Lyrik - hartes Brot für Gelsenkirchener?

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rabe489
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"Tut das Unnütze"

Beitrag von rabe489 »

Ja.

Und dann gibt es auch noch die Dichter, die sich verweigern (Celan vielleicht) oder die zur Verweigerung aufrufen, wie Günter Eich ("Seid Sand im Getriebe" und "Tut das Unnütze")

Ich beneide sie alle, die vergessen können,
die sich beruhigt schlafen legen und keine Träume haben.
Ich beneide mich selbst um die Augenblicke blinder Zufriedenheit:
erreichtes Urlaubsziel, Nordseebad, Notre Dame,
roter Burgunder im Glas und der Tag des Gehaltsempfangs.
Im Grunde aber meine ich, daß auch das gute Gewissen nicht ausreicht,
und ich zweifle an der Güte des Schlafes, in dem wir uns alle wiegen.
Es gibt kein reines Glück mehr (- gab es das jemals -),
und ich möchte den einen oder andern Schläfer aufwecken können
und ihm sagen, es ist gut so.

Fuhrest auch du einmal aus den Armen der Liebe auf,
weil ein Schrei dein Ohr traf, jener Schrei,
den unaufhörlich die Erde ausschreit und den du sonst
für das Geräusch des Regens halten magst
oder für das Rauschen des Winds.
Sieh, was es gibt: Gefängnis und Folterung,
Blindheit und Lähmung, Tod in vieler Gestalt,
den körperlosen Schmerz und die Angst, die das Leben meint.
Die Seufzer aus vielen Mündern sammelt die Erde,
und in den Augen der Menschen, die du liebst, wohnt die Bestürzung.
Alles, was geschieht, geht dich an.

Wacht auf, denn eure Träume sind schlecht!
Bleibt wach, weil das Entsetzliche näher kommt.
Auch zu dir kommt es, der weit entfernt wohnt von den Stätten,
wo Blut vergossen wird,
auch zu dir und deinem Nachmittagsschlaf,
worin du ungern gestört wirst.
Wenn es heute nicht kommt, kommt es morgen,
aber sei gewiss.

”Oh, angenehmer Schlaf
auf den Kissen mit roten Blumen,
einem Weihnachtsgeschenk von Anita,
woran sie drei Wochen gestickt hat,
oh, angenehmer Schlaf,
wenn der Braten fett war und das Gemüse zart.

Man denkt im Einschlummern an die Wochenschau
von gestern abend:
Osterlämmer, erwachende Natur,
Eröffnung der Spielbank in Baden-Baden,
Cambridge siegte gegen Oxford mit zweieinhalb Längen, -
das genügt, das Gehirn zu beschäftigen.

Oh, dieses weiche Kissen, Daunen aus erster Wahl!
Auf ihm vergißt man das Ärgerliche der Welt,
jene Nachricht zum Beispiel:
Die wegen Abtreibung Angeklagte sagte zu ihrer Verteidigung:
Die Frau, Mutter von sieben Kindern, kam zu mir mit einem Säugling,
für den sie keine Windeln hatte und der
in Zeitungspapier gewickelt war.
Nun, das sind Angelegenheiten des Gerichtes, nicht unsre.
Man kann dagegen nichts tun,
wenn einer etwas härter liegt als der andere.
Und was kommen mag, unsere Enkel mögen es ausfechten.”

”Ah, du schläfst schon? Wache gut auf, mein Freund!
Schon läuft der Strom in den Umzäunungen,
und die Posten sind aufgestellt.”

Nein, schlaft nicht, während die Ordner der Welt geschäftig sind!
Seid mißtrauisch gegen ihre Macht,
die sie vorgeben für euch erwerben zu müssen!
Wacht darüber, daß eure Herzen nicht leer sind,
wenn mit der Leere eurer Herzen gerechnet wird!
Tut das Unnütze, singt die Lieder,
die man aus eurem Mund nicht erwartet!
Seid unbequem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt!

