hier also der angedrohte "Extra-Brief" zu unserem 1. Geburtstag, den wir heute begehen.
Die "Verwaltung" schwebt auf Wolke 7 und freut sich, dass ihr das kleine Kind angenommen, gepäppelt habt und ihm das Laufen lehrt.
Nicht kleckern, sondern klotzen. So riet man uns im Vorfeld zu unserem ersten Geburtstagsfest.
Irgendwie hatten wir das auch vor, aus unerklärlichen Gründen verpassten wir aber alle Interviewtermine mit der FAZ, WAZ, Die Zeit, Spiegel, Focus, Stern TV, Wochenblick, Stadtspiegel... nur ein Interview durch uns selbst haben wir tatsächlich über uns ergehen lassen...
Am Donnerstag, bei zuzu und Nudeln mit Tomaten:
Die Stadtschreiber
Die Idee ist nicht neu: Man müsste die eigene Jugend eigentlich mal gründlich dokumentieren - Geschichten, Orte und Eindrücke festhalten, bevor alle Erinnerungen endgültig verschüttet sind. Die wenigsten Menschen setzen diesen Gedanken um. Gott sei Dank, wie manche meinen, steht am Ende doch nicht selten eine mehr oder weniger verklärende Autobiografie.
Die vier Gelsenkirchener Marie-Cécile Duclercq, Heinz Niski, Jesse Krauß und Meik Fokkink beschritten andere Wege. Auf ihrer Internetseite www.Gelsenkirchener-Geschichten.de sammelten sie ihre Erinnerungen öffentlich und baten Freunde, Verwandte und Mitbürger um Mithilfe in Form von Fotos, Texten, Ton- und Filmaufnahmen.
Ein Jahr ist das jetzt her.
Heute stehen sie mit einigem Erstaunen vor über 25.000 Beiträgen von rund 300 Autoren, die allesamt eines gemeinsam haben: Sie stehen durchweg in unmittelbaren Zusammenhang mit der Stadt Gelsenkirchen.
„Als wir vor einem Jahr anfingen, hat niemand geahnt, dass dieses Projekt derartige Ausmaße annehmen würde,“ erläutert Heinz Niski, „am wenigsten wir selbst.“ „Ganz am Anfang standen natürlich Themen, die wir selbst anstießen und von denen wir wussten, dass unser engeres Umfeld sie aufgreifen würde“, ergänzt Jesse Krauß. Dazu zählten etwa die Anfänge der „Fluxus Zone West“ der Free International University, deren „Hauptquartier“ Josef Beuys in den 1960er Jahren in Gelsenkirchen ansiedelte.
„Dieses Thema hat beispielsweise der Gelsenkirchener Maler und Beuys-Meisterschüler Jürgen Kramer anhand einiger bislang unveröffentlichter Originaldokumenten beleuchtet“, berichtet Niski, der als weitere Beispiele „einige prägende Themen der eigenen Lebensgeschichte“, wie etwa die Anfänge der Grünen und der Anti-AKW-Bewegung in Gelsenkirchen nennt.
Doch die Themenstränge entwickelten sich bald selbständig. „Weil jeder Leser der Gelsenkirchener Geschichten seine eigenen Anmerkungen – wahlweise sogar anonym ( eine Seltenheit in solchen Foren) – anfügen und beliebig Fotos und sonstige Medien beisteuern kann, entfalten sich die Themen meist völlig unvorhersehbar,“ so Fokkink.
„Manchmal geht es mit jedem neuen Beitrag weiter ins Detail, dann wieder entwickelten sich Nebenstränge des Hauptthemas, von deren Existenz wir häufig selbst nichts geahnt hatten, und schließlich gibt es auch Themen, die sprichwörtlich im Sande verlaufen.“
Die Initiatoren sind sich jedoch einig, dass darin der Reiz der Gelsenkirchener Geschichten liege: „Es gibt Themen, die auf diese Weise eine fast wissenschaftlich systematische Durchdringung erfahren, aber das ist nicht zwingend. Manche Autoren liefern auch ‚nur’ authentische Darstellungen ihres eigenen Erlebens, die sie mit eigenen Familienfotos oder Originaldokumenten anreichern und die deshalb um ein vielfaches Interessanter ausfallen können.“
Es sind vor allem diese historischen Fotos, die für den Erfolg des Projekt eine anfangs wohl nicht unbedeutende Rolle spielten. „Die aufstrebende Industriestadt Gelsenkirchen hat seit Anfang des 20. Jahrhunderts in einer Art und Weise ihr Gesicht verändert, die außerhalb des Ruhrgebietes wohl einzigartig sein dürfte“, meint Niski. „Und dies lässt sich am einfachsten anhand von Ansichtskarten aus der Gründerzeit nachvollziehen.“ So entwickelte man bald gemeinsam mit dem Designstudenten Jesse Krauß die sog. „Zeitschichten“, die faszinierende Vergleiche zwischen damals und heute ermöglichen.
