem Genuss oder ihrer Freude priesen. Das entsprach voll und ganz dem Wesen meiner slawischen Natur, die mehr auf das Leiden als auf das Glück ausgerichtet ist. Diese Bücher gaben mir das Gefühl, nicht allein mit diesem Problem zu sein. Und das weckte wiederum Hoffnung in mir. Den Glauben, dass diese Einsamkeit und der Mangel an Liebe nicht von Dauer sein können. Dass das ersehnte Glück kommen wird. Vielleicht nicht heute. Vielleich nicht morgen. Aber übermorgen. Irgendwann Mal.

Das Buch war ein Volltreffer. Der Hauptprotagonist sprach mir aus der Seele und ich hatte auf manchen Seiten das Gefühl, der Autor habe sich seine Gefühlswelt von mir persönlich abgeguckt. Wirklich überrascht hat mich das Buch jedoch nicht. Eher das, was danach kam. Auf der letzten Seite entdeckte ich einen verwaschenen Fristzettel. Er stammte nicht von mir. Zwei Dinge versetzten mich dabei in Erstaunen.

Das erste war, dass er …einer Frau gehörte. Das zweite, ihr Name.
Ich fand es ein wenig ungewöhnlich, dass eine Frau sich für die seelischen Schmerzen eines Mannes interessierte, zumal man den Männern sowieso traditionell einen Mangel an Gefühlen zuspricht. Als wären Feinfühligkeit und Sensibilität allein das Privileg der Frauen. Hier wollte aber jemand genau wissen, wie Männer lieben und leiden. Vor allem leiden. Davon war jede Seite im Buch voll. Noch ungewöhnlicher war ihr exotischer Vorname, den ich auf dem Fristzettel las. Sie trug den Vornamen einer griechischen Göttin, (ich sage nicht welcher, sonst ist das kein Geheimnis), während ihr Familienname absolut deutsch war. Eine ungewöhnliche Kombination, genau wie ihr Geschmack.

Dieser Zettel löste bei mir gleich mehrere Fragen aus. Fragen, auf die ich unbedingt eine Antwort haben wollte. Dabei versuchte ich mir anhand des Buchtitels wie ein FBI-Profiler ihr psychologisches Portrait zu basteln. Das war nicht so einfach. Ich hatte nichts als Vermutungen in der Hand. War diese Frau genauso einsam wie der Mann in dem Buch? Trauerte sie auch ihrer Liebe nach? Suchte sie in solchen Texten nach Trost, wolle sie die Welt der trauernden Menschen besser verstehen, oder war sie einfach nur neugierig? Es musste doch etwas geben. Einen Hinweis. Etwas Persönliches. Etwas wonach sie in dem Buch unbewusst suchte. Einen Grund warum sie dieses Buch ausgewählt hatte.

Ich fing an sie schon jetzt zu mögen. Diese Frau verbarg ein Geheimnis. Das haben nur wenige Menschen. Zumindest im wahren Leben. Am allermeisten gefiel mir jedoch, dass es hier jemanden gab, der mit mir den gleichen Geschmack teilte. Ich hatte das Gefühl, endlich einer verwandten Seele zu begegnen. Ich musste und wollte mehr über diese Frau erfahren. Hier war ein wenig Detektivarbeit gefragt. Ich nahm ihren Fristzettel nachdenklich in die Hand und hielt ihn mir vor Augen. In dem Moment überkam mich eine verrückte Idee…

Ich ging zum Regal mit dem Buchstaben M. Erstaunlicherweise war der Titel noch da. Sputnik Sweetheart von Haruki Murakami. Ich nahm das Buch aus dem Regal und klappte es in der Mitte auf. Ein Glückstreffer. Anscheinend gehörte es zu ihrer festen Gewohnheit, die Fristzettel in den Büchern, die sie ausgeliehen hatte, zu vergessen. Auch bei diesem Buch. Ich las den Zettel einmal durch. Dann nahm ich alle Titel mit, die draufstanden.

