LebensgeschICHte - Venetia Harontzas

Gelsenkirchener blicken auf ihr Leben zurück und erzählen

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LebensgeschICHte - Venetia Harontzas

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[center]LebensgeschICHte - Venetia Harontzas[/center]

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Mein Leben, was noch nicht zu Ende ist, was noch ganz viel vorhat, mein Leben! Da brauchen wir länger als eine halbe Stunde. Ich brauchte bis jetzt 60 Jahre.

Ich bin also 60 Jahre alt. Mein Vater kam 1955 aus Griechenland, als Nicht-Gastarbeiter. Er kam zu Besuch zu seiner Schwester, die einen deutschen Soldaten geheiratet hatte und in Marl wohnte. Dort lernte meine Mutter ihn kennen. Sie war damals Schwesternschülerin bei der AWO. 1956 wurde ich als uneheliches deutsches Kind als Spaniel geboren, von meinem Vater adoptiert und dann war ich Griechin. 1975 gab es eine Regelung, dass Kinder, die einen deutschen Elternteil haben, automatisch die deutsche Staatsangehörigkeit bekommen. Ich habe also beide Staatsangehörigkeiten. Das hat jahrelang zur Verwirrung beim Standesamt geführt, als ich versucht habe, eine Urkunde zu bekommen, dass ich Deutsche bin. Denn damals wurde ich als uneheliches Kind deutsch geboren, von einer deutschen Mutter, aber der Vater war Grieche. Zwischendurch hatte ich schon zweimal geheiratet, das heißt im Laufe der Jahre hatte ich mehrmals meinen Nachnamen geändert nach deutschem und griechischem Recht und der Standesbeamte damals hatte gesagt: „Noch so eine Sache und ich gehe in Pension“.

Ich kenne das Thema Migration von der anderen Seite. Ich bin, wie gesagt, 1956 geboren. 1959 ist meine Mutter mit meinem „Erzeuger“ nach Griechenland gefahren und hat dort entdeckt, dass er verheiratet war. Das war das Schicksal vieler Frauen, die damals die ersten Gastarbeiter kennen gelernt haben. Sie hat ihn, mit vielen Hindernissen dann geheiratet, weil sie mit meinem Bruder schwanger war.

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Mithilfe meiner Oma hat sie es aber geschafft wieder nach Deutschland zu kommen, damit sie das Sorgerecht für die Kinder bekommt. Vom Konsulat wurde gesagt, es wäre besser nach Deutschland zurückzukommen, das wäre dann einfacher. Das hat sie dann auch gemacht. Sie galt als nicht verheiratete Frau, obwohl sie in Griechenland kirchlich geheiratet hatte. Aber dann hat sie den zweiten griechischen Mann kennen gelernt, meinen Stiefvater. Daraufhin hat sie sich in Deutschland getrennt und das Sorgerecht für uns bekommen. Wir haben in Gelsenkirchen in der „Mau Mau“ gelebt, irgendwo in Erle. Ich kann mich nur erinnern, dass wir nur einen Raum hatten, der durch einen Vorhang geteilt wurde. Meine Mutter war immer kreativ. Ich habe viel gespielt. Wir waren immer draußen. Man kann die „Mau Mau“ mit einem Ort für Asylbewerber vergleichen. Da waren die Sozialen und die Asozialen, die Bedürftigen, die Ausländer und die Inländer. Sie haben alle irgendwie zusammen gewohnt, wie auch immer. Es gab natürlich auch Reibereien.

Von da aus sind wir später nach Wattenscheid gezogen. Ich bin dort um Ostern herum, wie es damals üblich war, eingeschult worden.

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Dann ist mein zweiter Vater aber abgeschoben worden. Und im Sommer 1964 sind wir dann nach Thessaloniki gezogen. Ich war also nur kurz in der Schule. Aber wenn ich mit dem Bus nach Wattenscheid fahre, fahre ich an meiner alten Schule vorbei. Da kann ich mich gut erinnern. Da bekam ich meine Milch in Glasflaschen. Ich kann mich auch an die Möbel erinnern, die wir zu Hause hatten. Das war nicht deutscher Barock, auch nicht Gelsenkirchener Barock. Das waren unheimlich dunkle Möbel. Wenn wir die noch gehabt und jetzt verkauft hätten, hätten wir viel Geld dafür bekommen.
In Thessaloniki hatten wir eine gemeinsame Wohnung. Wir hatten eine Küche, die keine Küche war, weil die Leute draußen gekocht haben. Es gab einen Anbau, ein Plumpsklo. Wir hatten den ersten Fernseher – schwarz-weiß natürlich - und die ganze Nachbarschaft kam, um bei uns fernzusehen. Dadurch hatten wir immer viel Besuch. Es gab einen experimentellen Sender in Thessaloniki, wo ein Teufelchen rauskam, der den Film abgeschnitten hat. Eine halbe Stunde Fernsehzeit.

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Ich kann mit den Migranten an der einen oder anderen Stelle fühlen. Meine Mutter als Deutsche war teilweise gut integriert. Aber ich war nicht die Venetia, ich war die Tochter von der Deutschen. Immer unter Beobachtung. In unserem kleinen Stadtteil waren wir immer die Exoten. Meine Mutter hat die deutschen Gebräuche gepflegt: Mein Bruder wurde dort eingeschult und bekam eine Schultüte. Alle haben doof geguckt. Wir haben das Osterfest mit Osterhasen gefeiert. Das gab es in Griechenland nicht. Und die deutsche Weihnacht. Und wir haben mit dem wenigen Geld, das wir hatten, bei „Konsum“ eingekauft. Wir haben ein bisschen parallel gelebt, in einer Parallelgesellschaft. Auf der einen Seite waren wir Griechen: Ich durfte als Mädchen nicht raus. Ich war immer unter Beobachtung. Aber auf der anderen Seite haben wir die deutschen Sitten und Gebräuche gepflegt, so wie die Migranten heute. Ich kann sie gut verstehen. Man möchte nicht loslassen.

