Ein "Emigrant" sieht die Stadt

Hier wird monatlich oder öfter ein Gastkommentar zum Thema "meine Stadt" veröffentlicht. Was immer euch bewegt, stört, erfreut beim und am Zusammen-Leben in dieser Stadt kann hier kommentiert werden

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kanibalo
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Ein "Emigrant" sieht die Stadt

Beitrag von kanibalo »

Gelsenkirchen – Stadt der tausend Feuer

Als Kind hatte ich immer Fernweh. Wenn andere Kinder während der Stadtranderholung (Ferien im Sauerland oder Münstereifel) Heimweh hatten, fürchtete ich die Rückfahrt hinunter in den stinkenden Kessel, den man Ruhrpott nennt, und zu den Stahl- und Chemiefabriken, deren Ausdünstungen im Sommer die Straßen zum Glitzern und bei Regen zum Schäumen brachten. Schon von weitem konnte man erkennen, welchen Staub und Rauch die tausend Feuer der Stadt produzierten.

Oft stand ich an Bahngleisen und träumte von anderen Landschaften, Wäldern oder dem Meer, und einer Luft, die man gerne einatmet.

Hier in Hamburg, wo ich seit 23 Jahren wohne, kenne ich einige Ruhrpottler, die pflegen so etwas, was man Industrieromantik nennen könnte, das habe ich nie verstanden. Ich konnte mich weder mit der grau-grünen Landschaft noch mit den Ölteppichen auf dem Rhein Herne Kanal anfreunden und auch die nach oben offene Beton-Röhre für chemische Abfallstoffe, die man Emscher nennt und die um 1900 noch ein Flüsschen war, bot mir keinen Anlass für romantische Gefühle.

Ich hatte nicht unbedingt eine schlechte Kindheit: meine Eltern, etwas überfordert mit sieben Bälgern, ließen uns laufen und dort spielen, wo wir wollten – waren froh, wenn wir nicht alle auf 30 qm Wohnküche und Wohnzimmer herumtobten. Und da Umweltbewusstsein in den sechziger Jahren noch kein Thema war, genossen wir die Freiheit, auf wilden Müllkippen diverse Chemikalien und Farbreste sowie Haarspray-Flaschen zu mixen und in die Luft zu jagen oder auf brach liegenden Flächen unterirdische Höhlen zu bauen. Auch Hochspannungsmasten besteigen bis zum ersten Flügel und von dort den Weitblick genießen sind Erlebnisse, an die ich mich gern erinnere.

In meiner Jugend hatte ich das Glück, nicht in dem stets gewaltbereiten Milieu meiner Wohngegend, in dem Schlägereien, Rassismus und Sexismus zum Alltag gehörten, zu versacken, da ich ein paar Jungens aus der kommunistischen Bewegung kennen lernte, die mir Politik, Kunst und Literatur näher brachten. Eine aufregende Zeit, mit Demos gegen Aufrüstung und Fahrpreiserhöhungen der BOGESTRA, Nazis verprügeln, sozialistischen Ferien am Meer und in den Urwäldern der DDR, wo ich wieder kein Heimweh hatte, und Drogen und natürlich Musik.

Es gab damals ja nicht viele oder eigentlich gar keine Konzerthallen in Gelsenkirchen, wenn man mal absieht vom Musiktheater oder Hans-Sachs-Haus, und die Pop-Konzerte, die in den Schulen stattfanden, wurden nach einiger Zeit von der alten Tante SPD mit ewiger Regierungs-Garantie verboten, weil angeblich in den dunklen Fluren gevögelt und im psychedelischen Lichtkegel LSD genommen wurde.
Wenn man also was erleben wollte, musste man schon nach Dortmund oder Essen, und da es damals keine Nachtbusse oder -züge gab, musste man jemand kennen, der ein Auto besaß und noch nicht überfüllt war.

In den wenigen Diskotheken, die es damals gab, hingen entweder lauter Prolls rum, die irgendwelche Steine suchten, über die sie stolpern konnten und die ihnen einen Grund gaben, sich zu prügeln, oder aber Kleinbürger, deren weibliche Vertreterinnen züchtig auf ihren Stühlen hockten und darauf warteten, dass man sie auf ein Eierflip einlud oder zum Tanz aufforderte.