[center]XXX[/center]

Auf diese Weise glaubte ich etwas mehr über sie zu erfahren. Der Geschmack eines Menschen kann einem viel über ihn verraten. Dazu gehört auch, welche Bücher er liest. Daraus entsteht ein erster Eindruck und wenn man mehr davon hat, ein Bild, das jedoch nicht immer stimmt. Ich brauchte nur zwei Tage für das Buch. Es handelte von einem abgewiesenen Verehrer, dessen Muse und Geliebte sich in eine Frau verliebte, mit ihr nach Griechenland flog und dort verschwand. Sobald ich mit dem Roman fertig war, musste ich gestehen, dass diese Frau nicht so leicht zu durchschauen war. Alles, was ich von ihr wusste war nur, dass sie bis jetzt die gleichen Bücher wie ich las. Nicht weniger und nicht mehr.

Es wäre nicht ganz richtig zu sagen, dass ich in dem Moment mein Herz an die Unbekannte mit dem Namen einer griechischen Göttin verloren habe. Das tat ich nicht. Nicht auf diese Art. Sie löste leise Hoffnung in mir aus. Das Gefühl, dass es hier jemanden gab, der mir womöglich sehr nah stand. Trotzdem konnte ich nicht von mir behaupten, dass ich in diese Frau verliebt war. Ich wäre es gern gewesen, wenn ich gewusst hätte, wie sie aussieht. Im Moment war das aber nur eine starke Sympathie. Obwohl ich ihren Namen und Vornamen bereits kannte, war sie nach wie vor eine Fremde für mich. Mir fehlte ein Gesicht dazu. Erst durch das Gesicht würde ihre Existenz lebendig und persönlich. So lange ich ihr Gesicht nicht kannte, gehörte sie allein meiner Fantasie. Sie konnte schlank und groß sein, oder einfach nur schlank, oder einfach nur groß, Bartstoppeln haben, Hüftgold tragen oder schielen. Oder wirklich wie eine Göttin aussehen. Was weiß ich. Je nach Buch änderte sich auch meine Vorstellung. Es war spannend, genau wie ein Spiel.

Wenn sie französische Romane las (wir haben beide eine Weile von Nicolas Barreau geschwärmt), war sie eindeutig dünn, zart und blond. Wie jede Französin in meinen Träumen. Sobald ich Elke Heidenreich auf ihrem Fristzettel fand, vermutete ich, sie habe das Aussehen einer Lektorin oder Akademikerin. Als sie dann eines Tages plötzlich zu Nicolas Sparks gewechselt hatte, fürchtete ich schon, sie wäre eine glücklich verheiratete Hausfrau, die in solchen Romanen nur Abwechslung suchte.

Am Anfang hatte ich fälschlich angenommen, ihr Geschmack bei den Büchern habe etwas Konstantes, wie bei mir. Die Fristzettel von den Titeln, die sie sich auslieh, bewiesen mir jedes Mal das Gegenteil. Das Schlimmste daran war, was auch immer sie gerade gelesen hatte, ich wurde aus ihrer Wahl nicht schlau. Ich hatte immer noch kein klares Bild von ihr. Nichts, was auch nur ein wenig zu ihrer Person führte. Sie las sich quer durch die Welt der Literatur. Triviale Literatur neben literarischen Meisterwerken, Krimis und historische Romane, neben Damenromanen und Fantasy-Büchern. Ich konnte keine bestimmten Vorlieben oder Muster dabei erkennen. Sie nahm einfach alles mit. Das war ungewöhnlich.
An manchen Tagen hatte ich sogar den leisen Verdacht, sie leihe die Bücher für ihre Freunde oder Bekannte aus. Was wäre, wenn sie in Wirklichkeit gar nichts las? Wenn diese Bücher für andere bestimmt waren? Nicht für sie.

Meine Zweifel waren nicht ohne Grund. Wie konnte ein Mensch sonst solch gravierende Geschmackschwankungen haben. Aber ein Teil von mir lehnte diesen Gedanken strikt ab. Vielleicht aus Hoffnung. Vielleicht aus Verzweiflung. Am allermeisten jedoch, aus Angst vor der Wahrheit.