Meine Mutter hat als Schneiderin gearbeitet und mein Stiefvater hatte eine Import-Export-Firma. Aber meine Mutter war diejenige, die immer für uns gesorgt hat. Ich bin dort zur Schule gegangen, musste aber früh anfangen zu arbeiten.

Mein Deutsch habe ich nur gesprochen, wenn meine Tanten und Onkel zu Besuch kamen. Und meine Mutter hat auch Griechisch gesprochen. Sie hatte eine Schneiderei und musste dort Griechisch sprechen. Dort habe ich schon ganz früh angefangen zu nähen. Das heißt, ich ging zur Schule und nach der Schule musste ich mich hinsetzen und beim Nähen helfen. Da ich ziemlich kreativ war, hat das ganz schnell funktioniert und ich habe ganz schnell die Näherei gelernt, die mir heute an der einen oder anderen Stelle, z.B. bei der Herstellung der Kostüme für die Tanzgruppen sehr zupass kommt. Aber auch in dem Leben davor. Ich war ja nicht immer hier, im Lalok.

Von dem Haus mit dem Plumpsklo sind wir dann in ein anderes Haus gezogen, das sehr europäisch war, mit Toilette und Badewanne. Wir haben allerdings in der Badewanne Wasser gesammelt, wenn es im Sommer kein Wasser gab. Also die Wanne war nicht zum Baden da, sondern eher zum Wassersammeln. Im dritten Haus war es auch so.

Als ich 17 war, haben meine Eltern beschlossen, zurück nach Deutschland zu gehen, weil es mit meinem Bruder in der Schule nicht so klappte. Und ich ging schon in die 11. Klasse.

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Der Gedanke: Ich ziehe von da weg in eine Gesellschaft, die ich nicht kenne – ich kannte Deutschland nicht – gefiel mir nicht. Und da habe ich mir überlegt: ich muss eine Lösung finden. Ich muss heiraten. Mit 17. Ich habe auch tatsächlich jemanden gefunden. Ich war damals bei den Pfadfindern, wobei die Pfadfinder in Griechenland nicht kirchlich, eher staatlich gebunden sind. Und dann habe ich meinen „Oberkommandomann“ geheiratet, den Professor Sowieso, einen sehr netten Mann. Nur, der war 13 Jahre älter als ich. Wenn ich jetzt denke, ich bin 60 Jahre alt und er wäre 73, dann muss ich sagen: er hätte vom Alter her besser zu meiner Mutter als zu mir gepasst. Aber das war damals so. Ich habe also geheiratet und meine Eltern sind mit meinem Bruder nach Deutschland gegangen. Und ich bin in Griechenland geblieben, wo ich mit meinem ersten Mann weiter die Schule besucht und studiert habe. Ich habe später im Steuerberaterbüro gearbeitet.


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1975 haben wir geheiratet und dann haben wir beschlossen nach Deutschland zu gehen, weil er weiter studieren wollte. Das hat aber alles nicht so funktioniert. Mittlerweile hatte ich meine erste Tochter gekriegt, die Sasa, und dann waren wir zwei Jahre hier. Wir sind beide zur Uni Bochum gegangen. Parallel dazu hatte ich eine Änderungsschneiderei in der Wanner Str., wo ich den ersten Kontakt mit türkischen Mitbürgern hatte. Es gibt so Geschichten, die einem im Kopf bleiben. Ich habe eine türkische Frau kennen gelernt. Sie war als Braut aus Istanbul hierher gebracht worden. Sie war eine gebildete türkische Frau, deren Kind beinahe gestorben wäre, weil die Schwiegermutter meinte, das Kind müsste sich ausschließlich von der Muttermilch ernähren, aber sie hatte keine Milch. Sie durfte nicht zufüttern. Und da hatte sie mich gefragt, zu welchem Frauenarzt sie gehen könnte, um die Pille zu bekommen. Ohne Wissen ihres Mannes und ihrer Schwiegermutter. Sie sagte, sie sehe es nicht ein: Sie sei zur Schule gegangen und werde wie ein Dienstmädchen behandelt. Sie müsse ein Kopftuch tragen. Das war für sie eine fremde Welt. Und die habe ich hinterher nochmal getroffen. Sie hatte sich von dem Mann getrennt, hatte auch keine anderen Kinder bekommen.

Wir waren also 2 Jahre in Deutschland und sind dann zurück nach Griechenland gegangen, wo wir uns dann getrennt haben. Jeder seinen Weg. Bitterer Nachgeschmack von der ganzen Geschichte: Da meine Eltern in Deutschland waren und nicht hätten auf meine Tochter aufpassen können, musste ich meine Tochter, allerdings mit gutem Gewissen, bei meinem Ex-Mann zurücklassen. Als allein stehende Frau in Griechenland damals hätte ich es nicht allein geschafft. Und so durfte ich dann erstmal mein Leben leben, das ich als 17- oder 18 Jährige nicht gelebt hatte.

Ich kann sagen: mein Ex-Mann war ein guter Mann, aber er war nicht der passende Mann für mich, weil das, was Mädchen mit 17, 18 machen, habe ich nicht genossen. Er war sehr sozial eingebunden, bei Lions oder Rotary usw… Ich habe mit weißer Perlenkette am Hals mit den Damen Bridge für einen guten Zweck gespielt. Mit 20! Anfangs war das schön, es war eine andere Welt, aber irgendwann wurde es langweilig. Tee trinken und in einem Vereinsheim oder in einem edlen Hotel Bridge spielen…. Mit Herrn und Frau Doktor…. Das war ich nicht. Ich war immer etwas anders.

