Wer weiss was über die Luthenburg ?

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Ego-Uecke
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Beitrag von Ego-Uecke »

Ich habe den Zeitungsartikel von Tekalo zur Luthenburg abgeschrieben - so gut es ging - und stelle ihn hier mal rein.

Gelsenkirchener Allgemeine Zeitung vom 19.01.1930:

Die Luthenburg
Ein verlorener, vergessener Winkel in der Industriestadt. – Die Romantik der Einsamkeit. – Ehedem ein Knabenparadies.

Wenn ich einen Fremden durch Gelsenkirchen zu führen hätte und ihm all das, was zur ureigensten Wesensart und zum Gesicht unserer Stadt gehört, zeigen sollte, alles Paradoxe und Gegensätzlichkeiten, die auf kleinstem Raum nebeneinander bestehen und die uns Gelsenkirchener immer wieder verblüffen und nachdenklich stimmen - wenn ich also einem Fremden all dieses zeigen sollte, so würde ich bestimmt nicht versäumen, ihn in jenes unbekannte Gebiet zu führen, das isoliert, fremd und einsam ganz in der Nähe einer Hochburg der Arbeit Gelsenkirchens liegt und das nur wenige kennen: Wir nennen es die Luthenburg. Dieser seltsame Name bezeichnet nicht einen begrenzten Stadtteil, und ist nicht – wenn man so sagen darf – offiziell, wird auf dem Ämtern wohl kaum genannt: Wir wissen nur, daß er einen Teil Hüllens und einen Teil Ückendorfs umfaßt und zwar sind es in unserer Vorstellung jene Teile der beiden Gemeinden, die irgendwie isoliert liegen, scheinbar mit den Gemeinden, zu denen sie gehören, gar nichts zu tun haben, eher selbst wie eine – allerdings nur kleine – Gemeinde aussehen.

Ich liebe es sehr, oft zu verschiedenen Tageszeiten durch dieses verwunschene und vergessene Gebiet zu gehen. Mir ist dann, als sei ich hinter den Kulissen einer großen Stadt, ich sehe alles anders, weniger geordnet, und doch grandios. Hinter der Fassade zeigt sich ?…?, sondern das, was wirklich ist – und das ist, wie so oft, immer interessant.

Schon der Weg, den ich gehe, um in das Gebiet einzudringen, ist seltsam und befragend. Man biegt beispielsweise in Hüllen von der Wanner Straße in die Wattenscheider Straße (heute: Ostpreußen Straße) ein, die durch die Luthenburg nach Wattenscheid führt. Einige Schritte, nachdem man die doch immerhin ziemlich belebte Wanner Straße verlassen hat, wird alles anders, ruhiger, einsamer und fremder. Man hat das Empfinden, eine Festung zu verlassen. Die Straße ist eingezwängt von Bretterzäunen, kriecht unter beängstigend vielen Unterführungen hindurch, bis sie endlich das freie Feld erreicht. An der Unterführung der Köln-Mindener-Bahn, die die fortgesetzte Folge der Brücken auf kurze Distanz vorerst abschließt, bietet sich einem der erste herrliche Blick. Wuchtig und doch leicht schwingt sich die riesige Brücke der Hochofenbahn über das Gelände. Sie ist wie ein gigantischer Viadukt, der zwei Berge verbindet. Durch die riesigen Pfeiler und Streben aus Beton und Eisen leuchten die Dächer des nahen Röhlinghausen, das klein aussieht, fast wie ein Dorf. Man möchte verstimmt darüber sein, daß diese Brücke hier so außerhalb, so abseits liegt, daß man fast nichts von ihr weiß.

