Monika Schröder

Schriftstellerei, Dichtung, Rezitation

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Monika Schröder

Beitrag von Verwaltung »

Monika Schröder

- 1947 in Gelsenkirchen geboren
- Verwaltungslehre
- Besuch einer Berufsaufbauschule
- im Verwaltungsdienst tätig
- freie Mitarbeiterin einer Tageszeitung
- Lesung in der Literarischen Werkstatt Gelsenkirchen am 23.8.1968

Quelle: Beispiele - Texte aus der Literarischen Werkstatt Gelsenkirchen, Hugo Ernst Käufer (Hrsg.), Georg Bitter Verlag, 1969
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Beitrag von Verwaltung »

  • MONIKA SCHRÖDER

    Am Rand der Demonstration

    Ein heißer Tag. Karin kühlte Rolfs Stirn. Abenddämmerung. Schemenhaft erkannte sie Rolfs Körper. Er lag da, atmete schwer. Die Demonstration war für ihn beendet. Ein Polizeiknüppel hatte Rolfs Gesicht zum Dreinschlagen gereizt. Unter der Nase des Studenten hatte sich das Blut verkrustet. Unbemerkte Tränen standen in den Augen der Volksschullehrerin. Morgen sollte es weitergehen! Wie?

    Protest, lauter Protest gegen den Meinungsterror einer Regierung, für sich selbst zwar, aber auch für die vielen Uninteressierten, für und gegen sie, gegen ihre Abwehr, Auseinandersetzung mit ihren farblosen, von Presse und Tradition festgelegt gemachten Gesichtern, Demonstrationen sollte sie machen, Demonstrationen, wo doch alles in ihr schrie, sie wollte kämpfen, für sich selbst, aber auch für ihr Kind, Widerstand, sinnlos, vielleicht für einige sinnvoll, Widerstand mit einem Kind im Bauch ...
    Der Mann neben ihr stöhnte. »Rolf!« Sie schob ihren Arm unter seinen Kopf.
    Wie sollte es weitergehen? Morgen Demonstration nach der Schule, nach Essenkochen und Unterricht, nach Liebe in der Nacht und wilden Träumen und Kind im Bauch.

    Sie sah die Gesichter der Kollegen, widerlich-spießbürgerlich der dicke Rektor mit dem ernst-hintergründigen Fernsehkommentatorenlächeln und der geifernden Sprache, sich seiner Wichtigkeit bewußt, sie erkannte den kleinen Religionslehrer, mit der sanftfrömmelnden Stimme, mit den kalt-schweißigen Händen und den sie ausziehenden Blicken, die alte Sportlehrerin mit den harten Beinen und der Arroganz ihrer verachtenden Stimme. Und die Kinder? Sie liebte sie, diese kleinen grausamen Geschöpfe, die in vier oder fünf Monaten über ihren Bauch spötteln würden.

    (Ob Rolf sie jemals heiratete? Sie staunte über ihre bürgerlichen Anwandlungen. Heirat, Demonstration, Kind und ihre Wohnung, die unordentliche Dachstube.

    Alles drehte sich ein wenig, die Dachstube, der Mann, das Bett. Sie ließ sich neben Rolf fallen und wurde erst wieder wach, als seine Hände über ihren Bauch tasteten. Sie wandte sich ihm zu. Es war dunkel. Die Nacht fiel heiß durch das winzige Fenster. Sie träumte wenig. Aber wenn die rasenden Bilder ihr Gehirn bedrückten, war sie wie gelähmt, und Schweiß verstopfte ihre zuvor entspannten Poren. Weil sie ihr Leben intensiv erschloß und behielt, hatte sie alles Schlimme, was ihr satte Bürger und Eltern zufügten, doppelt so schlimm empfunden, und in ihren Träumen wiederholte sich alles.

    Nie hatte sie ihren Vater vergessen, den spindeldürren Mann mit dem meist unbeweglichen Gesicht, tobend, mit der erhobenen Hand ihr ins Gesicht schlagend, als sie ihm eine Fehlgeburt gestand, keifend die neureiche, neurotisch-moralische Mutter, die Schmuck an vertrockneten Händen trug, als sie ihr die Tür wies. Karins Traum zeigte sie als geifernde Schlange, die kalt und ohne Liebe ihr Gift selbst noch auf Friedhöfen verspritzte. Alles, was glitzerte, zog sie magnetisch an.

    Ausgeburt einer im eigenen Mief erstickenden Gesellschaft, menschlich sich um den kleinsten Strohhalm reißend, boshaft die restlichen Halme zerstörend. In einem Spiegel sah die junge Frau die Schlange, die sich auf sie zubewegte. Sie ringelte sich um ihren Hals. Schreien wollte sie, mit ihren Händen das unbarmherzige Biest zerstören, jedoch ihre verkrallten Finger glitten von glatten Fläche des Spiegels, der die entsetzliche Ratlosigkeit Gesichtes preisgab.

    Aufschrei, Fallen, Angst, Leere, Schweiß
    und die beruhigenden Hände Rolfs, der in den Nächten die Wahrheit ihrer Verzweiflung zu kennen begann. »Nicht aufgeben, Karin!«

    Zwei Geschlagene der Gesellschaft. Ein Schlagwort nur, Schlagworte, Modeworte, Gesellschaft, Ekel, Abscheu. Sie hatte den schalen Geschmack vergessenen Bieres im Mund.

    »Karin!«
    »Ja!«
    »Morgen mußt du fit sein. Hier. Wasser.«
    Hastiges Schlucken. »Danke.«
    »Du mußt ein Transparent tragen, Karin.«
    »Ja.«
    »Keine Provokation morgen. Ein Schweigemarsch.«
    »Ja.«
    »Mindestens dreitausend sollen kommen, hat die Zentrale gemeldet. Ich rechne mit mehr Leuten. Und mit der Polizei, natürlich. Ich werde auch bei der Diskussion sprechen.«
    »Du willst mitgehen?«
    »Natürlich.«
    »Ich bin müde, Rolf.«
    »Schlaf jetzt.«
    »Nicht nur jetzt, überhaupt, ich habe es satt.«
    »Ich auch.«
    Stille. Rolf schlief.

    Es war Mittag, und sie demonstrierten. Müde trug Karin ihr Transparent. Sie hätte es auf dem Boden zerschmettern mögen, mit ihren Füßen würde sie darauf herumtreten, wild, wütend, resignierend, müde. Sie trug ihr Schild. Aus den Fenstern gafften die Bürger. Tat sie es etwa für die? Oder sogar für die geilen Polizisten? Sie kannte es, bei Sitzstreiks von der Straße geschleift zu werden, wußte die Griffe, erriet die Blicke. Hatte sie etwas besseres verdient? Sie störte die Ruhe und Ordnung, die Ruhe in den gleichgültig verwesenden Köpfen und die Ordnung im vorderen Schaufenster der menschlichen Gattungen. Sie stinken, dachte sie, sie stinken. Der Geruch drang in ihre Nase, er umwehte ihr Gesicht. Die Wolke wurde stärker. Sie rannte in eine Einfahrt mit ihrem Kind im Bauch, mit dem Transparent in der Hand und ohne Gedanken. Würgen, Schlucken, Würgen, Speichel, sie erbrach sich. Schlucken, Würgen, Gestank, Verzweiflung, Tränen, Schutz an der Mauer, für einen Augenblick: Aus.
Quelle: Beispiele - Texte aus der Literarischen Werkstatt Gelsenkirchen, Hugo Ernst Käufer (Hrsg.), Georg Bitter Verlag, 1969
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