Ich habe also mein Leben gelebt, das heißt viel gefeiert, Geld verdient, Beziehungen gehabt, gute und schlechte, bin auf die Fresse gefallen, denn ich hatte diese ganzen Erfahrungen nicht gemacht. Ich denke, die Erfahrungen, die ich damals als junge Frau – denn das war ich dann – gemacht habe, helfen mir heute. Ich kann dadurch Dinge anders sehen und sie an Mädchen vermitteln. Ich kann denen sagen: Leb dein Leben, probier mal. Du musst nicht in Saus und Braus leben. Aber sammle Erfahrungen. Und hinterher wenn der Richtige kommt, weißt du, es ist der Richtige. Das kann ich nur durch Erfahrung. Das kann ich nicht studieren. Das bringt dir das beste Studium nicht. Jetzt habe ich ein bulgarisches Mädchen. Ihr Traum war immer zu heiraten. Solange ich sie kenne, will sie heiraten. Letztes Jahr hat sie eine große Verlobung in Bulgarien gefeiert und gestern war sie wieder hier. Und ich habe ihr gesagt: „Wenn du keinen Druck von der Familie hast, wenn du nicht schwanger bist, ob du jetzt Jungfrau bist oder nicht, das geht keinen was an. Das geht nur dich an. Noch nicht mal den Typen. Wenn das so ist, dann heirate nicht, denn wenn du verheiratet bist, dann kommt der Druck der Familie, dass du ein Kind haben musst. Deine Mutter wird sagen: Ich will jetzt Oma werden. Überlege dir das. So eine Hochzeit kostet heute 20 000 €. Für das Geld, nimm dir eine schöne Wohnung, reise. Wovon wollt ihr leben. Ihr habt beide keinen Schulabschluss. Ihr werdet euer Leben lang Hilfsarbeiter sein. Und wenn du Kinder kriegen solltest, du willst denen etwas bieten. Von den 800€ vom Sozialamt wirst du das nicht können. Und ich bin der festen Überzeugung, unser soziales System wird sich nicht ewig so halten können. Das wird nicht funktionieren. Und das ist nicht befriedigend. Überleg dir das.“

Ob sie sich das überlegt oder nicht ist eine andere Sache. Aber ich kann es aus Erfahrung sagen. Das kommt nicht aus irgendwelchen Lehrbüchern, das ist keine Theorie.



Fortsetzung folgt....
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In dieser Zeit habe ich meinen 2. Mann kennen gelernt. Auch ein Grieche. Meine biologische Uhr hat getickt. Ich wollte doch noch ein Kind haben. Ich hatte nämlich keinen Kontakt zu meiner ersten Tochter. Mein Ex-Mann war gut aber er war auch eine kleine Sau, wie Männer ebenso sind. Ich sage immer: „Alle Schweine haben dieselbe Fresse. Kennst du eine Sau, kennst du alle“. Er hat mir den Kontakt zu meiner Tochter verboten und damals hat mir die Polizei empfohlen, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Es sei für das Kind nicht gut, es jedes Mal von der Polizei abholen zu lassen.

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[center]Oma Paula, Mama Doris, Venetia, Tochter Sassa[/center]

Ich bin ganz anders in die 2. Ehe gegangen. Die 1. Ehe war eine Notlösung, weil ich in Griechenland bleiben wollte. Bei der 2. Ehe habe ich gedacht, ich brauche einen guten Vater für meine Kinder. Ich kann allein für mich und für sie sorgen, denn ich kann arbeiten. Aber ich brauche jemanden, von dem ich weiß, er ist für meine Kinder ein guter Vater und das habe ich auch geschafft. Ich habe nie Windeln gewechselt. Ich bin auch keine Hausfrau. Manche Sachen wie Fensterputzen, Bügeln, Wäsche … sind bei uns Männerarbeit. Bei unseren beiden Töchtern hat der Papa die Wäsche gewaschen, das tut er heute noch. Ich habe mal eine Fortbildung gemacht, bei der es um den Unterschied zwischen Mann und Frau, zwischen weiblich und männlich ging. Es kam raus, es geht nur um die optische Erscheinung des Genitalbereichs. Alles andere ist angelernt und anerzogen.