Nach meinem Abitur habe ich Gelsenkirchen verlassen und bin für einige Jahre in Amsterdam heimisch geworden. Dies war keine bewusste Entscheidung, sondern eher Zufall, weil ich mich in eine Frau verliebte, die dort wohnte. In all den Jahren habe ich wiederum kein einziges Mal Heimweh nach Gelsenkirchen gehabt. Jedes Mal wenn ich meine Familie besuchte, sie lebten und leben alle noch dort, wurde ich leicht deprimiert und hielt es nicht besonders lange aus.Seit einigen Jahren besuche ich meine Familie in Gelsenkirchen wieder öfter als früher. Das hat aber nichts mit der Stadt zu tun, sondern mit einem verbesserten Verhältnis zu meinen Geschwistern. Meine Wahl-Heimat ist seit Jahren Hamburg, und immer wenn ich verreise, fühle ich nach einer Weile das, was ich in meiner Kindheit und Jugend nicht kannte, nämlich Heimweh.

Wenn ich wenigstens Schalke-Fan wäre, dann könnte ich noch den Lokalpatriotismus von Peter Lohmeyer teilen und seine Bewunderung für das tolle Blau von Yves Klein im Musiktheater, aber ich bin St. Pauli-Fan und der monochrome Formalismus interessiert mich nicht. Auch Tollmann oder Glasmeier, die Besetzer der Kunst im öffentlichen Raum Gelsenkirchens, gehen mir am Allerwertesten vorbei.

Aber bei allem Abstand zu dieser Stadt, die so lange meine Heimat war, gibt es auch etwas, was mich immer noch mit ihr verbindet: Meine Symphatie für den ruhrpotttypischen Dialekt zum Beispiel, den ich zwar selbst nicht mehr pflege, der aber immer wie Musik in meinen Ohren klingt. Dieses Aneinanderreihen von Wörtern, bis selbst ein ganzer Satz klingt wie ein einziges Wort ist etwas, das ich von nirgends anders kenne. Manches klingt sogar eher Arabisch als Deutsch, wie in diesem Satz: Hatta Vatta ma Zeit, Achmed?

Auch ist mir die direkte und offene Art der Ruhrpottler näher als die etwas verhaltene und mundfaule Art der typischen Hamburger. Und ich habe von früheren Bekannten, die noch immer in Gelsenkirchen leben, gehört, dass das kulturelle Angebot für die Jugend besser geworden ist. Bei meinen Besuchen in den letzten Jahren stellte ich eine deutliche Luftverbesserung fest und die Presse, selbst hier im Norden, berichtet, dass die Emscher renaturalisiert wird. Das lässt hoffen....

pito
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Beitrag von pito »

Ehrlich und ohne jede falsche Romantik. :up:

Die ganz harten Zeiten, als Straßen schäumten und Kohlenstaub zwischen Buchseiten knisterte, habe ich aufgrund meiner späten Geburt zwar nicht mehr erlebt und als Kind in Gelsenkirchen eigentlich auch nichts vermisst. Dass es jedoch auch andere Landschaften gibt und andere Arten von Stadt, das habe ich früh mitbekommen. Bei der Ankunft auf dem heißen, müffelnden Gelsenkirchener Hauptbahnhof nach drei Sommer-Wochen Wiese, Wald und stillen Nächten kam doch am Rande der Gedanke auf: Wieder hierhin? Weiter wie bisher? Gibt es nichts anderes? Das verflog aber immer, sobald man sich wieder in die Vertrautheit und Zuverlässigkeit der bekannten Dinge eingelebt hatte.

Heute weggehen? Vielleicht mal probieren, aber keinesfalls für immer.

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Chronistin66
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Beitrag von Chronistin66 »

Der Text erinnert mich an die Erfahrungen meines Schulfreundes, der jetzt in einem kleinen Kaff in Nordfriesland lebt.

Gerade die Passage über unsere Offenherzigkeit erinnert mich daran. Immer, wenn er mal hier ist, dann genießt er es. Er will immer mit mir bei Jansen eine Currywurst/Pommes essen gehen. :shock:

Er sieht GE aus einer ganz anderen Sicht und ist über Dinge erstaunt, die wir gar nicht mehr beachten oder wahrnehmen.

