Straßenfußball Ende der 1970er Jahre sah manchmal auch so aus:
In der 5.+6. Klasse fuhr ich mit meinem Kumpel extra 2 Busse früher zur Schule, damit noch eine Dreiviertelstunde vor dem Klingeln ein Spiel auf dem "kleinen" Schulhof des Leibniz-Gymnasiums laufen konnte.
Das Spielen mit Bällen jeglicher Art auf dem Schulhof war streng verboten. Übelste Verletzungen und Sachschäden in unbezahlbarer Höhe wurden befürchtet und beschworen. Das typische Blabla aus der Zeit, als man dem Leben alle Gefahrenquellen mit einer "Rundum-sicher-und-glücklich-Vorsorge durch Vermeidung von Lebensfreude" nehmen wollte.
Not macht erfinderisch. Wir nahmen als Ball-Ersatz die 0,2 Liter Dreh-Und-Drink-Plastikflaschen, die damals total "in" waren. Bei diesen Pullen musste man einen Gußgrat an einer Sollbruchstelle am Flaschenhals abdrehen, damit man an das widerlich süße Zeug heran kam. Das war schnell in drei Zügen verschlungen, dann die Manschaftswahl per Piss-Pott und per Dropkick ging es los!
Wir wollten pöhlen. Immer. Bei jedem Wetter. Selbst bei Schnee wurde versucht, mit silbernen Schneeboots - auch so eine Modeerscheinung der damaligen Zeit - diese rotierenden Plastikflaschen zu treffen und im gegnerischen Tor unterzubringen. Das Tor bestand aus einem ca. 2m breiten Wandelement unterhalb eines Fensters der sogenannten "Pavillons". Dieser Ausdruck war eine unpassende, aber elitär klingende Bezeichnung für jene provisorischen Baracken, in denen die ganze Unterstufe jahrelang hausen musste und deren Wände weder Schallschutz noch Festigkeit aufwiesen. Ein letzter Rest dieser Bauart ist auf dem Schulhof des Hauptgebäudes bis heute erhalten geblieben.
("Die Baracke" war übrigens auch Namensgeber der Schülerzeitung.
http://www.gelsenkirchener-geschichten. ... 7895#27895)
Es gab Spiele auf ein Tor (d.h., es hatte sich nur einer bereit erklärt, ins Tor zu gehen) oder auf zwei (d.h. es wurde ein weiterer Unfreiwilliger so lange bedrängt, bis er doch freiwillig diesen Job übernahm). Im letzteren Fall wurden im Abstand von ca. 2 Wandelementen auf der selben Wand zwei Tore festgelegt. Man spielte also im Bogen von einem Tor zum Nächsten. "Aus" gab es nicht. Der ganze Schulhof war Spielfeld. Und es gab bis zu 4 Spiele gleichzeitig. Die Kern-Größe der Spielfelder war abhängig von der Anzahl der Wandelemente, die man sich mit seiner Klasse erkämpfen konnte und auch täglich erkämpfen musste. Die "Großen" aus der 7. Klasse hatten natürlich das Recht, ihr Spielfeld als erste zu definieren. Und das taten sie auch und besetzten stetz das einzige Spielfeld mit gegenüberliegenden Wänden und Toren.
Man kam sich häufiger in die Quere. Dann kreuzten sich die einzelnen Matches und es entstand ein Pulk, in dem mindestens 10 Spieler aus 4 Mannschaften versuchten, die eigene Spielflasche wieder zu finden. Traf man versehentlich die Pulle der Großen, oder - noch schlimmer - spielte man die falsche Pulle einem der Großen versehentlich durch die Beine oder brachte ihn dabei unbeabsichtigt zu Fall, dann gab es rote Backen. Wir hatten eigentlich immer eine frische Gesichtsfarbe.
Bei 6 Stunden Unterricht kam man inklusive aller Pausen und der Zeit vor und manchmal sogar nach der Schule auf gut 2 Stunden "Training". Nach einem Schuljahr täglicher Übung hatten einige von uns ein besseres "Ballgefühl" für Trinkflaschen als für Lederbälle entwickelt. Am Samstag fuhren wir noch einen Bus früher zur Schule, weil ja sonst nur eine große Pause bis zum Schulschluss um 12 Uhr zur Verfügung stand. Dribbling war kein Problem, Doppelpass war Standard, halbhohe Flanken funktionierten auch irgendwie. Allein das Kopfballspiel war unterentwickelt. Die Pullen hatten ab einer bestimmten Flughöhe unberechenbare Flugeigenschaften und wurden wenn überhaupt nur selten mit der Stirn, eher mit der Nase oder dem Kinn getroffen. Egal.
Nach jeder Pause wurde das Spielgerät fachmännisch entsorgt. Das geschah durch einen gut dosierten Wurf auf eines der Flachdächer der Pavillons. Ein Blick aus den oberen Stockwerken des Hauptgebäudes auf die Flachdächer zeigte das Ausmaß unserer Spielfreude. Der Anblick erfüllte uns mit Zufriedenheit. Wir waren stolz auf unser Werk.
Ich erinnere mich noch gut an den Tag, an dem unsere Pulle ausgemustert wurde. Es war ein heftiger Sturm in der Nacht über die Stadt gefegt. Wir hatten uns schon auf dem Schulweg Gedanken über die zu erwartenden miesen Flugeigenschaften unseres Lebensmittelpunktes gemacht, da erwartete uns auf dem Schulhof ein Schlaraffenland: Der ganze Schulhof war übersät mit "unseren" Pullen! Der Wind hatte sie alle von den Dächern gefegt. Es entwickelte sich sofort eine Art "Schneeballschlacht mit Trinkflaschen". Je mehr Schüler ankamen, desto besser wurde die Stimmung - bis schließlich der Hausmeister noch vor der ersten Stunde mit einem Dutzend Besen ankam und einige Pechvögel zwangsverpflichtete, die Flaschen zusammenzukehren und in Müllsäcke zu befördern. Fortan war auch das Spielen mit Trinkflaschen verboten.
Für unser damaliges Empfinden heftige Schülerproteste gipfelten darin, dass es schließlich doch offiziell erlaubt wurde, auf Tennisbälle zu wechseln oder größere Bälle aus Schaumstoff zu verwenden. Letztere waren natürlich besonders im Regen eine Wucht für denjenigen, der so einen vollgesaugten Dreckwasser-Schwamm mit der Brust annahm. Und die Torhüter freuten sich über jeden Ball, der - volley abgezogen - Richtung Tor geflogen kam. Egal.
Stell dir vor, es geht und keiner kriegt's hin.