Meine Oma war eine weise Frau. Sie hat gesagt: Männer sind wie Hunde und Katzen. Die kannst du erziehen. Aber das musst du früh machen. Sonst ist alles zu spät. Das sagte meine „deutsche“ Oma. Wobei …. Wir waren schon immer Exoten. Wir hatten alle dunkle Haut, dunkle Augen, schwarze Haare. Und wie ich später erfahren habe, kam die Familie meiner Oma als Zirkusleute aus Graz. Es waren Österreicher. Sie sind dann hier als Kartoffelerntehelfer geblieben. Ihre Mutter, wurde mir gesagt, war so hoch wie breit. Sie waren – jetzt benutze ich das böse Wort – „Zigeuner“. Darum kann ich gut mit den Roma umgehen. Das Blut wird kein Wasser oder das Wasser kein Blut, wie auch immer das Sprichwort heißt. Wenn ich mir die Familie so angucke, die haben so wie Reisende gelebt. Zwei Tanten haben lange im Zirkus gearbeitet: eine auf dem Trampolin, die andere hat Kunststücke gemacht. Meine Oma hat irgendein Instrument gespielt und im Zirkus Musik gemacht. Sie hat auch zwei Männer verschleißt. Wobei der zweite Mann aus Schalke war. Ein gut aussehender Mann aus einer Uhrmacherfamilie. Das Haus war Ecke Grenzstr., Kurt-Schumacher-Str. Sie war eine große Karnevalsfrau, meine Oma Paula. Von der habe ich übrigens den Namen. Ich hatte nämlich drei Namen: Venetia, Paulina, Maria.
Venetia ist der Name meiner ersten Oma, der Mutter meines Vaters, der schönen Venetia, die von der Insel Kefalonia kam. Sie kam mit 15 oder 16 mit ihrer Schwester nach Athen. Ihre Schwester war eine berühmte Kinderbuchautorin. Und sie war nur schön. Ich kann mich immer noch an sie erinnern: im Negligé, auf einem Bett sitzend. Sie hatte schöne Beine und trug hübsche Pantöffelchen mit einem Bommel, hatte rote Fingernägel und rauchte mit einer Zigarettenspitze. Die Haare ganz weiß in einer Wellenfrisur. Über ihrem Kopf hing ein Bild, wo man sie mit ihrer Schwester – die wurden noch im 19. Jahrhundert geboren und meine Oma ist 106 geworden – irgendwo in Athen mit langen weißen Kleidern, Sonnenschirm, Hut und einer Blume am Kleid sieht. Sie hat sehr gesund gelebt, immer türkischen Mokka getrunken und selbstverständlich Ouzo.
Der Name Maria erklärt sich so: In Griechenland konnte man damals bei der Taufe nur christliche Namen geben. Und weder Venetia noch Paulina kamen im christlichen Kalender vor. Daher die drei Namen. Mittlerweile heiße ich nur Venetia. Die anderen Namen sind nach und nach von den Papieren verschwunden.
Zurück zu meiner Oma: Sie war ein großer Karnevalsfan. Es gibt noch Bilder, wo sie als Baby auf einem Wagen ist und mit über 70 war sie noch aktiv beim Karneval.
Es waren alles Schalker Mädels. Auch meine Tante Paulina. Die gab es nämlich auch. Ich sollte vielleicht ein Kabarett mal dazu machen. Mein Opa kam aus Schlesien, wurde mir gesagt, wobei er einen völlig italienischen Nachnamen hatte. Deswegen sage ich immer, wenn ich gefragt werde: Was bist du? Griechin, Deutsche??? Dann sage ich immer: Ich bin Europäerin.
Zurück zum Thema „Zigeuner“: Wir sind eine viel gereiste Familie, das heißt, ich habe nicht nur in Italien, in England, in Amerika Kusinen. Ich habe auch echte deutsche „Kusinski“ und eine echte deutsche Kusine, Elke: blond mit Zöpfchen, die den Alfonso geheiratet hat. Sie sagte immer: Einmal Zigeuner, immer Zigeuner. Sie war eine der ersten hier in Gelsenkirchen, die bei den Grünen waren, mit Apfelsinenkisten usw.… Ich habe die Kusinen meiner Mutter kennen gelernt, die noch leben. Kürzlich habe ich eine getroffen und sie sagte: Damals bei den Neumanns, den Zigeunern, da war immer was los. Die waren immer am Feiern. Meine Oma konnte wunderbaren Eierlikör machen. Und mein Opa, der war Uhr- und Schirmmacher, hat Bandoneon gespielt. Da war immer Stimmung. Meine Oma hatte 14 Enkelkinder und danach kamen schon die Urenkel. Sie hat immer gesammelt und mein Opa hat alte Radios gesammelt. Er war ja ein Tüftler. Im Keller stapelte sich das Eingemachte (Gemüse usw…)
Meine Tanten waren Ruth, Edith, Päule, dann gab’s meine Mutter und einen Jungen, der aber früh bei einem Unfall umgekommen ist. Ich habe Ähnlichkeit mit meiner Oma: sie hat immer für die Familie gesorgt, war auch Schneiderin. Die hat immer am Fenster geschneidert, war eine Mannsfrau und sie soll diejenige gewesen sein, die im Krieg die Familie über die Runden gebracht hat. Als Schneiderin ist sie über die Dörfer gegangen. Sie hat genäht und dafür Butter usw. gekriegt.

Dann zurück zur Familie. Diese Erfahrungen, diese Gene vielleicht auch, helfen mir, die anderen Leute zu verstehen. Aber verstehen heißt nicht alles akzeptieren. Sehr oft sagen die Leute: „Wir müssen viele Kinder machen“. Ich sage: „Früher war das in Ordnung. Man brauchte die Kinder für die Altersversorgung. Es gab keine Verhütung und die Kindersterblichkeit war hoch. Aber heute ist es anders. Man muss für die sorgen und bei den heutigen Anforderungen schafft man das nicht“. Wir haben einen Mitarbeiter hier, der hat 9 Kinder. Er weiß noch nicht mal, wann genau seine Kinder geboren wurden. Er schafft es nicht zu gucken, was sie in der Schule machen oder nicht machen. Er hat sie nicht unter Kontrolle.

Meine Mutter war in ihrer Familie die erste, die richtig die Schule besucht hat. Früher war es anders. Heute brauchst du Abi, um Straßenfeger zu werden.

Mein 2. Mann hat relativ schnell Deutsch gelernt. Er konnte aber Englisch und das hat ihm geholfen. Am Anfang war er wie die meisten Migranten. Er saß hinten im Laden, ich musste nach vorn, obwohl mein Deutsch auch nicht so gut war. 1988 waren wir in Deutschland für genau 6 Wochen. Aber es war nicht seine Sache. Er konnte es nicht. 1991 haben wir es anders gemacht. Wir haben unser Leben in Griechenland aufgegeben, für immer. Es gab kein zurück und es musste dann funktionieren. Meine Tochter Doris war schon 4.