Ich lieh mir trotzdem alle Titel von ihr aus. Bei vielen Büchern stimmte unser Geschmack tatsächlich überein. Aber es gab auch deutliche Differenzen.
Durch sie entdeckte ich die schräge und verrückte Welt Murakamis: Naokos Lächeln und Gefährliche Geliebte. Große Romane, die mich im gleichen Maße beeindruckten und erschütterten. Dennoch war er der einzige Japaner, den ich auf ihren Fristzetteln bis jetzt gesehen hatte, während ich nach Yukio Mishima verrückt war und zusammen mit Laura Rowlands Ermittler Asano Ichiro, im Japan der Tokugawa Zeit Jagd auf Meuchelmörder machte. Sie hielt auch nicht viel von Khaled Hosseini, irgendwie überhaupt nicht viel von Afghanistan und dem Orient, wobei sie dafür jede Menge Schriften von Paulo Coelho las, während ich mich lieber mit Orhan Pamuk als mit seiner Mystik beschäftigte. Als sie dann mit Harry Potter begann, glaubte ich fast, sie wäre ein Teenager, bis mein Onkel mir einmal verriet, er fände als Erwachsener diese Bücher auch herrlich. Sie könnte also jung aber auch alt sein. Beides war sehr gut möglich.

Als der Altkanzler Helmut Schmitt und Mikhail Gorbatschew auf ihren Zetteln auftauchten, war ich mir fast sicher, die Unbekannte mit dem Namen einer griechischen Göttin, wäre in Wirklichkeit eine Seniorin, bis sie Don Winslows Mafia-Romane und Agententhriller von Frederic Forsyth zu lesen begann. Dann musste ich ein neues Profil von ihr erstellen.
Manchmal ließ sie auf diesen Fristzetteln doch etwas Privates von sich erkennen. Das glaubte ich damals zumindest. Diverse Kochbücher: mexikanische Küche, Streuselkuchen, Sushi und Deutsche Spezialitäten. Sogar Bildbände mit Rezepten aus der türkischen Küche. Aber keine Fachbücher oder Ratgeber über Ehe, Liebe oder Kindererziehung. Nichts dergleichen. Also war sie doch jung, wenn auch nicht so jung, sagte ich mir dann. Politik fand sie gelegentlich auch interessant. Vor allem das Skandalbuch von Thilo Sarrazin.

Hin und wieder musste sie auch in Urlaub fliegen. Die zahlreichen Reiseführer von Kreta und Paris verrieten mir, was sie außerhalb der Welt der Bücher am meisten liebte: die griechische Sonne und die französische Lebensart.

Trotzdem wusste ich nach wie vor kaum etwas über sie, obwohl ich schon eine Weile ihre Lesespuren verfolgte. Eher umgekehrt. Mit jedem neuen Buch, das ich zusammen mit der Unbekannten mit dem Namen einer griechischen Göttin las, wurde sie noch fremder und unbekannter. Ich musste gestehen, dass mein Interesse an ihr surreal war, eine Träumerei, die zu nichts führte und dass in meinem Leben langsam etwas geschehen sollte, wenn ich mir eine weitere Enttäuschung ersparen wollte…

[center]XXX[/center]

Als ich zu diesem Entschluss kam, hatte die Unbekannte mit dem Namen einer griechischen Göttin gerade einen historischen Roman von Maria Frederikson gelesen. Maria Magdalena, wenn mein Gedächtnis mich nicht trügt. Danach hörte ich auf an sie zu denken. Das geschah ziemlich abrupt und hatte nichts mit Enttäuschung oder Verzweiflung zu tun. Auch nicht damit, dass ich mit dem Lesen von Büchern aufgehört hätte. Es war viel einfacher. Viel, viel einfacher.
Hier hatte das Leben seine Hände im Spiel. Ich besuchte einen alten Freund im Rheinland… und habe mich dort in eine Frau verliebt. Das geschah plötzlich und unerwartet, wie in einem französischen Liebesroman. Eine Woche später waren wir ein Paar und sie besuchte mich am Wochenende bei mir zu Hause.

An dieser Stelle wäre Nicolas Burreau stolz auf mich. Endlich lebte jemand das Leben seiner Traumprotagonisten im richtigen Leben aus. Was kann einen Schriftsteller noch glücklicher machen?

Und die Unbekannte mit dem Namen einer griechischen Göttin? Sie ist irgendwo hier in der Gelsenkirchener Stadtbücherei und ahnt nicht einmal, dass es mich gibt. Ich werde niemals erfahren, welches Gesicht sich hinter ihrem Namen verbirgt, ob sie jung oder alt war und alle diese Bücher selbst las oder nur für ihre Bekannten auslieh. Aber das brauche ich auch nicht. Von nun an bekommt sie von mir eine ganz andere Funktion. Sie ist und bleibt eine nette Geschichte…


[center]Ende

Roman Dell

10.11.2013-23.11.2013[/center]
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Beitrag von zuzu »

In meiner neuesten Geschichte entführe ich euch in die Russische Föderation der 90-er Jahre und lasse euch Zeugen einer Russian Crime Story werden, die ganz typisch für diese Zeit ist. Da diese Erzählung relativ umfangreich geworden ist, wird sie auf Gelsenkirchener Geschichten in Teilen veröffentlicht. Ich hoffe, ihr bleibt trotzdem dran. Also bleibt mir nur zu sagen, viel Spaß und fleißig auf die Fortsetzung warten.

