- Gelsenkirchen
Franz Hohler (1970)
Gelsenkirchen ist nichts für Reiseführer. Diese bevorzugen übersichtliche Städte mit gut erhaltener Altstadt, einigen bemerkenswerten Fachwerkbauten und dem Dom aus dem 14. Jahrhundert (spätgotischer Altar im rechten Seitenschiff). Gelsenkirchen besitzt nichts von alledem, ist aber trotzdem eine Stadt. Wenn man von der Autobahn her kommt, weiß man nicht, soll man links, rechts oder geradeaus fahren, denn überall geht es nach Gelsenkirchen. Der fehlende Stadtkern wird durch ein reiches Angebot von Stadtteilen geschickt vertuscht, Gelsenkirchen-Buer, Gelsenkirchen-Horst, Gelsenkirchen-Schalke, Gelsenkirchen-Erle – vor allem Schalke hat etwas Listiges. Da die Stadt laut Baedecker „im Herzen des Ruhrgebiets“ liegt, ist sie von anderen Städten wie Oberhausen oder Wanne-Eickel nicht recht zu unterscheiden, es gilt Debussys Ausspruch über Wagners Musik: „Ça ne commence pas, ça ne finit pas, ça dûre seulement.“
Alles, was es ist, verdankt es den karbonen Kohleflözen unter seinem Boden, aber in der Werbeschrift der Stadt steht, dass Gelsenkirchens rustikales Image als Kohlenstadt längst unzutreffend ist. An seine Stelle ist eine mobile Infrastruktur und eine wohlüberlegte Steigerung des tertiären Sektors getreten, was immer das bedeuten mag. Auf einer Fahrt durch Gelsenkirchen werden einem verschämt ein paar Zechentürme und Raffinerien gezeigt, man streift einige Kanäle und Hafenanlagen, vernimmt, das 70 Prozent des deutschen Treibstoffs hier hergestellt werden, dass aber jetzt weniger die Kohle, sondern die Chemie und das Glas, und dann kommen die Grünanlagen. In Gelsenkirchen ist die Natur das Unnatürliche. Sie wird deshalb wie etwas sehr Seltenes gezeigt und in ihrer Entwicklung nicht dem Zufall überlassen. So wurde das Wäldchen an der Uhlenbrockstraße in Scholven/Bergmannsglück kürzlich vom Oberbürgermeister den Bewohnern als neue Erholungsstätte übergeben. Nachdem es die Stadt gekauft hatte, wurde es erst einmal gründlich durchforstet, es wurden 870 Meter neue Wege angelegt, und vier Eingänge sorgen für einen geordneten Besucherverkehr. Für die Kinder gibt es eine Spielecke und für die Invaliden verschiedene Skattische. So hat jeder sein Plätzchen, oder korrekter gesagt, seine Zone, denn jede rechte Grünanlage ist in Zonen unterteilt, zum Beispiel Geselligkeits-, Bade- und Spielzone, oder Zone für Begegnung älterer Menschen. Alle Grünanlagen zusammen bilden die sogenannte Grüne Lunge, mit der das Herz des Ruhrgebiets am Leben erhalten wird.
Da ich von Industrie nichts verstehe, kann ich weiter nicht viel über Gelsenkirchen berichten. Es gibt hier eine Kreisgruppe des Bundes hirnverletzter Kriegs- und Arbeitsopfer e.V. sowie den Verband bergbaugeschädigter Haus- und Grundeigentümer. Das Theater ist ein großer Glasbau, und ein Herr Riebe organisiert in der Aula der Bildungsanstalt für Frauenberufe Casinokonzerte. Er ist von Breslau und verliert alle Quittungen. Wie in jeder deutschen Stadt gibt es auch hier einen Branddirektor und mehrere Oberbrandräte. Die Zentralstelle für den Bergmannversorgungsschein befindet sich in der Vattmannstraße, aber ich weiß nicht, wer Vattmann war.
Doch wie gesagt, auch der Reiseführer ist solchen Orten gegenüber, in denen bloß gewohnt und gearbeitet wird, ratlos. Er spielt ein paar triste Backsteinbauten hoch und geht dann rasch zu Göttingen über, dort hat es anständige Fachwerkhäuser und einen Gänselieselbrunnen.
Nordrhein - Westfalen. 60 Jahre Architektur und Ingenieurskunst, Klartext-Verlagsges. (März 2007)
-> http://www.franzhohler.ch/