Mein Mann musste Deutsch lernen und hat sogar einen Deutschkurs besucht. Ich habe damals ein Baby verloren und er musste sich um die Schneiderei auf der Kurt-Schumacher-Str. kümmern. Bei meiner Tochter Rosalia hatte ich eine Risikoschwangerschaft, weil ich inzwischen 39 war. (Die Jahre vergehen so schnell.) Er musste also nach vorn, sonst hätten wir nichts zu essen gehabt. Aus der Not heraus hat er es gemacht und es hat ihm geholfen. Er hatte eine gute Schulbildung und kam aus einer guten Familie. Sein Vater war Pastor, ein studierter Pastor, was in Griechenland in der Generation meines Schwiegervaters nicht selbstverständlich war. Denn eine Zeitlang haben sie in Griechenland Pastoren genommen, die einfach nur lesen und schreiben konnten, denn es gab keine anderen. Darum war das ganz ok.

Ich habe mittlerweile einen guten Kontakt zu meiner ersten Tochter. Sie ist jetzt 37, wohnt in Leeds, hat lange in London gelebt. Verheiratet, geschieden. Ich habe einen Enkelsohn, den Theo. Bei ihm sind die Gene richtig rausgekommen. Er ist ein echter „Zigeuner“. Auch das Erscheinungsbild! Man hat ja Klischees: schwarze, lange Haare, schwarze Augen…. Meine Tochter hat studiert, sie hat ihr Leben gut im Griff. Ich habe sie drei Tage nach ihrem 18. Geburtstag wiedergesehen. Ich hatte ihr eine Karte zum Geburtstag geschickt, nach dem Motto: „Wenn du mich wiedersehen möchtest, gern“. Mit Adresse usw… 2 Tage danach war sie da. Wir besuchen uns gegenseitig. Als sie noch in London war, war es ein bisschen einfacher. Da wo sie jetzt wohnt, ist es nicht so einfach, aber es klappt.

Ich habe also 3 Kinder, mein Mann 2. Ich hab noch die Doris, die dieses Jahr 30 wird und die Rosalia, die 22 wird.
Als ich mein zweites Leben als Deutsche begonnen habe, habe ich kein Deutsch gesprochen. Ich habe Gelsenkirchener Platt gesprochen. Die Sprache meiner Kindheit war nicht das Deutsch, das wir kennen. Das war ein anderes Deutsch. Da hat man mich immer gefragt: Aus welchem Jahrhundert kommst du? Was sprichst du für eine Sprache?
Ich denke, jetzt habe ich ziemlich gut Deutsch gelernt, dafür aber mein Griechisch verlernt. Eine Sprache, die man nicht nutzt, ist eine tote Sprache. Ich kriege die Entwicklung der Sprache nicht mit. Wir bekommen öfter Besuch oder Künstler aus Griechenland oder von meiner Tochter. Da wird heute ganz anders gesprochen.

Wir sind also wie gesagt 1991 endgültig nach Deutschland gegangen. Mein Vater war gestorben und da sagte meine Mutter: „Kommt nach Deutschland, da habt ihr bessere Möglichkeiten.“ Damals hatte man auch bessere Möglichkeiten. Da sah die Welt ein bisschen anders aus. Dann sind wir also gekommen. Wir hatten eine Schneiderei in Schalke-Nord. Ich konnte ja nähen und das hatte ich nach der Trennung von meinem Mann noch ein bisschen weiterentwickelt. Ich habe die Buchführung in einem kleinen Unternehmen, in einer Musterschneiderei gemacht und nachmittags in der Pause bin ich immer nach oben gegangen und habe ein bisschen an den Maschinen herumprobiert. Ich bin ja ein neugieriger Mensch. So konnte ich die Maschinen alle bedienen. Die Kombination war also ganz gut und so konnte ich die Schneiderei an der Schalker Meile aufmachen. Da war noch Leben. Es fing zwar langsam an, abzubröseln. Aber da war noch Leben. Mein Mann war kein Schneider, er hatte Maschinenmechaniker gelernt, aber die Not macht erfinderisch. Wenn man muss… Da kriegt man Sachen dreimal gezeigt und entweder man kapiert es oder man hat nichts auf der Gabel. Sage ich mal so. Und er hat es kapiert. Er war willig zu lernen.

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1998 habe ich angefangen, beim Falken-Bauverein zu arbeiten. Zuerst in dem Julius B- Projekt in Bismarck ("JULIUS B." Projekt für Jugendliche und zur Vernetzung der Vereinsaktivitäten). Wir haben den Laden zugemacht und mein Mann ist zu meiner Mutter in den Laden auf der Wanner Str. gezogen.

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Ich habe parallel im Lalok angefangen. Das gibt es ja schon fast 40 Jahre. Zuerst war es an der Ecke Unkelstr, Poensgenstr. in einem ehemaligen Gemüseladen. Es platzte aber aus den Nähten. Dann gab es die Idee von der Stadt – einer muss ja die Miete bezahlen – diesen Trägerverein zu gründen. Es gab auch noch in Resse den Saftladen und PUK in Horst. Die gibt es auch beide noch. Seit 2011 sind wir sogar ein eingetragener Verein. Wir kriegen auch noch Zuschüsse von der Stadt. Die Fixkosten kriegen wir von der Stadt. Wir haben uns in den Jahren mit Unterstützung der Stadt Gelsenkirchen und mit Förderprogrammen entwickelt. Allerdings, dieses Jahr haben wir keine Förderprogramme gekriegt und das trifft uns sehr hart, weil wir etwas Großes aufgebaut haben. Und jetzt verbluten wir. Wir können es nicht aufrechterhalten. Und unsere Klientel, mit der wir die letzten 5 Jahre gearbeitet haben ist ja noch da. Die hat sich nicht in was weiß ich aufgelöst. Die Menschen sind da. Die kommen weiter. Wir machen hauptsächlich Förderung der Kinder- und Jugendarbeit. Wir haben uns als Ziel gesetzt: Integration durch Kultur. Es war schon immer so, dass dieser Verein gestanden hat für – ich sage mal das böse Wort – für Leute, die keiner haben will. Unsere Türen waren offen. Ob es der Türkische Arbeiterverein war, die Libanesen, die Kosovo-Albaner, die Roma von der Hauptschule Grillostr., damals mit dem Schülerclub. Den jüdischen Verein KINOR von Frau Kubenko wollte auch keiner haben.