„Jesse Krauß hat sich die Mühe gemacht, die Aufnahmeorte vieler historischer Ansichtskarten genau zu ermitteln und das jeweilige Foto heute nochmals zu schießen“, erklärt Fokkink. Das alte und das neue Foto lassen sich heute durch einfaches ‚Wischen’ mit der Maus vergleichen, was im Kreise der Nutzer immer wieder Anlass gibt, die erkennbaren Veränderungen zu beleuchten.
Aber es geht nicht nur um Historisches, auch aktuelle Fragen der heute von Strukturproblemen gezeichneten Stadt werden ausgiebig diskutiert. „Da geht es natürlich vielfach um soziale Entwicklungen - Hartz IV, Kinderarmut, Kirchenschließungen und vieles mehr -, die unsere Stadt und das Zusammenleben ihrer Bürger verändern“, sagt Krauß, der von den anderen als
“Seele” und Impulsgeber der GG gesehen wird.
Doch obwohl im Kreise der Nutzer erkennbar ganz unterschiedliche politische Vorstellungen aufeinander treffen, blieben die Diskussionen bislang stets sachlich und zeichnen sich durch eine bemerkenswerte Rücksicht auf die Position des Gegenüber aus. „Dies ist auch für uns faszinierend,“ bemerkt Duclercq, „möglicherweise entwickeln sich über Foren bald ganz neue Wege für die Mitbeteiligung der Bürger auf kommunaler Ebene.“
Und was sind das für Menschen, die die Gelsenkirchener Geschichten nutzen? „Der Kreis unserer Nutzer ist – soweit uns das erkennbar ist – völlig inhomogen,“ erläutert der „Außenminister“ der Geschichten, Fokkink. „Man trifft alle Altersklassen, sämtliche Bevölkerungsschichten und sämtliche politischen Lager,“ ergänzt Niski, „es gibt eine große Zahl aktiver Schreiber und eine mindestens ebenso große passiver Leser, von denen wir wissen, dass sie die Gelsenkirchener Geschichten täglich aufrufen und gewissermaßen neben ihrer Tageszeitung lesen. Es gibt akribische Autoren, die beispielsweise anhand unterschiedlichster Themen die Geschichte ihres Stadtteils beleuchten, und andere, die den aktuellen Zustand der Stadt mit einer Vielzahl von Fotos dokumentieren.“
Besonders bemerkenswert sei aber, dass die Internetseite vor allem unter „Exil-Gelsenkirchenern“ besonders beliebt ist. „Offenbar ‚googeln’ viele ehemalige Gelsenkirchener von überall auf der Welt nach ihrer Heimatstadt und stoßen dann häufig auf unsere Seite. Gerade diese Menschen haben anscheinend ein Bedürfnis, ihre eigene Zeit in der Stadt – häufig die eigene Kindheit – zu beleuchten“, erklärt Niski, der als Beispiele zwei beliebte „Dauergäste“ aus München und Berlin nennt. „Als ein Nutzer im März dieses Jahres mit ein paar Fotos über den aktuellen Zustand der Siedlung Blumendelle berichtete, die 1926 im Stadtteil Schalke im Stil des Backsteinexpressionismus errichtet worden war, meldete sich erschüttert eine Australierin zu Wort. Sie hatte dort ihre Kindheit verbracht und war 1965 ausgewandert“, erläutert Fokkink.
„Wer sich nun aber vorstellt, die Stadtspitze Gelsenkirchens empfange uns an unserem ersten Geburtstag mit einem Blumenstrauß, ist auf dem Holzweg“, erklärt Niski. Gleich am Anfang zierte die Internetseite eine Karikatur des
Gelsenkirchener Stadtwappens, die der Grafiker Christian Witt 1984 erstellt hatte. Sie bildete u.a. die Montansymbole Schlegel und Eisen mit zerbrochenen Stielen ab. „Das Refererat ‚Repräsentation’ der Stadt forderte uns mit einem markigen Schreiben dazu auf, diese heraldisch nicht einwandfreie Verwendung des Wappens zu unterlassen“, erklärt Niski. Damit trat der Oberbürgermeister indessen eine Welle los, die ihm in der Lokalpresse nur hämisches Gelächter einbrachte, hatte die Stadt sich doch schon 1984 erfolglos in einem Rechtsstreit gegen die Verwendung dieser Wappenkarikatur gewandt. „Das war für unser Verhältnis nicht unbedingt förderlich, was um so ärgerlicher ist, als dass es gar nicht darum ging, die Stadt einer Schmähkritik oder ähnlichem auszusetzen“, erklärt Fokkink. Und obwohl ihnen der Oberbürgermeister die Verwendung der Wappenkarikatur vor diesem Hintergrund schließlich doch noch ausdrücklich genehmigte, haben die Gelsenkirchener Geschichten sie heute von ihrer Startseite verbannt. „Uns ging es gar nicht um dieses Wappen“, erklären die vier einstimmig und fügen hinzu: „Es wäre schön, wenn sich die Stadtspitze endlich davon überzeugen ließe, dass sie auf unserer Seite jede Menge Mitstreiter findet, die sich ebenso für diese Stadt einsetzen wie sie selbst.“
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