Mit ihrer Genehmigung veröffentliche ich hier den Brief, den Helmut und Sonja Niemeier an die Regierungspräsidentin geschickt haben:
14.1.2021
Zentraldeponie Emscherbruch
Sehr geehrte Frau Regierungspräsidentin,
eben lese ich im Stadtspiegel Gelsenkirchen-Buer vom 13.1.2021, dass die Bezirksregierung „die Zulassung des vorzeitigen Beginns für die Erweiterung der Deponie versandt“ hat. Nichteinmal die Städte scheinen informiert worden zu sein. Damit bestätigt sich der Eindruck, der sich schon während der skandalösen Gestaltung der Erörterung über den Erweiterungsantrag der AGR am 20.8.2020 unabweisbar einstellte: Die Bezirksregierung als die für die Prüfung und Genehmigung zuständige Behörde gewichtet die Sorgen und Einwände der Betroffenen gering, legt sie quasi zu den Akten bzw. - drastischer formuliert – fegt sie vom Tisch. Die fünfzigjährige Leidensgeschichte zählt nicht, erst recht nicht die Schließungsversprechen der Betreiberin und der Politik vor früheren Erweiterungsverfahren. Das Ziel ist offenkundig: Es sollen unbedingt und schnellstmöglich Tatsachen geschaffen werden, um ausgerechnet in einer der am stärksten in Mitleidenschaft gezogenen Regionen Deutschlands weiterhin eine technisch veraltete zentrale Giftmüllkippe betreiben und die Deponierungsfläche noch einmal vergrößern zu können.
Die öffentliche Agenda lautet zwar seit Jahrzehnten „Verbesserung der Lebensqualität in der Emscherregion durch Rückbau und Milderung der hier besonders zahlreichen brutalen Akte von Umweltzerstörung in der industriellen Vergangenheit“, zugleich aber soll in einem neuen brutalen Akt das Herkarren und Aufschütten von Abfallbergen verstärkt und damit genau das unterlaufen werden, was angeblich höchste Priorität besitzt: die Emscherstädte aus ihrem Aschenputteldasein herauszuführen.
Dass die ZDE mitten in einem der wenigen noch vorhandenen ökologisch wertvollen Räume liegt, bleibt ignoriert. Dass keine Stadt des RVR so wenig Wald wie Gelsenkirchen besitzt, hindert nicht, die Bäume des 3,4 ha umfassenden Restwaldes sofort abholzen zu lassen und wie zum Hohn hinzufügen, dass „diese nach Verfüllungder Deponie wieder aufgeforstet werden“ müssen, also frühestens in 10 oder 15 Jahren. Dass die politischen Gremien der Städte eindeutig gegen die erneute Verlängerung der Betriebsgenehmigung votierten, ist ohne Belang, weil angeblich „ein öffentliches Interesse gegeben“ ist, das übergeordnet sei: ein „dringender Bedarf zur Schaffung neuer Deponiekapazitäten“. Das ist unglaubwürdig, wenn man sich etwa die Modellrechnungen des LANUV anschaut. Ein solches Argument verbietet sich überdies ohnehin, um einer im Vergleich zu anderen viel stärker belasteten Region erneut Zusatzlasten aufzubürden, während andere Kreise traditionell jegliche Ausweisung eigener Deponiebereiche verweigern.
Die von der AGR vorgelegten Gutachten und der Umgang der Bezirksregierung mit diesen Gutachten haben große Zweifel an der kritischen und unabhängigen Überprüfung aufkommenlassen. Das Unterbinden einer sorgfältigen Erörterung der gravierenden Problematiken und unterschiedlichen Positionen signalisierte bereits am 20.8.2020 vorauseilenden Gehorsam. Dieser Verlust an Glaubwürdigkeit hat auch eine politische Dimension. Wenn jetzt wiederum so getan wird, als bestünden keine Beeinträchtigungen oder gar nicht einmal Risiken und als habe es keine klar umrissenen Schließungsperspektiven gegeben, wenn ein weiteres Mal über die Köpfe der Bürger/innen und ihrer politischen Vertretungen hinweggegangen wird, dann wird die Vertrauenseinbuße, die sich schon länger in den Wahlergebnissen (mitsamt den hohen Wahlverweigerungsquoten) niederschlägt, noch weit größere Ausmaße annehmen. Das mag im Augenblick aus bürokratischer Routine vernachlässigbar erscheinen, sofern nur das leidige Genehmigungsverfahren positiv beschieden und abgeschlossen werden kann, doch ist bereits zu viel Negatives geschehen, als dass der Komplex nicht auf die Füße der jeweiligen Verantwortungsträger/innen zurückfallen dürfte. Das Versagen der Umweltabteilung der Bezirksregierung Münster in Sachen Aufsichtspflichten ist ja nicht nur im Falle der ZDE eklatant (man denke nur an die Akzeptanz der Deklarierung und Lagerung der Ölrückstände aus Wesseling), sondern auch in Bottrop, Schermbeck und anderswo.