Ich war 1984 das erste Mal in den Räumlichkeiten. Da haben wir ein griechisches Fest gefeiert. Es war schon ein bisschen komisch: der 24.3. ist nach griechischer Tradition der Tag, an dem die Revolution der Griechen gegen die Osmanen angefangen hat (1821). Die Griechen sagen immer gegen die Türken, obwohl es sie damals nicht gab. Da standen zwei Jungen in Tracht vor der Tür und sie haben die Gäste empfangen. Und sie trugen Waffen: ein türkisches Schwert, wie sie es damals hatten. Und mein Kollege Manni Fokkink fand das katastrophal. Die Zeitung auch. Trotzdem gab es in Bild im Stadtspiegel. „Wie können Kinder Waffen tragen!“ Aber in Griechenland ist das an einem solchen Tag Normalität. Darum frage ich immer: Was ist für dich normal, für mich? Die Normalität kann für jeden eine ganz andere sein.

Dann kam ich 1989 noch einmal hierein. Am Wochenende waren die Spanier vom Spanischen Verein in der Josefstr. immer hier gewesen. Langsam haben wir den Laden nach und nach wieder erobert. Der Kollege vom Spanischen Verein sagte immer: „Die Frau kommt wieder hier rein!“ – „Was heißt das jetzt „die Frau“?“ – „Du kommst immer wie so ein Bulle rein!“
Wir brauchten ja den Raum. Wir hatten sehr viele Kinder. Sie haben den Raum für sich wieder entdeckt. Wir hatten immer mittwochs die Kindergruppe mit meiner Nichte. Peu à peu haben wir den Raum umgestaltet, viel Geld reingesteckt, denn hier war es Bruch und Dalles. Das ganze Haus ist Bruch und Dalles. Wir versuchen es im Rahmen unserer Möglichkeiten menschenwürdig zu halten. So bin ich hier.

Der Verein ist hier zur Miete. Wir haben unten ungefähr 240 m2. Direkt darüber haben wir jetzt eine Wohnung mit 2 Räumen. Da sind die Büros. Wir werden ja größer und in Deutschland heißt das: viel Papier. Das Papier muss gelagert werden. Dann haben wir noch die Eckwohnung hier direkt drüber. Da haben wir den Nähraum, eine Küche, ein Kostümzimmer, wo wir die ganzen Kostüme aufbewahren und daneben einen Musikraum. Und dann haben wir noch eine andere Wohnung, das ist unser Schulungsraum. Das ist ein großer Raum, eine Anliegerwohnung mit einer kleinen Küche, wo wir Sprachkurse und solche Sachen machen. Wir sind räumlich expandiert. Wenn du vieles anbietest, brauchst du auch den Raum dafür. Das geht nicht nur hier unten in unserem „Wohnzimmer“.

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Ja und nun, wie bin ich auf die Idee gekommen, das alles zu machen? Ich war als Kind schon bei den Pfadfindern, habe sehr viele Fortbildungen gemacht, habe alles mitgenommen, was man mitnehmen konnte. Ein bisschen soziale Ader, sage ich mal so. Einer hat mir mal gesagt, als Mutter trifft man bessere Entscheidungen als als Fachfrau. So hat sich das ergeben, dass ich hier gearbeitet habe. Ich habe ehrenamtlich nicht hauptamtlich hier gearbeitet. Bei Julius B. war ich hauptamtlich aber im Büro. Dann habe ich alle Fortbildungen gemacht, die es gab: Jungsförderung, Mädchenförderung, jungsspezifische Kinder- und Jugendarbeit, mädchenspezifische Kinder- und Jugendarbeit, Zeitmanagement – ich kann mit meiner Zeit immer noch nicht umgehen - , Stressbewältigung – ich glaube, ich brauche demnächst Supervision -, … Ist gut, wenn man das alles macht. Irgendwann braucht man das.

Zwei Jahre habe ich bei Julius B. ehrenamtlich das gemacht, dann habe ich eine Fortbildung als Organisationsfachfrau gemacht: „genderdiverses Management“ – das muss ich mir alles aufschreiben – das war eine Fortbildung von der evangelischen Kirche für Frauen mit Migrationshintergrund, die schon mal studiert hatten. In Griechenland, in meinem anderen Leben, hatte ich schon mal studiert als Betriebswirtin. Dann war ich bis heute in verschiedenen Projekten. Teilweise ehrenamtlich, teilweise mit kleinen Honoraren. Was das Lalok betrifft, bin ich immer noch ehrenamtlich. Ich bin mit einer halben Stelle bei der Diakonie und mach vormittags drei Stunden Beratung für die rumänischen Mitbürger aus Schalke. Das Andere ist ehrenamtlich. Diesen Job kannst du nicht bezahlen. Da musst du schon bekloppt sein. Wir haben hier Leute, die ehrenamtlich arbeiten, Leute, die Aktiv-Jobber sind, Sozialstunden ableisten. Aber wenn du Aktiv-Jobber bist und bist heute am Samstag hier, hast du den Gong nicht gehört, sage ich mal. Dann macht man das irgendwie auch ehrenamtlich. Ganz vieles wird hier auf tatsächlicher ehrenamtlicher Basis gemacht und ich denke, dass die Leute, auch wenn sie hierfür 3,50€ die Stunde bekommen… das ist wie so eine kleine Aufwandentschädigung für das Leben, das sie hier lassen.

