Die wollten gar nicht, dass wir da ankamen...

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Die wollten gar nicht, dass wir da ankamen...

Beitrag von GELSENZENTRUM »

"Die wollten gar nicht,
dass wir da ankamen..."


Nachdenkliche Gedanken einer fast 100-jährigen, die vom Judentum zum
Christentum konvertierte und das Konzentrationslager Theresienstadt überlebte.
Doch auch nach 1945 wurde ihr das Leben nicht leicht gemacht.

Anna 0. habe ich im Mai 1996 in Gelsenkirchen getroffen. Seit meiner frühen
Kindheit kenne ich sie und ihren inzwischen verstorbenen Mann. Viele Jahre
lebt sie im Ruhrgebiet, hat sie hier ein Zuhause gefunden - aber keine "Heimat"
im umfassenderen Sinn. Seit ihrer heiratsbedingten Konversion vom Judentum
zum Katholizismus ist sie auf einer ständigen Gratwanderung. Zwischen
Anpassung und Verleugnung einerseits, zwischen Ausgrenzung und
Unverständnis andererseits. So jedenfalls erlebe ich ihre Situation. Und sie
bestätigt mir das. "Heute weiß ich mehr vom Judentum als früher. Ich hatte ja
gar keine Wurzeln darin. Das ist sehr schwierig." Und sie beklagt: "Mit wem
hätte ich denn auch darüber sprechen sollen?"

Auch ich wusste lange nichts von ihrer jüdischen Herkunft. Zum ersten Mal
überhaupt hat sie sich bei unserem Gespräch im Mai 1996 mir gegenüber zu
ihrer Lebensgeschichte geäußert. Und so wie ihr geht es vielen Überlebenden
des Holocaust, die sich selbst noch schuldig daran fühlen, überlebt zu hoben.
Einer Veröffentlichung dieses Gespräches zu ihren Lebzeiten, die ursprünglich
im Zusammenhang einer Tagung mit den Problemen und Schwierigkeiten der
sogenannten "Judenchristen" geplant war, stimmte Anna 0. nach der
Autorisierung des nachfolgenden Textes nicht mehr zu. Ihre Sorge ist allzu
verständlich: "Vielleicht kommt noch einer auf die ldee: Die haben wir
vergessen zu holen."
Noch immer ist es eine unbestimmte Angst, die das
Leben dieser Frau prägt. "Das ist für mich gefährlich" meint die Frau. Und diese
Angst hat sich in ihrer Familie tradiert. Ist doch beispielsweise ihr Kind nach
jüdischem Verständnis Jude, da es ja Kind einer jüdischen Mutter ist...
Am 6. März 2003 ist Anna O. im Alter von 103 Jahren gestorben. Über der
Todesanzeige steht: "Ihr Gebet wurde erhört".

Kindheit, Elternhaus und Jugend

Kurz vor der vorletzten Jahrhundertwende ist Anna 0. am 7. September 1899 im
westfälischen Dülmen als neuntes Kind jüdischer Eltern geboren. Vor allem der
Vater pflegte die religiösen Bräuche und Traditionen innerhalb der Familie. Vier
Jahre lang besuchte Anna die jüdische Volksschule. "Ich bin überhaupt nicht
religiös erzogen worden", stellt Anna 0. im Gespräch mit mir fest. Ihren
Geschwistern ging es ebenso. Als Grund dafür sieht Frau 0. vor allem, dass die
Großmutter schon vier Jahre nach der Geburt der Mutter gestorben ist. Zwar
wurden in der Familie die großen jüdischen Festtage dem Anlass entsprechend
gefeiert. Doch die inhaltliche Verbundenheit mit der religiösen Tradition blieb
aus, die Tradition wurde nicht mit Leben gefüllt. Diese Tradition erlischt völlig,
als der Vater als Mittsiebziger stirbt. Denn ein Bruder - das einzige männliche
Familienmitglied, das noch die religiösen Bräuche ausüben und weitergeben
könnte - lebt nicht mehr in der Familie.