[center]Russian Crime Story

Erzählung

XXX[/center]

Wenn man von Toljan aus der Bergbausiedlung sprach, sprach man gleichzeitig auch vom Volk. Einem Gesicht wie seins begegnete man überall. Auch sein Leben unterschied sich kaum von dem Leben der anderen Sowjetbürger. Er war Kommunist, verheiratet und hatte zwei Kinder, wie fast jeder in unserem Land.

Über seine Arbeit wussten wir nur, dass er als Fahrer bei irgendeinem Kommunalbetrieb beschäftigt war. Es ging das Gerücht, dass sein Fuhrpark in Wirklichkeit zu einer Importbase gehörte, jener elitären Handelseinrichtung in der UdSSR, die alle hochrangigen Parteimitglieder in unserem Staat mit begehrten Waren aus dem Ausland versorgte, die für den Rest der Gesellschaft gar nicht oder nur über „Beziehungen“ zu bekommen waren. Ihr wisst schon, japanische Technik, österreichische Lederstiefel, französische Kosmetik oder amerikanische Schokolade und Spirituosen. Das Beste vom Besten, wie es sich bei den Diktaturen in aller Welt gehört.

Weil er den ganzen Tag am Steuer saß, galt Toljan als ein „Nichttrinker“, was bei den Russen nur so viel bedeutet, dass man sich höchstens am Wochenende oder an Feiertagen ein Gläschen Hochprozentiges genehmigte, jedoch nicht, dass man gar nicht trinkt. Dafür dass es auch so blieb, sorgte Toljans Ehefrau. Dieses zänkische Weib, das um einen Kopf größer und gute sechzig Kilo schwerer als das eigentliche Oberhaupt der Familie war, kannte fast jeder Mensch in unserem Hochhaus. Sie wusste genau über die Schwäche ihres Mannes Bescheid und hielt Toljan bewusst an der kurzen Leine. Besonders, was die harmlosen Einladungen der Nachbarn auf eine Partie Domino oder Brettspiel betraf, die vor dem Haus auf der Sitzbank gespielt wurden, weil es dabei nicht selten Wodka oder Bier gab.

Auch sonst gab sie zu allem, was in der Siedlung geschah, gern ihren Senf dazu und ordnete an, was ihr Gatte tun oder besser lassen sollte, wofür er jedes Mal die abfälligen Blicke aller Männer im Viertel kassierte, die ihm stumm aber unmissverständlich zu verstehen gaben: Du gehörst nicht zu uns. Du bist ein Pantoffelheld. Wie peinlich.

Angestachelt durch deren Spott setzte sich Toljan gelegentlich gegen ihre Herrschsucht zu wehr. Dann krachte es mächtig zwischen den Beiden und man konnte sein Geschrei überall im Haus hören. Der Busfahrer brüllte seine Frau an, dass er ihr Diktat langsam satthabe und nicht länger tolerieren werde. Dabei knallte er nach jedem Satz so wuchtig mit der Faust auf den Tisch, dass das Geschirr im Küchenschrank augenblicklich zu wackeln begann.

Außerdem dürfe dieses unverschämte Weib nicht vergessen, wer hier das meiste Geld verdient. Es reicht! Sie solle sich vor ihrem Hausherrn in Acht nehmen und sich nicht dauernd in „Männerangelegenheiten“ einmischen. Und endlich damit aufhören ihn vor aller Welt, öffentlich zu blamieren und bloßzustellen. Er sei ein erwachsener Mann und wisse selbst was zu tun ist. Sie habe ihm nichts, aber auch gar nichts zu sagen. Ihr Hoheitsgebiet in diesem Haus sei die Küche. Und nun solle sie bitte schön ihm aus den Augen gehen, bevor ihm noch die Hand „ausrutscht “.