Autor: Günter Eich
1951

Quelle: http://www.mrsieb.net/sand_im_getriebe.htm

MichaL
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Beitrag von MichaL »

rabe489 hat geschrieben:
...wie soll sich ein Mensch in so ein Sprachgemetzel hineindenken
"Hineindenken"
Ja, hineindenken schrieb ich und meinte ich. Kann man, soll man?
rabe489 hat geschrieben:Ich fürchte, in der Poesie gerät das "Denken" bald an seine Grenzen.
Also einfach nur komsumieren und hoffen, dass der Autor keine Verarsche betreibt, sondern sich was dabei gedacht hat?
rabe489 hat geschrieben:Der Sprachduktus dieses Gedichtes (1. Teil) erinnert mich doch entfernt tatsächlich an Ezra Pound!
Was jetzt nicht unbedingt eine Antwort auf meine Frage ist :D
rabe489 hat geschrieben:Steht doch da: eigene Erfahrungen mit Gelsenkirchenern. Das soll nicht bedeuten, dass man in anderen deutschen Städten und besonders Ruhrpottstädten Lyrik ebenso mißachtet und ebenso mißbilligt wird als Poet.
Also eher weniger Erkenntnis, sondern Erleben. Vielleicht kennst Du die falschen Leute?

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rabe489
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Beitrag von rabe489 »

Michael_Liedtke schrieb:
Ja, hineindenken schrieb ich und meinte ich. Kann man, soll man?

rabe489 hat Folgendes geschrieben:
Ich fürchte, in der Poesie gerät das "Denken" bald an seine Grenzen.
Also einfach nur komsumieren und hoffen, dass der Autor keine Verarsche betreibt, sondern sich was dabei gedacht hat?
Um es - trotz Beuys - einmal krass und übertrieben zu sagen:

"Man sieht (erkennt!) nur mit dem Herzen gut" (St.Ex.)

DENKEN, besonders in der Form des rechnerischen Denkens, kommt in der Kunst, also auch in der Poesie, nicht sehr weit, sondern muß außen vor bleiben, kann nie ein Kunstwerk durchdringen, ist nur Hilfsmittel beim Wortkunstwerk.

Um in die Tiefe des Kunstwerkes vorzudringen, bedarf es des Gefühls, der Emotionen, der Stimmungen (Musik!)

Aber bitte auch beachten, das der letzte Rest eines Kunstwerkes auch ein Geheimnis, ein Mysterium, bleiben könnte. Gegenüber dem rationalen Denken und Erklären, kann nur die ausgebildete Empfindsamkeit in die Tiefenschichten eines Werkes vordringen (vgl. Mona Lisa).

Für's Erste... :wink:

HelmutW
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Beitrag von HelmutW »

Rabe hat geschrieben...
Aber bitte auch beachten, das der letzte Rest eines Kunstwerkes auch ein Geheimnis, ein Mysterium, bleiben könnte.
Da spricht ein Stück Antonio Tapies aus dir.....
Achtung..........
Sie verlassen gerade das Foto......
Für alle weiteren Schritte wird keine Haftung mehr
übernommen.......

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rabe489
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Beitrag von rabe489 »

Hauptsache ist, die Mystik des Werkes, wird nicht rein äußerlich und esoterisch. Welt und Kunstwerk haben eine unergründliche Tiefe gemeinsam.

jvm
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Beitrag von jvm »

HelmutW hat geschrieben:Rabe hat geschrieben...
Aber bitte auch beachten, das der letzte Rest eines Kunstwerkes auch ein Geheimnis, ein Mysterium, bleiben könnte.
Da spricht ein Stück Antonio Tapies aus dir.....

Sorry, aber im Idealfall kommt jeder für sich zu dieser hilfreichen Erkenntnis. Da brauchts keine Vordenker.
Bei aller Notwendigkeit aktueller Bezüge bleibt es doch notwendig, dem Unwirklichlichen die Treue zu halten, dem Wunderbaren...

(Eigentlich wollte ich mich in diesem Thread heraushalten).
Dennoch danke ich Rabe für seine Beharrlichkeit. Mit sanftem Biß versucht er derzeit -wie eine Katzenmutter- andere an die rechten Orte zu tragen...