Geradezu überwältigend ist die Aussicht hier am Abend oder in einer hellen Nacht. Durch die dunkle Silhouette des Brückenkörpers schimmern ganz fern, ganz unwirklich, kleine Lichter. Dies Ganze könnte irgendwo weit draußen sein, irgendwo in einer Landschaft, die mit der unsrigen nichts zu tun hat. Es ist ein Bild, das man immer mit einer gewissen Erschütterung sieht, ein Bild, das beweist, daß unsere Stadt, wenn man ihr auch alle Schönheit glatt abzusprechen versucht, doch noch ungeahnte Schönheiten und leidenschaftliche Reize aufzuweisen hat.

Überhaupt die Abende in der Luthenburg. Jeder, der ihren Zauber einmal erlebt hat, wird sich immer gern ihrer erinnern, wird sie immer wieder zu erleben wünschen. Gerade das Gegensätzliche, das man hier sieht und spürt, macht den Reiz der Stimmung aus. Es ist, als begegneten sich hier fremde Welten. Man steht beispielsweise auf einem der einsamen und stillen Wege, die durch den „Aschenbruch“ führen und schaut nach Nordwesten. Mit einem Blick erfaßt man ein Bild, wie man es in seiner wilden und romantischen Schönheit nicht oft sieht. Schornsteine vermengt mit Eisenmasten, Betonbrücken, Winderhitzer, Oefen, Kräne, Hallen, Gasbehälter, Rohre, alles getaucht in die lodernde Helle der Hochofenglut. Es ist wie ein Blick in Hephaistos Werkstatt, dekorativ, aber hier scheint er düster in seiner schweigsamen Unnahbarkeit, verloren und unwirklich. Er steht hier sozusagen als trauernder Rest einer fast vergessenen alten Zeit.

Man steht hier einsam und still und erschüttert, sieht dies ungeheure, flammende, brausende und zischende Leben, das nie stillsteht und ruht und man hat das Empfinden, hinter den Kulissen einer ganzen, großen, überwältigenden Industrie und einer Stadt zu stehen und schärfer, genauer und deutlicher alles zu sehen, als sich uns allen von vorn zeigt. Man empfindet: Von hier aus muß man alles gesehen haben, um zu schätzen, bewundern und lieben zu können.

Das Sonderbare, Unerklärliche und Verwirrende, daß diese Landschaft so interessant macht, empfindet man aber, wenn man sich aus der Betrachtung dieses lärmenden Lebens loslöst und nur eine Drehung auf dem Absatz macht und das sieht, was vorher hinter einem lag. Das, was man jetzt schaut, hat nicht, aber auch gar nichts mit dem zu tun, was man vorher sah. Vor einem liegt weite und schweigende Einsamkeit, die fast deprimierend wirkt, wie eine fremde, unbekannte und dunkle Gegend, in die man plötzlich und unvermittelt hinein versetzt wurde. Nichts ist da, was das Auge ablenkt: eine geheimnisvolle Fläche, die leer und tot und öde scheint und die begrenzt von Dämonen, hinter denen das große Nichts zu beginnen scheint. Da ganz hinten, dem Auge bei der Dunkelheit kaum erkennbar, liegt ein dunkles und gespenstisches Etwas, von dem wir wissen, daß es ein Bauernhof ist. Ein solcher Bauernhof wirkt in anderen Gegenden sicher gewichtig und dekorativ.

Das Gesicht der Luthenburg verändert sich immer mehr. Vielleicht wird hier alles lauter, aber doch nicht menschenbelebter. Es bleibt doch immer einsam und fremd. Wie lange es noch dauern wird, ist nicht sagen. Wer nach langer Zeit einmal wieder dorthin kommt, sieht, daß vieles anders geworden ist, verwandelt ist die Luthenburg aber nicht. Da ist beispielsweise die Kokerei der Zeche Alma, die der ganzen Landschaft ein neues Gepräge gibt. Alte Häuser versachwanden, statt dessen kamen riesige Kamine und Rohre, die sich zu einem massigen und wuchtigen Komplex zusammen fanden. Die Schlammteiche an der Straße, die auch noch nicht sehr lange da sind, sehen geordnet aus. Man sieht jedenfalls, daß auch in der Luthenburg selbst gearbeitet wird, daß man nicht nur von hier aus Arbeit sieht.