So bin ich also im Lalok gelandet und versuche das hier zu meistern. Hartes Brot, sage ich jetzt mal so. Nicht nur die räumlichen Bedingungen, nicht nur die finanziellen Bedingungen, nicht nur die menschlichen Bedingungen. Das was mich – und teilweise den Vorstand – besonders beschäftigt, ist die Nachhaltigkeit. Ich sehe da keine. Ich denke, wenn ich weg bin, wird der Laden zusammenbrechen. Ich weiß es nicht, aber so wird er nicht funktionieren. Auch die Doofen sterben irgendwann aus. Und ich muss ehrlich sagen, unter diesen Bedingungen würde ich keinem raten, weiterzumachen. Zwischendurch habe ich den Eindruck, dass wir gar nicht gewollt sind. Wir denken, wir kämpfen wie Don Quijote gegen Windmühlen. Wir haben nur Wind, keine Mühlen, auch keinen Esel, auf dem wir reiten könnten. Diese Projektlandschaft, die sich entwickelt hat, lässt uns, kleinen Verein, verbluten. Wir haben keine Möglichkeit große Anträge zu stellen. Und wenn es nicht diese individuellen Menschen aus der Verwaltung oder Politik gäbe, die vielleicht einen kleine Sinn sehen, in dem was wir hier machen, dann hätte ich schon lange das Handtuch geschmissen. Und ich denke auch, dass das, was wir hier machen, das machen wir oft aus Trotz. Mittlerweile sind wir in einer Trotzphase nach dem Motto, den anderen zu beweisen: das, was wir hier machen, ist wichtig. Für uns, für den Stadtteil, für die Menschen, die in unserem Kreis sind, ist es wichtig. Noch wichtiger. Aber ich weiß, dass es mittlerweile sehr schwer ist, den Leuten zu beweisen, dass das, was du machst, wichtig ist. Man kennt das auch aus der Politik.

Thema Politik! Es gibt die Auffassung, Politik sei was für besondere Menschen. Für mich sind besondere Menschen die Leute, die einen Migrationshintergrund haben oder andersdenkend sind. Oder die einen anderen kulturellen Hintergrund haben. Sie ticken nämlich anders, auch politisch. Und in der Politik, gibt es oft Diskussionen darüber, ob man mit diesen Leuten anders umgehen muss. Das heißt, ob man Foren schaffen soll, in denen nur diese Leute sich austauschen können. Ich weiß nicht, ob dieser Ansatz richtig ist. Ich habe meine Probleme damit, weil ich denke, die Probleme, die diese Menschen haben, haben alle anderen auch. Sie haben vielleicht ein Problem-Plus, aber grundsätzlich sind die Probleme, die sie haben die, die jeder Bürger hat. Auch sie sind arm, sind betroffen vom der Arbeitslosigkeit, von der Unvereinbarkeit von Familie und Beruf usw… In meiner Partei gab es in Gelsenkirchen schon Anläufe. Vor ca. 10 Jahren war ich Vorsitzende einer Gruppe, die ProMi hieß, Pro-Migration. Wir haben eine Gruppe gebildet, wo wir versucht haben – ich sage versucht, weil es am Ende im Sande verlaufen ist – verschiedene Kulturen zusammenzubringen und inhaltlich politisch zu diskutieren. Zweck der Übung war: wie können wir es schaffen, dass die Leute, die hier sind und wahlberechtigt sind, weil sie entweder einen deutschen Pass haben oder EU-Bürger sind und somit an bestimmten Wahlen teilnehmen dürfen, wie können wir sie für unsere Partei oder allgemein für Politik interessieren. Es hat nicht funktioniert und es lag vielleicht an der Partei oder an anderen Sachen. In der Gruppe waren Leute, die sowieso schon an Politik interessiert waren. Neue konnten wir in dem Sinne nicht gewinnen.

Politik machen wir jetzt jeder in seinem kleinen Kreis. Es muss nicht Parteipolitik sein.
Die Pro-Mi war für mich der Einstieg in die Politik. Ich habe damals für den Integrationsrat kandidiert. Es hat leider – oder zum Glück - nicht geklappt. Jetzt bin ich in der 2. Periode in der Bezirksvertretung Mitte. Wir sind keine Entscheidungsträger, haben nur beratende Funktion und wie überall in der Politik sind die Struktur ziemlich festgefahren und es kommt wenig Neues. Was mich aber ein bisschen inspiriert, ist die Politik, die wir mit den neu Zugewanderten machen. Kaum zu glauben: die haben eine politische Meinung. Sie gehören keiner Partei an, aber sie verstehen was läuft. Die Rumänen und die Bulgaren durften bei der Kommunalwahl wählen und sie haben es auch getan.

Ich bin vor Ort, hier in Schalke, politisch. Kleine Einsätze klappen, andere nicht. Ich mache Politik ohne große Worte, sondern praktisch. Ich versuche die schönen Begriffe „Chancengleichheit“, „soziale Gerechtigkeit“ usw… hier mit Leben zu füllen.

Hier ist auch (mit Mani Fokkink zusammen) 2008 die Idee der Migradonna entstanden. Es ist ein Preis für Frauen, die in einem Migrationsverein tätig sein oder mit ihrer Arbeit zur Integration beitragen. http://www.gelsenkirchener-geschichten. ... php?t=3577 Ich habe es Jahre lang organisiert. Jetzt habe ich es abgegeben. Keine Zeit mehr!