Danach zog er sich triumphierend ins Wohnzimmer zurück, wo er sich anschließend den ganzen Abend allein betrank, fest im Glauben sich als Mann „durchgesetzt“ zu haben.
Seine Frau nahm diese „Wutausbrüche“ mit erstaunlicher Gelassenheit. Sie schwieg und würdigte Toljan keines einzigen Blickes. Stattdessen rührte sie seelenruhig mit dem Löffel in ihrem Kochtopf und ließ ihren aufgebrachten Gatten einfach gewähren. Sobald die Suppe auf dem Herd fertig war, nahm sie ihre beiden Kinder mit und verbrachte die Nacht… oder die Nächte… bei den Nachbarn.

Es war ihre Art, ihn für seine „Rebellion“ zu bestrafen und dabei aller Welt zu zeigen, wer in ihrer Familie wirklich das Sagen hatte. Eine Methode, die sich in Toljans Fall jedes Mal als äußerst wirkungsvoll und ziemlich effektiv erwies. Am Ende gab der Busfahrer immer nach. Er hatte nicht die geringste Chance. Wenn er wieder nüchtern war, erschien Toljan wie ein geprügelter Hund vor Nachbars Tür und flehte seine Gattin auf Knien an, ihm zu verzeihen und wieder zurück zu kommen. Eine Bitte, die seine „todbeleidigte“ Frau ihm jedes Mal doch noch großzügig erfüllte…. nach langem Zögern und reichlicher Überlegung, versteht sich.
Diese Familienszenen spielten sich für gewöhnlich zwei bis drei Mal im Jahr ab. Für den Rest der Zeit blieb Toljan ein unscheinbarer Mensch. Niemand beachtete ihn oder interessierte sich für ihn. Nur einmal geriet er ins Visier der Allgemeinheit. Es war das letzte Jahr, bevor die Sowjetunion vor die Hunde ging…

[center]XXX[/center]

Seine Gattin sonnte sich gerade auf einem Naturstrand in Sotschi, wohin sie zusammen mit ihrer ältesten Tochter aus erster Ehe für eine Woche verreist war, während Toljan zu Hause mit Arbeitskollegen seinen „Ausbruch“ in die Freiheit feierte… und dabei offensichtlich Zeit und Kontrolle aus den Augen verlor. Man beschwerte sich nämlich über betrunkene Stimmen und laute Ganoven-Musik in seiner Wohnung und drohte dem spinnenden Busfahrer mit Anzeige und Miliz.

Abends erschien er stark beschwipst auf der Straße und rief laut nach seinem Sohn. Eigentlich sollte Saschka - sein Sohn, der gerade erst sechs Jahre alt war -, um diese Uhrzeit schon längst im Bett sein, nach dem er die Muss-Sendung aller sowjetischen Kinder „Gute Nacht, Knirps“ um Viertel nach Acht gesehen hat. Eine feste Tradition in jedem Haushalt. Stattdessen trieb sich das Kind irgendwo auf der Straße herum, was sein Vater erst, nachdem die Gäste weg waren, bemerkte…

Er bekam es mit der Angst zu tun. Zwar war der bekannteste Serienmörder der Sowjetunion - Andrej Tschikatilo - von der Miliz bereits gefasst worden, aber man war sich immer noch nicht ganz sicher, ob es da draußen nicht noch mehr Verrückte wie ihn gab. Nun suchte Toljan das gesamte Viertel nach seinem verlorenen Sohn ab und versprach ihm in aller Öffentlichkeit dermaßen den Hintern zu versohlen, dass er mindestens eine Woche lang nicht darauf sitzen könnte, während sein Sprössling mit einem selbstgebastelten Bogen mit uns Robin Hood auf der Baustelle spielte und sich keinerlei „Schuld“ bewusst war.

Ich erinnere mich sehr gut an diesen Moment, als Toljan völlig unerwartet in der fallenden Dämmerung auf der Baustelle auftauchte und uns alle in Angst und Schrecken versetzte. Sein Oberkörper war nackt, seine Beine wackelig und er selbst ordentlich beschwipst. Der Busfahrer hatte nur kurze Shorts an, die seine Frau aus alten Hosen ihres Mannes selbst anfertigte, in dem sie die abgewetzten Hosenbeine mit der Haushaltsschere kürzte und wieder zusammennähte. Armut macht den Menschen kreativ und erfinderisch.