Die zwölf Geschwister sorgten allein durch ihre Existenz dafür, dass die
jüdische Grundschule nie schließen musste. Oft waren es jedoch nur acht oder
neun Kinder, die gleichzeitig die Schule besuchten. Das Ergebnis für sie waren
gute schulische Erfolge durch eine intensive Förderung. Hohe Stücke hält die
Frau noch heute auf ihren jüdischen Lehrer. Dabei habe der sich vor allem um
seinen Chor in Dülmen gekümmert, der damals über die Stadtgrenze hinaus
bekannt gewesen sei.
Bis zur Mitte des ersten Jahrzehnts des letzten Jahrhunderts besucht die junge
Frau eine"Höhere-Töchter-Schule" bei Ordensschwestern. Nach dem
Abschluss verlässt sie die Schule, um im niederrheinischen Rees eine
kaufmännische Ausbildung zu beginnen. Die Eltern zahlen dafür ebenso wie
für ihre Verpflegung in der Ausbildungsfamilie. 1919 geht sie dann – im Alter
von 20 Jahren - als Verkäuferin zu einem Textilgeschäft nach Gelsenkirchen.
Später wird sie hier als Einkäuferin tätig.

Heirat und Konversion

In ihrer neuen Umgebung lernt Anna 0. einen jungen Mann kennen. Der ist
katholisch. Und so beginnt für sie ein Lebensabschnitt, der ihre Situation
nachhaltig verändern wird. "Ich habe nichts gegen ihn", sagte ihr jüdischer
Vater über den jungen katholischen Mann, mit dem sie sich bereits verlobt
hatte. "Aber meinen Segen bekommst Du nicht." Das war jedenfalls Ausdruck
seiner religiösen Überzeugung, die ihm eine andere Sichtweise nicht
ermöglichte.

1930 heirat Anna 0. ihren Verlobten, nachdem sie zuvor zur Katholischen
Kirche konvertiert war. Nach der standesamtlichen Trauung heiraten beide
kirchlich in dem niederrheinischen Wallfahrtsort Kevelaer. Wohnen bleibt die
Familie jedoch in Gelsenkirchen. 1932 wird ihr einziges Kind geboren. Doch auf
das neue Paar in der Pfarrgemeinde wird niemand so recht aufmerksam...
Zwar ist Anna 0. nicht politisch aktiv. Durch die kaufmännische Tätigkeit ihres
Mannes finanziell versorgt, sollte sich ihr Leben ab 1933 - mit der
Machtergreifung von Adolf Hitler - jedoch schrittweise verändern. Zunächst
patriarchalischen Vorstellungen auf. Anna O. bekommt von ihrem Mann das
Haushaltsgeld. Und wenn es bis zum Monatsende nicht ausreicht, bekommt sie
wieder etwas. Doch zum nächsten Monatsbeginn wurde ihr die
nachgeschossene Summe vom neuen Haushaltsgeld wieder abgezogen...
Parallel zu ihrer neuen Rolle als Frau und Mutter, versucht die "junge
Katholikin" immer wieder, sich in den Glauben ihrer neuen Kirchlichkeit
einzufinden. "Ich habe das immer sehr ernst genommen", betont die Frau. Nicht
ohne auch gleichzeitig deutlich zu machen, wie schwierig ihr das immer wieder
gewesen und geblieben ist.

Doch im Laufe der Zeit nehmen dann die Pressionen auf die Familie zu.
Kollegen ihres Mannes denunzieren ihn. Sie sorgen dafür, dass er sein
Gewerbe nicht mehr ausüben kann. Später bekommt er jedoch eine neue
berufliche Chance in einer anderen Firma. Deren Chef hält - soweit als möglich
- seine Hand schützend über ihn.
Durch kirchliche Stellen erfahrt die junge Frau und Mutter keinerlei Zuwendung;
auch wenn ihr Mann ja Katholik ist und sie konvertierte. So lebt das Paar mit
dem Kind eher zurückgezogen. Anstrengungen, nach außen hin Kontakt
aufzunehmen, werden gescheut. Vor allem aus Angst und der Sorge um
mögliche Missverständnisse.