Eine andere Freundin, die seit Jahren in London lebt, geht es ähnlich. Es macht Spaß mit diesen "Emigranten" die Stadt zu entdecken.

Besagte Freundin aus London sagte kürzlich: "Ihr habt jetzt auch subway! Das ist ja wie bei uns zu Hause." :wink:

Zurück wollen wohl beide nicht.:?

Bei mir ist das anders. Ich habe immer Fernweh, aber ich könnte mir nicht vorstellen dieser Stadt komplett den Rücken zu kehren.
Ich habe es aber auch nie versucht.:oops:

Doro

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rapor
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Beitrag von rapor »

Das Gefühl, bei der Rückfahrt aus Ferien oder von Montage in eine dunkle Kuppel/Glocke einzutauchen, kenne ich auch noch.
Schön, daß es sich mittlerweile doch gebessert hat. Früher durfte ich mir im "Ausland" = Bayern anhören, daß im Kohlenpott die Vögel husten und dann tot vom Himmel fallen und es sowieso nur Schwarzdrosseln gäbe. :shock:
Heute stinkt es im Winter nur noch von der Flöz Dickebank-Siedlung her wie in den Fiffties oder in der DDR. Na ja und jede Menge Dreck knallen die auch noch raus, schade eigentlich.
Ansonsten denke ich oft, wenn ich auf der Himmelstreppe stehe, ich wohne im Wald. So viele Bäume! Klasse.

Kannibalo, Du hast ja anscheinend doch etwas fußballerisch korrektes Erbgut mitbekommen :lol: Pauli ist ein toller Verein!
Signaturen lesen ist Zeitverschwendung!

DThamm
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Beitrag von DThamm »

kanibalo schrieb Folgendes:
In meiner Jugend hatte ich das Glück, nicht in dem stets gewaltbereiten Milieu meiner Wohngegend, in dem Schlägereien, Rassismus und Sexismus zum Alltag gehörten, zu versacken, da ich ein paar Jungens aus der kommunistischen Bewegung kennen lernte, die mir Politik, Kunst und Literatur näher brachten. Eine aufregende Zeit, mit Demos gegen Aufrüstung und Fahrpreiserhöhungen der BOGESTRA, Nazis verprügeln, sozialistischen Ferien am Meer und in den Urwäldern der DDR, wo ich wieder kein Heimweh hatte, und Drogen und natürlich Musik.
Die DDR muss für dich ja ein Traumland gewesen sein.
Prima von Demos, Fahrpreiserhöhungen und Nazis verprügeln, Drogen und Heimweh,schnell mal sozialistische Ferien in den Urwäldern der DDR machen.
Einfach toll!
Ein paar Bilder aus den Urwäldern der DDR zur näheren Erläuterung.
Häuserkampf-Objekt diente zur Ausbildung von Terrorbanden gegen den Westen.
Bild
Bild
Bild
Im Gelände des ehemaligen Wachregiments und Außenlager Adlershof.
Bild
Bild
Urwald zum Wohlfühlen.

DThamm
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Beitrag von DThamm »

Ergänzung:
kanibalo schrieb Folgendes:
In den wenigen Diskotheken, die es damals gab, hingen entweder lauter Prolls rum, die irgendwelche Steine suchten, über die sie stolpern konnten und die ihnen einen Grund gaben, sich zu prügeln, oder aber Kleinbürger, deren weibliche Vertreterinnen züchtig auf ihren Stühlen hockten und darauf warteten, dass man sie auf ein Eierflip einlud oder zum Tanz aufforderte.
Der schwarze Kanal, Eduard Schnitzler lässt grüßen.
Dein Bild von Gelsenkirchen, welches du aufzeichnest hast du doch selbst nicht gesehen.
warum schreibst du so?
Freilich haben wir keine Kulturpaläste und Tracktoristentreffen gehabt, dein Müll stimmt von vorne bis hinten nicht.
Mich wundert nur, dass sich die Gelsenkirchener diese Deformierungen gefallen lassen und pito noch den Daumen hebt und sagt:
Ehrlich und ohne jede falsche Romantik. :down:

matz
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Registriert: 02.01.2008, 15:07

Beitrag von matz »

Er hat In Gelsenkirchen gelebt (und Ferien in der DDR gemacht). Wieso soll er das so nicht erlebt haben? Kann mir nicht vorstellen, dass es in den End-60ern viele Discotheken in GE gab. Und dass es öfter mal rauh zu ging, kann ich zumindest für S04-Spieltage in den 70ern bestätigen...
Zuletzt geändert von matz am 04.05.2009, 13:53, insgesamt 1-mal geändert.