Toljans dünnen Oberarm schmückte ein verblasstes Meerjungfrau-Tattoo, der vermutlich noch aus seinen Zeiten bei der sowjetischen Kriegsmarine stammte, wo der Busfahrer drei Jahre lang unserem ruhmreichen Land gedient hatte. Die schlaffe Haut seines inzwischen alt und träge gewordenen Körpers roch nach Wodka, Tabak und saurem Schweiß. Unrasiert, mit einer selbstgedrehten Kippe im Mund, baute er sich wie ein Pirat vor uns auf und starrte der Kindertrupp mit dem Blick voller Streng e und Rauheit an. Eine oder zwei Minuten lang. Diese Zeit kam mir wie eine Ewigkeit vor.

Plötzlich entdeckte er den eigenen Sohn in unseren Reihen. Er packte ihn schnell am Arm und nahm den Jungen grinsend in den Schwitzkasten…
Da dachten wir schon, armer Saschka, jetzt bekommt er eine Tracht Prügel. Doch dann vollzog Toljans zorniges Wesen erneut eine unvorhersehbare Wandlung. Sein grimmiges Gesicht wich einem betrunkenen Lächeln. Statt den Jungen zu schlagen, strich er dem eigenen Sohn liebevoll mit der Hand über das wirre Haar. Die Augen des Busfahrers wurden feucht vor Glück. Sie schauten den Jungen voller Milde und ergriffener Rührung an, die jetzt an Stelle der bisherigen Angst und des Zornes traten. Sein Sohn war da und ihm war auch nichts passiert. Er durfte sich wieder beruhigen und entspannen.

Die Hand des Busfahrers verschwand in der Hosentasche und holte einen zerknitterten Fünfrubelschein heraus. Er reichte seinem Sohn das Geld, gab ihm einen feuchten Kuss und nuschelte dabei unverständiges Zeug: Der Junge solle davon Eis für seine Kameraden kaufen, solange der Lebensmittelladen auf dem Prospekt der Revolution noch aufhatte und dann schnell nach Hause kommen. Es sei schon spät genug. Mama dürfe das auf keinen Fall erfahren. Und dann sagte er noch, dass er Saschka liebe und dieser nichts zu befürchten habe. Warum denn auch? Er sei schließlich sein Herzblut, sein Alles. Alles was er hat. Er tue ihm nichts. Ehrenwort.

Er musste uns nicht zweimal darum bitten. Wir nahmen das Geld und machten uns sofort aus dem Staub, wohl aus Angst, er könnte es sich womöglich doch anders überlegen und uns die 5 Rubel wieder abnehmen, wenn er am nächsten Tag wieder nüchtern ist. Eine Summe, die uns damals astronomisch erschien, wenn man bedenkt, dass ein einfaches Plombier- Eis in der UdSSR … nur 13 Kopeken kostete.

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Als die Sowjetunion über Nacht von der Weltkarte verschwand, begann für fast alle von uns ein Leben voller Ungewissheit und Entbehrungen. Am schlimmsten traf es die Alten und die Intellektuellen. Die Kriegsveteranen und die Rentner müssten ihre Orden und ihre Medaillen auf den Straßen verkaufen oder vor den Geschäften und in den U-Bahnstationen um Geld betteln, weil ihre mickrige Rente vom Staat unregelmäßig überwiesen wurde oder noch schlimmer, ganz ausblieb.

Auch viele Ingenieure, Künstler und Akademiker wurden nach dem Zerfall der Sowjetunion über Nacht arbeitslos. Ihre staatlichen Forschungsinstitute, Konstrukteur- Büros und Kultureinrichtungen, die die sowjetische Planwirtschaft jahrelang mit Subventionen und Aufträgen künstlich am Leben gehalten hatte, konnten in der harten Welt der freien Marktwirtschaft und der erbitterten Konkurrenz nicht selbständig überleben.
So war es damals nicht verwunderlich, wenn man im Alltag plötzlich auf Akademiker traf, die bei Neureichen die Toiletten putzten oder ihr Besteck in der Küche mit dem Geschirrtuch polierten. Oder Musiklehrer und Komponisten, die in Hotels oder Wäschereien als Hilfsarbeiter, Bedienung oder Pförtner arbeiteten. Oder Professoren und Ingenieure, die Nachtwächter oder Taxi-Fahrer waren. Wer selbst einen solchen Job nicht bekommen konnte, verkaufte sein letztes Hab und Gut und lebte davon.