Verfolgung und Deportation

Ab 1943 verschärft sich die Situation. Die zum Katholizismus oder zum
Protestantismus konvertierten Juden waren zunächst noch vorsichtiger
behandelt worden. Doch spätestens seit dem Desaster von Stalingrad, bei dem
es große Verluste der deutschen Wehrmacht gab, wird der Weg derjenigen
immer skrupelloser, die schon früh gegen Kritiker angegangen sind. Auch Anna
0. wird immer wieder von der Gestapo zu Verhören abgeholt. Das Geräusch
schnell laufenden Gestapo-Männer auf der Holztreppe ist ihr in traumatischer
Erinnerung. Ab dem 18. Februar 1945 wurden 500 Jüdinnen und Juden aus
ganz Deutschland, die bisher noch durch ihre Ehe mit einem christlichen
Partner geschützt waren, in Haft genommen und nach Theresienstadt
deportiert. Zu ihnen gehört auch Anna O., die sich zwar erst noch durch
Warnungen hatte verstecken können. Doch dann wurde auch sie abgeholt, kam
nach einer ersten Station im Ruhrgebiet nach Bielefeld und muss die Schrecken
bereits des Transportes nach Theresienstadt erleiden. Ein Waggon mit
Menschen ganz verschiedener Nationalitäten und Herkunft wurde mitten
zwischen Militärwaggons gesetzt. Der so zusammengestellte Zug wird
mehrfach beschossen und Ziel von Bombenabwürfen. "Die wollten gar nicht,
dass wir da ankamen", denkt die Frau noch heute. Und das wird sie im Laufe
des Gespräches noch häufiger sagen. Auch, als sie von ihrer Ankunft in
Theresienstadt berichtet. "Die haben da keine Rampe hingemacht, nichts. Wir
mussten da aus den hohen Waggons abspringen - auf den harten Schotter
neben den Gleisen".

(Ihr Kind konnte übrigens fast parallel dazu durch Kontakte ihres Mannes in
einem Kinderheim von Ordensschwestern in Westfalen untergebracht werden.
Der Nachname wurde dabei nicht genannt - wäre dies doch bereits zu
gefährlich gewesen.)

Bereits im November 1941 war Theresienstadt, 60 Kilometer nördlich von Prag
gelegen, als Konzentrations- und Durchgangslager errichtet. Zuvor waren die
7.000 Einwohner des Ortes evakuiert worden. Vor allem Juden aus Böhmen
und Mähren sowie prominente Juden, jüdische Teilnehmer des Ersten
Weltkrieges mit Auszeichnungen und ältere Juden aus dem "Deutschen Reich"
werden nach Theresienstadt deportiert. Ab 1943/1944 kommen auch Juden aus
den aufgelösten Ghettos im Osten hinzu. "Die höchste Belegungsstärke betrug
im September 1942 über 58.000 Männer, Frauen und Kinder. Die
Lebensbedingungen waren katastrophal; es herrschte Überbelegung der
Wohnungen, unzureichende Verpflegung und Wassermangel. So starben in
Theresienstadt 34.000 Menschen. 86.000 Menschen wurden von
Theresienstadt aus in Vernichtungslager deportiert". Diese erschreckende
Bilanz zieht Simon Wiesenthal in seinem Buch "Jeder Tag ein Gedenktag.
Chronik jüdischen Lebens" (Frankfurt/M. / Berlin 1990).

Das Grauen in Theresienstadt

In Theresienstadt wird Anna 0. für die Wäscheannahme eingeteilt. Sie muss
hier die Schmutzwäsche annehmen und bündeln, damit die jüdischen
Eigentümer sie wiederbekommen können. In den Schlafräumen sind drei Betten
übereinander aufgestellt, viele Menschen leben gedrängt auf engstem Raum.
Die Versorgung ist miserabel. "Wir hatten unseren Essnapf immer dabei, um
was zu bekommen, wenn es überhaupt etwas gab", berichtet die Frau.
Gegenseitig habe man sich davor gewarnt, was besser nicht gegessen werden
sollte. Die Suppe, so hieß es beispielsweise, sorge für schlechte Augen.
"Einmal fehlte mir ein Stück Brot. Ich hatte da zwar einen Verdacht, aber ich
habe nichts gesagt. Sonst wäre diese Person sofort zum nächsten Transport
eingeteilt worden. Und das kam einem Todesurteil gleich."
Zum Alltag gehört auch, dass die "Einwohner" früh morgens strammstehen
mussten, um jeweils die Befehle für den kommenden Tag in Empfang zu
nehmen. Wenn ihnen in Theresienstadt ein Bewacher auf dem Bürgersteig
entgegenkam, mussten sie den Gehweg verlassen und auf die Straße
ausweichen. Mit den jüdischen Mitgefangenen, die mit den Bewachern
zusammenarbeiteten, deren Befehle sie weitergeben mussten, hat die Frau
heute fast Mitleid.