Frau Feller, ich erinnere mich gerne an Ihren Anruf nach meiner Skizzierung der desaströsen „Erörterung“ vom 20.8., denn ich habe ihn als ehrliches Bemühen um eine bessere Pflege der demokratischen Kultur gewertet. Dennoch war natürlich auffällig, dass neben einer milden Kritik, dass „da einiges unglücklich gelaufen“ sei, der gewichtigere Akzent von Ihnen darauf gelegt wurde, dass die Bürgerinitiative „Uns stinkt's“ andauernd die Regeln verletze. Das kammir angesichts des außerordentlich diszipliniert-sachlichen Auftretens des BI-Führungsteams wie „ein falscher Film“ vor, zumal wenn man sich vor Augen führt, um was es für diese Menschen geht und wie sie sich mit ihren seit Jahren vorgetragenen Klagen und Bitten missachtet fühlen müssen. Nun lese ich, dass die vorzeitige Erweiterung auch noch damit begründet wird, dass „sich das Planfeststellungsverfahren verzögert hat“, also im Klartext: Obwohl bekanntermaßen auf Grund ihres Terminfehlers ausschließlich die Umweltabteilung der Bezirksregierung verantwortlich ist, wird selbst dieser (im Übrigen kleine) Verzug vorgeschützt, um vollendete Tatsachen zu Lasten der Betroffenen sowie der Städte und ihrer politischen Gremien zu schaffen, als seien sie selbst die Verursacher. Ich kann das als jemand,der sich beruflich mit Politikwissenschaft befasst hat, nur als Missbrauch struktureller Gewalt bezeichnen. Sie werden es mir wohl übelnehmen, aber ich kann keinen besseren Begriff dafürfinden. Das rücksichtslose Durchboxen der nochmaligen ZDE-Erweiterung unter Missachtungder Belange und Sorgen von ca. 3000 in unmittelbarer Nähe der Halde wohnenden Menschen,überhaupt der Bevölkerungen und Gremien in den betroffenen Städten Gelsenkirchen, Herne und Herten sowie des dringenden Gebots und der bereits ausgesprochenen Zusagen einer spürbaren Verbesserung der Zukunftsperspektiven für den gesamten Emscherraum ist gerade in diesen Zeiten, in denen zunehmend die Folgen unmoralischen Handelns zu Tage treten, als unmoralisch zu brandmarken. Lesen Sie dazu Markus Gabriel, Moralischer Fortschritt in schwierigen Zeiten. Universale Werte für das 21. Jahrhundert, Berlin 2020, der nachdrücklichdeutlich macht, wie dringend es ist, nicht (!) im bisherigen Stile weiter zu agieren, d.h. nur den Blick auf den momentanen „Vorteil“ gerichtet. Bitte schauen Sie sich vor allem das Wirken Ihrer Umweltabteilung viel genauer und kritischer an und lassen Sie nicht zu, dass dieschwächste und abgehängteste Region weiterhin den Giftmüll aus allen möglichen Regionen aufnehmen muss. Nach einem halben Jahrhundert muss Schluss damit sein, selbst wenn es derAGR, absurderweise ein Tochterunternehmen der öffentlich-rechtlichen Körperschaft RVR, nicht gefällt, weil es doch bequemer und finanziell einträglicher ist, den alten Trott bloß fortzusetzen.