HelmutW
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Beitrag von HelmutW »

jvm
Sorry, aber im Idealfall kommt jeder für sich zu dieser hilfreichen Erkenntnis. Da brauchts keine Vordenker.
Bei aller Notwendigkeit aktueller Bezüge bleibt es doch notwendig, dem Unwirklichlichen die Treue zu halten, dem Wunderbaren...
Das hast du falsch verstanden, Tapies ist bestimmt kein Vordenker, er ist ebenfalls Maler und hat sich mal in einem Interview zu seiner Kunst geäußert.
Dennoch danke ich Rabe für seine Beharrlichkeit. Mit sanftem Biß versucht er derzeit -wie eine Katzenmutter- andere an die rechten Orte zu tragen...
Dem schließe ich mich an......
Achtung..........
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übernommen.......

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rabe489
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Immerzu lernen = for ever young

Beitrag von rabe489 »

Danke jvm, für die Blumen! Vielleicht ist es ganz gut, dass Du Dich doch als Lyriker und Graphiker, also als Künstler, hier nicht raushälst. Wir alle lernen noch. Und immer.

Ich finde den Namen "Wortkunstwerk" für Lyrik ganz schön. Ein antiquarisch erworbenes Buch aus den 20er Jahren trägt diesen Titel. Ich habe es noch nicht ausgiebig studieren können.

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rabe489
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Beitrag von rabe489 »

Hier mal ein Beispiel großer Dichtung:

Friedrich Hölderlin

Brot und Wein


Rings um ruhet die Stadt; still wird die erleuchtete Gasse,
Und, mit Fackeln geschmückt, rauschen die Wagen hinweg.
Satt gehn heim von Freuden des Tags zu ruhen die Menschen,
Und Gewinn und Verlust wäget ein sinniges Haupt
Wohlzufrieden zu Haus; leer steht von Trauben und Blumen,
Und von Werken der Hand ruht der geschäftige Markt.
Aber das Saitenspiel tönt fern aus Gärten; vielleicht, daß
Dort ein Liebendes spielt oder ein einsamer Mann
Ferner Freunde gedenkt und der Jugendzeit; und die Brunnen,
Immerquillend und frisch rauschen an duftendem Beet.
Still in dämmriger Luft ertönen geläutete Glocken,
Und der Stunden gedenk rufet ein Wächter die Zahl.
Jetzt auch kommet ein Wehn und regt die Gipfel des Hains auf,
Sieh! und das Schattenbild unserer Erde, der Mond
Kommet geheim nun auch; die Schwärmerische, die Nacht kommt,
Voll mit Sternen und wohl wenig bekümmert um uns,
Glänzt die Erstaunende dort, die Fremdlingin unter den Menschen
Über Gebirgeshöhn traurig und prächtig herauf.
...

7.
...Indessen dünket mir öfters
Besser zu schlafen, wie so ohne Genossen zu sein,
So zu harren und was zu tun indes und zu sagen,
Weiß ich nicht und wozu Dichter in dürftiger Zeit? ...


Das ist nur die erste Strophe und ein Auszug aus der siebten von insgesamt neun, nachzulesen im "PROJEKT GUTENBERG", das Hunderte von Dichterinnen und Dichter Online gestellt hat, hier

http://gutenberg.spiegel.de/?id=5&xid=1 ... 2#gb_found

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rabe489
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Hölderlin fragt:Warum soll man heutzutage noch Künstler sein

Beitrag von rabe489 »

...Indessen dünket mir öfters
Besser zu schlafen, wie so ohne Genossen zu sein,
So zu harren und was zu tun indes und zu sagen,
Weiß ich nicht und wozu Dichter in dürftiger Zeit? ...


Umgangssprache heute versteht die Zeilen vielleicht so korrekt:

Oft denke ich einfach
besser ist es tot zu sein
als so ohne Freunde
oder in dieser Weise hier zu warten

ich weiß nicht
was man machen soll
und was noch zu sagen ist

also
Warum überhaupt noch Künstler sein
in diesen kaputten Zeiten?...