Viele schmissen ihren alten Job hin und fingen ganz von vorne an.
Als shuttle trader zum Beispiel. Sie schleppten Waren des alltäglichen Bedarfs aus Polen, China, der Türkei oder Saudi-Arabien in riesigen Reisetaschen mit dem Bus nach Russland an und füllten damit alle Läden und Märkte unseres aussterbenden Landes. Ein mühseliger und oft nicht ungefährlicher Job, aber ein Job, der Essen und Geld ins Haus brachte. Jeder, wirklich jeder, bekam die Krise und den Zerfall der Sowjetunion an der eigenen Haut zu spüren.
Auch Toljans Familie wurde davon nicht verschont. Anders als Lehrer, Fabrikarbeiter, Soldaten oder Ärzte, die ein halbes Jahr und noch länger auf ihren Lohn vom Staat warten mussten und dennoch nicht kündigen wollten, aus Angst, sie hätten dann ihren Arbeitsplatz nicht mehr, wenn eines Tages alles wieder wie früher läuft, bot Toljans Stelle als Chauffeur wenigstens die Möglichkeit eines kleinen Zuverdienstes an.

Sein Chef erlaubte ihm „unter der Hand“, Hochzeitgesellschaften am Wochenende mit dem Firmenbus auf eigene Rechnung zu chauffieren, wenn er seinen „Gewinn“ mit ihm 50/50 teilen würde. Ein Angebot, das Toljan voller Begeisterung und mit einem Handkuss annahm. So kam er halbwegs über die Runden.

Nicht zu vergessen, sein offizieller Job beim Kommunalbetrieb. Dort bekam er seinen Lohn nicht selten, wie fast alle von uns, in „Naturalien“ ausgezahlt. Sprich, mit Artikeln, die im Lager der Importbase (jetzt war das kein Geheimnis mehr) gerade vorrätig waren und an Stelle von Geld verteilt wurden, um gleich auf dem Markt gegen Lebensmittel oder andere Waren verkauft oder umgetauscht zu werden.

Einmal brachte Toljan einen großen Karton mit französischen Strümpfen und Büstenhaltern nach Hause, die seine Frau, nach und nach, an alle Nachbarn veräußerte . Ein anderes Mal gab man ihm runde buntbemalte Blechdosen mit Butterkeksen und Bockwürsten aus Deutschland in Zahlung. Im nächsten Monat waren es Damen T-Shirts mit der Überschrift Chanel drauf, deren grobe Nähte und leuchtende Farben eindeutig auf eine billige Fälschung aus der Türkei hinwiesen. Oder tschechisches Tischbesteck und chinesische Blusen aus Anorak. Oder Haarklammern aus Polen. Oder, oder, oder. Kein schlechtes Tauschmittel, wenn man bedenkt, was der Arbeiter einer Nagel- oder Düngermittelfabrik bekommen hätte, wenn sein Arbeitgeber auf die gleiche Idee gekommen wäre.

Toljan ließ den Kopf nicht hängen. Er hatte keine Zeit, sich über politische Machtkämpfe im Kreml, über Raubkapitalismus oder sonstige Veränderungen in seinem Land Gedanken zu machen. Auch trauerte er der Vergangenheit wenig nach. Seine einzige Sorge galt dem Überleben. Dem blanken Überleben, das jeden weiteren Tag unseres „neuen Lebens“ in unserem „neuen Land“ prägte.

Plötzlich war jeder sich selbst der Nächste und musste zusehen, dass er nicht auf der Strecke bleibt, ohne Rücksicht auf die Anderen oder auf ethische Werte. Der Kommunismus war tot und seine Ideale begraben. Alles was jetzt zählte, war das Geld in der Hand oder das warme Essen auf dem Tisch. Die Moral kam später… oder eben gar nicht. Auch diese Erfahrung war uns neu.

Es gab Tage, an denen es bei Toljan, genau wie bei uns, nur Brot, Nudeln und dünne Kartoffelsuppe zum Essen gab, aber auch Tage an denen man Fleisch, Käse und Wurst auf dem Tisch stehen hatte. Er arbeitete hart und beklagte sich nicht. Schon deshalb nicht, weil es in einem Land wie unserem überhaupt nichts bringt. Nur Geduld, Glaube und Grips helfen einem in Russland weiter. Es war nicht der Zusammenbruch der Sowjetunion, der sein karges und beschauliches Leben zum Einsturz brachte, sondern seine Frau, die eines Tages von ihm ging…
Sie starb an einem Herzinfarkt und machte aus dem Fahrer Toljan… einen Witwer Toljan mit zwei Kindern.