Es schmerzt und macht zornig, sich erneut mit dem „Argument“ abgespeist zu wissen, dass nur im südlichsten Zipfel des großen Regierungsbezirkes Münster neue Deponiekapazitäten geschaffen werden können, oder täglich zu sehen, wie -zig Schwerlaster aus Borken, Wesel, Wuppertal, Hochsauerlandkreis, Krefeld usw. Abfall hierher bringen und damit die hiesige Landschaft noch weiter verunstaltet und zerstört wird. Die WAZ Gelsenkirchen berichtet in ihrer Ausgabe vom 14.1.2021 (heute) wieder, wie wichtig die Forstgebiete des RVR (u.a. ist der Emscherbruchwald genannt) gerade während der Pandemie und der damit verbundenen Schließung des öffentlichen Lebens sind. Es wird eine Wald-Bilanz von Experten der FakultätRessourcenmanagement der Universität Göttingen angeführt, nach der die Erholungsleistung für die Öffentlichkeit, die sog. „soziale Funktion“ des Waldes, allein rund zwei Drittel der Gesamtbilanz ausmacht, wichtiger noch als die für Artenschutz, Biodiversität usw. Sie aber sprechen die Genehmigung aus, hier noch mehr Wald und Landschaft mit Giftabfallbergen zuüberschütten, als wären wir Menschen minderen Rechts. Müsste der Weg nicht genau anders herum gewählt werden? Radikale Reduzierung der gedankenlosen Abfallflut, radikaler Rückbau schädlicher Umweltrelikte (insbesondere in Ballungsgebieten mit wenig Wald) und radikaler Schutz von Umwelt und Natur sollten doch Prioritäten sein. Dass es dazu kommt, liegt sicher nur zu einem kleinen Teil in Ihrer Hand. Aber so bereitwillig einem Unternehmen,das in vielerlei Hinsicht nachweisbar verantwortungsbewusstes Handeln gegenüber der hiesigen Umwelt und Bevölkerung vermissen ließ, Tür und Tor so zu öffnen, dass es dieses Verhalten unverzüglich ungerührt fortzusetzen sucht, erschüttert. Ich bin gespannt, ob das die Rats- und Verwaltungsgremien der Städte ohne ernsthafte Gegenwehr hinnehmen.
Sehr geehrte Frau Feller, ich hoffe, dass Sie meine klare Sprache nicht respektlos finden. Ich achte wahrlich Ihr schweres Amt, Ihre hohe Verantwortung und Ihr vorbildliches Bemühen, selbst mit einflusslosen Normalbürgern wie mir ins Gespräch zu kommen. In Sachen ZDE fühle ich mich jedoch ebenso wie viele andere Bürger/innen in Gelsenkirchen und Herne erneut vor den Kopf gestoßen und in meinen Rechten als Betroffener missachtet. Das, was gerade abgelaufen ist, symbolisiert zugleich die Wirkkraft Ihrer Behörde und Ihrer eigenen Unterschrift: Kaum war im „fernen“ Münster der letzte Federstrich unter die vorzeitige Zulassung der Erweiterungsarbeiten gesetzt, fielen hier vor Ort wenige Meter von den Haustüren der Anwohner/innen entfernt schon zahllose Bäume, damit noch mehr Müll aus anderen Gegenden bei uns aufgetürmt werden kann. Ich bin weit davon entfernt, Ihre persönliche Integrität in Zweifel zu ziehen, bitte aber darum, auch den Menschen im Umkreis der ZDE und überhaupt in den Emscherstädten mit Empathie zu begegnen. Das Leiden unter den massiven Umwelteingriffen und nicht enden wollenden Beeinträchtigungen sowie den daraus erwachsenden Ängsten, Krankheiten usw. ist ja höchst real, sodass es ebenso wie seineUrsachen nicht ignoriert, bagatellisiert oder abgestritten werden darf. Fürsorgepflicht und Vorsorgegebot fordern ein Ernstnehmen mit spürbaren Konsequenzen hin zu besserer Lebensqualität. Aus jeder Studie der jüngsten Zeit lässt sich ablesen, wie niedrig Experten die„Attraktivität“ der Städte an der Emscher (speziell Gelsenkirchens) einschätzen. Welches „übergeordnete öffentliche Interesse“ kann größer sein als das, diesen jahrzehntelangen Missstand einzudämmen und abzubauen statt zu verlängern und zu verschärfen?!!! – Dass andere Kreise und Städte weiterhin Ihre Abfälle hier lagern können??
Mit freundlichen Grüßen und besten Wünschen für die Gesundheit