Als eine Sehenswürdigkeit gelten die brennenden Fackeln, die in dunklen Nächten hier alles im Hellen tauchen. Wenn sie ganz stark brennen, sieht man die Flammen sehr, sehr weit. Es ist ein unbeschreiblich schöner Anblick. Für viele, die vielleicht und ganz zufällig sich heute noch einmal in diese Gegend verlaufen, weckt sie eine ungeheure Fülle von Jugend-Erinnerungen. Hier in der unübersehbaren Weite der Felder und Koksberge strich man damals – lang, lang ist’s her – fröhlich herum, spielte Indianer oder Räuber, focht erbitterte Kämpfe aus und tat überhaupt so mancherlei, was Jungen in der Enge der Straßen einer Stadt nicht tun können.

Sicher, das Gesicht der Luthenburg war damals noch ganz anders, weniger geordnet. Das Wasser der Möllenbecke war nicht so schwarz und dreckig, es waren sogar Fische darin, die man stundenlang zu fangen bemüht war. Es waren noch Teiche und Sümpfe da, die uns fast undurchdringlich schienen. Man konnte noch frei baden, was man sonst in Gelsenkirchen mehr tun konnte – man war einfach frei und störte keinen. Darum war die Luthenburg immer die Gegend gewesen, in der sich die Hüller, die Ückendorfer und auch die Bulmker zum fröhlichen Spiel und Ausgelassenheit zusammenfanden.

Später, als dann die Sümpfe schwanden, als das Wasser der Möllenbecke schwärzer und schwärzer wurde, da waren der Gegend schon viele Reize genommen. Man ging zwar noch oft hin, aber es war nicht mehr so romantisch, wie es vorher war. Ich erinnere mich noch, wie wir oft in Gruppen zusammen saßen und mit Erschauern von Räubern uns erzählten, die hier ihr Unwesen treiben sollten. In einer Brücke, die unter Straße und Bahndamm hindurch führte und die wie eine schauerliche Höhle aussah, sollten Knochen gefunden worden sein und als Menschenknochen vermutet werden. Erst viel, viel später fanden einige von uns den Mut, in diese Höhle einzudringen, ohne natürlich etwas gefunden zu haben.

Viel Leben sah die Luthenburg während der Kriegsjahre. Man hatte nämlich herausgefunden, daß der der Schlamm der Möllenbecke gut heizte, sich also als vorzüglicher Ersatz für die teure Kohle eigne. Wahre Karawanen von Händlern holperten nun lange Zeit über die sonst so stillen – und immer schlechten – Straßen der Luthenburg. Kinder und Frauen buddelten in dem schwarzen Ge-wässer herum. Später wurde es aber wieder still. Und so ist eigentlich geblieben bis heute. Man hat die Luthenburg vergessen, man weiß nichts von ihr und ihren Schönheiten. Sie ist immer Stiefkind geblieben.

Wer aber Gelsenkirchen und die Schönheiten der Industrie liebt, wird immer zu dieser Gegend, die isoliert, still, einsam, fremd und verloren am Rande unserer Stadt liegt, zurückfinden.

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Ego-Uecke
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Beitrag von Ego-Uecke »

Hier eine Karte mit "Burgen und Schlösser in GE", Luthenburg als Wallburg eingezeichnet.

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Und ein Katasterplan von damals mit Straßen, die es heute nicht mehr gibt, Reginenweg, Turmstr., Luthenburger Str.

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Wespe
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Beitrag von Wespe »

ich habe da auch noch was gefunden:
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Bild

aus : Dokumentation von Werkssiedlungen in GE von Beginn der Industriealisierung bis 1933
Herausgeber: Stadt GE 1980

GELSENZENTRUM
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"Zigeunerlager Reginenstraße"

Beitrag von GELSENZENTRUM »

Heinz hat geschrieben:Kannst du mehr über das Zigeunerlager erzählen?