Rabe (mit nüchternem Magen)

Heinz
Abgemeldet

Beitrag von Heinz »

Lyrik - hartes Brot für Gelsenkirchener?
Kommt auf die Art der Verabreichung an. Wenn du z.B. ne ordentliche Reihe Poetry Slam in GE verankern könntest, wäre es ein Selbstläufer.
Die Rapper und Hopper könnte man vielleicht gewinnen.
Ich bin sicher, dass da einiges drin wäre, müsste nur gemacht werden. 8)

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blaumann
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Re: Hölderlin fragt:Warum soll man heutzutage noch Künstler

Beitrag von blaumann »

rabe489 hat geschrieben:Rabe (mit nüchternem Magen)
Ess ma wat

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rabe489
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Beitrag von rabe489 »

Dichtung als event? Nachdenkliches.

Heinz hat Folgendes geschrieben:
Kommt auf die Art der Verabreichung an. Wenn du z.B. ne ordentliche Reihe Poetry Slam in GE verankern könntest, wäre es ein Selbstläufer.
Könnte das nicht die Aufgabe des Gelsenkirchener Literaturbüros sein, sowas zu organisieren. Mal mit Marit Rullmann Kontakt aufnehmen.



Erläuterung:"Poetry Slam (deutsch: Dichterwettstreit) ist ein literarischer Vortragswettbewerb, in dem selbstgeschriebene Texte innerhalb einer bestimmten Zeit einem Publikum vorgetragen werden. Bewertet werden sowohl der Inhalt der Texte als auch die Art des Vortrags."
Als Erfinder des Poetry Slams gilt der amerikanische Performance-Poet Marc Kelly Smith aus Chicago. Smith hielt traditionelle Lesungen mit Tisch und Wasserglas für überholt und langweilig und begann 1984 damit, Literatur anders zu vermitteln.

Er entwickelte den Poetry Slam als Teil einer wöchentlichen Literaturshow. Der erste Poetry Slam fand am Sonntag, dem 20. Juli 1986 in „The Green Mill“ statt, wo der „Uptown Poetry Slam“ auch heute noch jeden Sonntag stattfindet
(Wiki)

Passt heutzutage stark in der Verhonepiepelung von kulturellen Ereignissen als "event".

Erinnere mich aber noch an die Anfänge des britischen Punks. Es gab Punkkonzerte in England, die durch Auftritte von John Cooper Clarke unterbrochen wurden, einem Dichterpoeten, der dann seine poems powerful vortrug:




Homepage von John Cooper Clarke: http://www.johncooperclarke.com/

Ich bin ja mehr von kontemplativer Art.:smile: Da müsste jemand anders ran, wie gesagt was ist eigentlich mit dem GE Literaturbüro? Und: Kann man sich vorstellen, dass Greta Granderath an so einem Ereignis teilnimmt?

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rabe489
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ARTE hat dokumentiert: Slammen aktuell

Beitrag von rabe489 »

Ergänzung: Slammen in Deutschland dazu Filmchen von ARTE zusammengestellt:

Alles zur aktuellen Poetry slam in Deutschland auf dieser ARTE WEBsite:
http://www.arte.tv/de/Willkommen/Kultur ... 77940.html

Bernd Matzkowski
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über lyrik schwitzen

Beitrag von Bernd Matzkowski »

nur mal der sachliche hinweis, dass zur zeit hunderte gelsenkirchener und -innen über lyrik schwitzen, nämlich alle die, die aufs zentralabi 09 zumarschieren(lyrik nach 45, bis etwa ende der 60er jahre). und mit ihnen tausende in ganz nrw.
zb über dies:

Ingeborg Bachmann
Gewitter der Rosen

Wohin wir uns wenden im Gewitter der Rosen,
ist die Nacht von Dornen erhellt, und der Donner
des Laubs, das so leise war in den Büschen,
folgt uns jetzt auf den Füßen

also, rabe, mach dich auf und komm morgen zwischen 10 und 12 bei mir im unterricht vorbei, grüße bernd

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