Ende ohne Anfang

Am 2. Mai 1945 übernimmt das "Rote Kreuz" Theresienstadt. Das
unermessliche Leiden der Menschen hier hat zunächst ein Ende. Doch Anna 0.
hat ihre Familie nahezu komplett verloren. "Aus meiner Familie hat fast keiner
überlebt", trauert die Frau. Ein Onkel ging noch mit 85 Jahren nach
Großbritannien, andere Familienmitglieder versuchten in den Niederlanden zu
überleben - allerdings vergeblich. Eine Schwester flüchtete 1939 nach
Großbritannien, wo sie als Dienstmädchen arbeitete. Später wanderte sie
jedoch in die USA aus. Und eine andere Schwester ging mit ihrer Familie nach
Bolivien.

Schwierigkeiten nach dem Krieg

Wenn alles zuende ist und sie überlebt hatten, dann wollte Anna 0. ihren Mann
und ihr Kind in Ostwestfalen treffen. So hatte man sich verabredet. Zwar kommt
sie zufällig zwölf Kilometer an dem Ort vorbei, in dem ihr Kind lebt. Doch sie
weiß davon nicht, geht zurück nach Gelsenkirchen. In ihrer alten Wohnung lebt
inzwischen eine andere Familie. Erst später findet die Familie hier wieder
zusammen, beginnt von vorn. Leicht wird dies jedoch nicht.
Das Kind geht zwar zur Schule. Nichts ist aber mehr so, wie es gewesen ist.
Die traumatischen Erfahrungen des Krieges tragen ebenso dazu bei wie die
Verschworenheit und Verschwiegenheit jener, die zwar von den Nazis
irgendwie profitiert hatten, jetzt jedoch auch das Kind ausgrenzen. "Die haben
es ja nicht einmal abschreiben lassen", beschreibt die Frau das Verhalten der
Klassenkameraden. Die Zeit des wirtschaftlichen Neubeginns ist für die Familie
nicht mit einem inneren Neubeginn verbunden. Die alten Strukturen wirken
weiter und belasten die Familie. Zwar arbeitet ihr Mann wieder in seinem Beruf.
Das Kind kann sich schulisch wie beruflich qualifizieren. Die Frau aber bleibt im
Schatten der Familie und wagt sich eben so wenig in die Öffentlichkeit wie
zuvor.

Erst später durchbricht der Mann vereinzelt dieses Verhaltensmuster der
Isolation. Auch außerhalb seines direkten Arbeitszusammenhanges geht er
nach "draußen", bis er 1968 stirbt. Für Anna 0. beginnt erst jetzt ein neuer
Lebensabschnitt, der für sie auch damit verbunden ist, sich mehr zuzugestehen,
sich mehr zuzutrauen.

Anfragen - an sich und andere

Inzwischen beschäftigt sich die Frau intensiv mit ihrer jüdischen Herkunft. Sie
sieht viel stärker als zuvor, dass die Wurzeln des Christentums im Judentum
liegen. "Das ist ja alles nur ‚ geklautes Zeug’", sagt sie fast zornig mit Blick auf
die christlichen Theologien. Und sie denkt dabei vor allem an einige der
theologischen Bücher, die sie inzwischen gelesen hat. "Warum setzen die sich
denn nicht mal zusammen und gucken gemeinsam nach vorn?" fragt sie sich.
Heute, so weiß sie, ist sie stärker mit ihrer jüdischen Herkunft verbunden.
Verwurzelt aber ist sie darin jedoch nicht. Und Wurzeln, die so stark sind, dass
sie tragfähig würden, hat sie auch in der Katholischen Kirche nicht finden
können.
Ein tiefes Bemühen darum, sich auf die jüdische Tradition des christlichen
Glaubens auch nur ansatzweise wirklich einzustellen, vermisst sie noch heute
bei offiziellen kirchlichen Erklärungen. Auch wenn sie ein paar Theologen
ausmacht, die sich inzwischen um diese Herkunft ernsthaft kümmern. Eine
kirchliche Breitenwirkung dieser Auseinandersetzung jedoch fehlt.
Anna 0. lebte viele Jahre auf einer mehr als schwierigen Gratwanderung.
Zwischen Anpassung und Verleugnung einerseits, Ausgrenzung und
Unverständnis andererseits.

Werner Krebber

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