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Als Witwer mit zwei Kindern entsprach Toljan haargenau dem klassischen Gesellschaftsbild eines hilflosen und überforderten Menschen, dem das Leben unerwartet einen schwereren Schicksalsschlag zugefügt hat, mit dem er aus eigener Kraft niemals fertig werden kann. Schon deshalb nicht, weil er als „Mann“ von Dingen wie Haushalt, Kochen, Putzen und sonstiger „Frauenarbeit“ bis zu diesem Tag keine Ahnung hatte.

Eine russische Seele gönnt seinem Nächsten selten Glück, aber im Not und Leid ist sie immer da. Egal ob und was früher vorgefallen war. Darauf könnt ihr euch verlassen.
Plötzlich sorgte sich das ganze Haus nur um den verwitweten Fahrer. Die Männer klopften ihm mitfühlend auf die Schulter und sorgten dafür, dass der Vorrat an Wodka und Bier nie versiegte. Die Verwandtschaft seiner Frau kümmerte sich um die Beerdigung und um den Papierkram. Einige hilfsbereite Frauen übernahmen das Waschen und das Ankleiden der Leiche. Kein leichter Job, vor allem emotional, denn ein Beerdigungsinstitut wie in Deutschland gab es bei uns in der Form damals nicht.

Die anderen Nachbarn kochten Essen, putzten Toljans Wohnung, passten auf Saschka auf oder machten Einkäufe und Besorgungen. Auch die Hausverwalterin leistete ihren Beitrag. Sie klopfte an den Türen der Häuser und bat jede Familie um etwas Geld - eine Spende für die Beerdigung und die Familie der Verstorbenen. Es wurde fleißig gesammelt und ein riesiger Blumenkranz im Namen aller Bewohner der Siedlung bestellt. Volles Programm, wie es sich gehört.

Toljan selbst lief sturzbetrunken von Haus zum Haus und bedankte sich gerührt und beschämt für so viel Hilfe und Teilnahme an seinem Unglück. Niemand nahm ihm seine Alkoholfahne und seinen Zustand übel. Als Witwer und Trauender hatte er einen, mehr als legitimen, Grund zu trinken. Man erwartete es fast schon von ihm.

Am Tag der Beerdigung heulte er wie ein Kind los und wurde noch lauter und hysterischer, als die Friedhofsarbeiter anfingen, den Sarg mit der Verstorbenen in die Grube herunterzulassen. Man musste Toljan, im wahrsten Sinne des Wortes, vom Platz wegzerren, damit sie ihre Arbeit fortsetzen konnten. Ziemlich untypisch für einen russischen Mann, von dem man in allen Lebenslagen traditionell Kraft und Gelassenheit, aber niemals Tränen, erwartet.

Man rechnete fest damit, dass der Busfahrer schon bald, oder spätestens in einem Jahr, wieder heiraten oder an seinem Unglück zerbrechen würde und behielt ihn neugierig im Auge, aber er schien die Lage mehr oder weniger im Griff zu haben. Seine Stieftochter hielt zu ihm. Sie hatte inzwischen ihr Pädagogik-Studium in Rostov beendet und unterrichtete jetzt Russisch und Literatur in der Schule, wo auch Saschka seit Kurzem in die erste Klasse ging. Sie passte gut auf ihn auf. Toljans Sohn schien den Verlust der Mutter den Umständen entsprechend gut zu verkraften. Er machte seine Hausaufgaben, spielte mit uns auf dem Hof und baute nicht mehr Mist als sonst, als seine Mutter noch am Leben war.

Als man enttäuscht feststellte, wie tapfer und wacker Toljan sich mit seinem Unglück durchs Leben schlägt und weder zu „zerbrechen“ noch „zu heiraten“ gedenkt, ließ das voyeuristische Interesse, aber auch die Hilfsbereitschaft nach. Man überließ ihn einfach seinem Schicksal. An dessen Stelle traten jetzt neue Menschen und andere Sorgen. Das Leben ging weiter und so war es kaum verwunderlich, dass Toljan, nach und nach, aus unserem Blickfeld verschwand.
Allerdings nicht für immer, wie wir schon bald feststellen sollten.


Fortsetzung folgt....
Zuzu

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