DThamm
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Beitrag von DThamm »

Weil es nicht so war!

matz
Beiträge: 1095
Registriert: 02.01.2008, 15:07

Beitrag von matz »

jeder empfindet die Wirklichkeit halt anders

DThamm
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Beitrag von DThamm »

@matz,
tu mir einen Gefallen, mach dich ein wenig schlau, über Ost und West.
Jegliche Musik die im Westen gespielt wurde, war für die östlichen Machthaber, nur ein jäh, jäh, jäh. Discothek war in der DDR ein Fremdwort, welches vom kapitalistisch, imperalistischen Ausland, die Arbeiter und Bauernmacht zu unterwandern versucht.

HelmutW
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Registriert: 18.02.2008, 21:13

Beitrag von HelmutW »

DThamm....
bis auf Ausnahmen.....es gab Sänger/innen, die durchaus Konzerte in der DDR geben durften....
Achtung..........
Sie verlassen gerade das Foto......
Für alle weiteren Schritte wird keine Haftung mehr
übernommen.......

DThamm
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Beitrag von DThamm »

Jau, Heino.

matz
Beiträge: 1095
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Beitrag von matz »

DThamm hat geschrieben:@matz,
tu mir einen Gefallen, mach dich ein wenig schlau, über Ost und West.
Jegliche Musik die im Westen gespielt wurde, war für die östlichen Machthaber, nur ein jäh, jäh, jäh. Discothek war in der DDR ein Fremdwort, welches vom kapitalistisch, imperalistischen Ausland, die Arbeiter und Bauernmacht zu unterwandern versucht.
danke, arbeite seit 15 Jahren im Osten und bin mit dem ehemaligen System und den Menschen bestens vertraut. Habe ich etwas falsch verstanden? Es ging doch um seine Jugend in GE. Dass er ein paar kommunistische Freunde hatte und in die DDR fuhr, ist für mich eigentlich nur ein Randaspekt seiner Erinnerungen. Was stört dich denn mehr? Dass er seine Kindheit in GE als wenig beglückend empfand oder dass er sich unkritisch gegenüber der DDR äußert.

Fairerweise sollte er allerdings sagen, dass eine Kindheit in den 60ern in den entsprechenden Vierteln in Hamburg kaum anders verlaufen wäre.

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Emscherbruch
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Langsamer lesen!

Beitrag von Emscherbruch »

Leute, lest noch einmal "l a n g s a m" die betreffende Passage nach, bevor ihr euch über falsche Darstellungen der DDR kloppt:
Eine aufregende Zeit,
- mit Demos gegen Aufrüstung und Fahrpreiserhöhungen der BOGESTRA,
- Nazis verprügeln,
- sozialistischen Ferien am Meer und in den Urwäldern der DDR, wo ich wieder kein Heimweh hatte
- und Drogen
- und natürlich Musik.
Das ist eine ganze Latte an Jugenderinnerungen, die in einer Auflistung stehen und sich nicht auf eine Einschätzung der Verhältnisse in der DDR beziehen! :roll:
Zuletzt geändert von Emscherbruch am 04.05.2009, 14:27, insgesamt 2-mal geändert.
Stell dir vor, es geht und keiner kriegt's hin.

Heinz
Abgemeldet

Beitrag von Heinz »

@DThamm
du solltest einen Sinn-Suchenden Jugendlichen weder mit Eduard Schnitzler, noch mit einem hauptamtlichen DKP oder SDAJ Funktionär verwechseln. In weiten Teilen hat Karlo die Wahrnehmung vieler Jugendlicher getroffen. Wie ich aus sicherer Quelle weiß, war das Gewaltpotenzial unter Jugendlichen z.B. im Sauerland aber auch ziemlich hoch, vielleicht noch höher.

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