Liest du bitte hier:

http://www.gelsenkirchener-geschichten. ... =7727#7727

pito
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Beitrag von pito »

Bild

Es wirkt ein wenig, als habe sich der Knick der Ückendorfer Straße seitdem verschoben. Aber vermutlich ist die gezeichnete Karte ein wenig ungenau. Damals hatten sie ja noch keine Satelitenbilder.

Gast
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Beitrag von Gast »

@pito

Deine Zeitschichten sind hier ein absolutes Highlight.

:respekt: :rate10:

Weiter so!

Gruß

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Ego-Uecke
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Beitrag von Ego-Uecke »

@pito: An dem Lehrgang oder Seminar zur Erstellung solcher Zeitschichten würde ich gerne teilnehmen. Ich habe mich da auch schon mit Adobe Photoshop versucht, ohne Erfolg.

Heinz
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Beitrag von Heinz »

@Ego-Ücke

Ich habe den von dir transkribierten Artikel gerade in Ruhe gelesen, ich kann mich in die Zeit beim lesen versetzen, habe als Kind dort auch gespielt.

Bild

Heinz
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Hundetraining auf dem Kaiserhof

Beitrag von Heinz »

Wir müssten mal hier aufräumen und die Themen auseinander dröseln.
Bis dahin:

Hundeschule heute auf dem Gelände des Hotels Kaiserhof .. in der Nähe der Luthenburg.. falls es sie gab.. :wink:

Bild

GELSENZENTRUM
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Beitrag von GELSENZENTRUM »

Ego-Uecke hat geschrieben:@pito: An dem Lehrgang oder Seminar zur Erstellung solcher Zeitschichten würde ich gerne teilnehmen. Ich habe mich da auch schon mit Adobe Photoshop versucht, ohne Erfolg.
pito hat geschrieben: Ach, das ist nicht weiter schwierig. Du importierst die beiden Bilder in Flash und legst sie auf zwei Ebenen übereinander. Die obere wird maskiert. Die Maske hat das Skript: Code:
onClipEvent (enterFrame) {
_width = _root._xmouse;
}

Et voila!
hab' s leider bisher auch nicht hinbekommen...:cry:

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Tekalo
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Re: Hundetraining auf dem Kaiserhof

Beitrag von Tekalo »

Heinz hat geschrieben:Wir müssten mal hier aufräumen und die Themen auseinander dröseln.
Bis dahin:

Hundeschule heute auf dem Gelände des Hotels Kaiserhof .. in der Nähe der Luthenburg.. falls es sie gab.. :wink:
Das ist aber ein ganzes Stück weit weg!!!!!

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Neustädter
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Beitrag von Neustädter »

Wespe hat geschrieben:ich habe da auch noch was gefunden:
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aus : Dokumentation von Werkssiedlungen in GE von Beginn der Industriealisierung bis 1933
Herausgeber: Stadt GE 1980
Auf der Karte erscheint häufig die Abkürzung "Zgl.". Weiß jemand, was das bedeutet?
Mir ist nur die Ziegelei eingefallen, aber waren zu dem Zeitpunkt denn so viele Ziegeleien hier in Gelsenkirchen?

jvm
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Beitrag von jvm »

Könnte "Zgl." nicht auch "Zuggleise" oder "Zuglinie" bedeuten? Weil immer so etwas daneben scheint.

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Gartenfreund
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Beitrag von Gartenfreund »

hier der Scan einer Kartenabzeichnung von Gelsenkirchen im Jahr 1823. Einwohner damals 1800!
Unter dem Wort Hüllen steht:
Flur II gnt. Luthenburg
Das Böse ist immer und überall

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Gartenfreund
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Beitrag von Gartenfreund »

Bild

war etwas zu groß, die Datei, musste sie deshalb erst noch reduzieren.
Das Böse ist immer und überall

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