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Ich kann unseren Tagesablauf beschreiben. Wir fangen morgens um 9 Uhr an. Erstmal Hausarbeiten: sauber machen, überlegen, was die Kinder zum Mittagessen kriegen. Mittlerweile haben wir ca. 15 Kinder, die jeden Mittag hier essen. Das sind rumänische, griechische, deutsche, bulgarische Kinder. Das ist scheißegal, woher sie kommen. Zu Hause gibt es bei denen zum Teil nichts zu essen. Das Problem ist aber noch, dass sie besondere Wünsche haben. Man denkt, wenn man Hunger hat, isst man alles. Aber was sie nicht kennen, essen sie nicht. Ich kann denen keine Sauce mit Sahne anbieten, wenn sie nicht wissen, was das ist. Ich esse nur das, was ich kenne oder Brot.
Und ich habe wirklich Probleme mit der deutschen Bürokratie. Ich habe mir zum Beispiel erlaubt für ein Ferienprogramm 2€ pro Kind pro Tag für ein Lunchpaket zu beantragen. Und dann kommen die Fragen: Was ist das für ein Lunchpaket, wie wird das eingepackt, schmieren die Kinder die Brote selbst. Ich antworte: Ja, wenn sie wissen, dass die Butter aufs Brot kommt und nicht mit dem Löffel gegessen wird. Das hatten wir mal im Zeltlager. Am Ende kam die Frage: Warum bringen die Kinder die Pakete nicht von zu Hause? - Weil die nichts zu essen haben zu Hause. Ich habe gesehen, was sie mitbringen: eine große Flasche Wasser und vielleicht ein Paket Chips. Ich glaube, die Leute im Stadtteil haben nicht mitgekriegt, mit welchen Leuten wir hier arbeiten. Und dann zweifle ich an dem, was ich mache. Mache ich es verkehrt? Nicht deutsch genug? Nicht konventionell genug? Vielleicht muss ich für jedes Essen Protokoll schreiben? Ich werde irgendwann sagen: „Tut mir leid. Ich bin keine Studierte, ich bin noch nicht mal Hausfrau. Ich kann solche Anträge nicht ausfüllen. Das pädagogische Konzept kann ich nicht darstellen.“ Wir haben unsere Probleme hier und solche Sachen führen zu Frust. Ich beschäftige mich 5 Stunden mit einem Antrag über 1500 €.. Und ich bin noch nicht mal sicher ob ich die 1500€ kriege. Für 15000€ würde ich es machen. Und das Mittagessen können wir nur dank der Unterstützung der Tafel bewältigen. Würde die Tafle aufhören, hätten wir ein Problem. Danke an die Tafel. Die hat uns die ganzen Jahre unterstützt.
Zurück zum Tagesablauf.

Wir haben einen Aktiv-Jobber, den Leo. Er ist ein serbischer Flüchtling. Der kocht für die Kinder. Die ersten Kinder kommen schon um 11 nach der Schule. Das Erste, was sie sagen, ist: ich habe Hunger. Dann kriegen sie ein Butterbrot oder was auch immer. Hausaufgabenbetreuung kommt dann. Zwischendurch machen wir Beratung. Wir können die Leute nicht wegschicken. Wir müssen das sowieso für Schalke machen. Es kommen täglich 4, 5, 6 Leute zur Beratung. Dann essen wir alle zusammen wie eine Familie. Das ist etwas, was die Kinder lernen müssen. Das ist nicht selbstverständlich. Dann fangen die Angebote an: basteln, malen, was auch immer. Das ist schwierig, weil die Kinder nicht wissen, wie man eine Schere hält. Die können auch die Sprache nicht. Wir lernen also zwischendurch auch Sprache. Dann kommen die Sprachkurse. In Kooperation mit der AWO. Ein Kurs vormittags, ein Kurs nachmittags. Dadurch kommt für die Nutzung der Räume ein bisschen Geld rein. Aber das sind die Menschen, die sehen, dass sie uns indirekt unterstützen müssen. Danach überlegen wir z.B.: was machen wir Ostern? Wir haben zwei große Veranstaltungen. Dann Buchführung, Briefverkehr. Es muss gespült werden. Wir haben einen Schaden hinter der Theke. Er muss behoben werden. Wir müssen uns mit der Hausverwaltung auseinandersetzen, all diese kleinen Sachen. Und irgendwann ist 19.00 Uhr. Was habe ich eigentlich gemacht? Eigentlich gar nichts. Schon wieder ein Tag vorbei und unserer Projektabrechnung haben wir gar nicht fertig, damit neues frisches Geld reinkommt. Und die Akquise von Projekten. Das ist Klinkenputzen! Du musst jemanden haben, der Klinken putzen geht. Mittlerweile bin ich an dem Punkt, wo ich sage: die Leute sehen mich lieber gehen als kommen. Sie denken: „Da kommt sie schon wieder!“ Innerlich bin ich schon wieder dabei, das Geld zu zählen zu überlegen, was wir machen und wie wir das machen, wen kann ich einspannen… Und ich sage es immer wieder: Ich finde es schade. Dass ich mich selbst ausbeute, ist meine Sache. Aber ich beute meine Familie aus, ich beute Leute aus, bewusst mache ich das. Und das finde ich nicht schön. Aber das kommt aus der Not heraus. Sonst können wir den Schlüssel drehen, zumachen und gut ist! Schwere Zeiten für Prinzessinnen und Prinzen. Zum Teil sind wir verbittert, enttäuscht, wir haben zurzeit schlechte Stimmung. Aber wir versuchen das aufrecht zu erhalten. So gut es geht. Ob es funktionieren wird, wissen wir nicht. Du kannst den Laden, so wie wir ihn aufgebaut haben, nicht mehr nur ehrenamtlich bedienen. Ehrenamtler können zuarbeiten, aber wir können das nicht hundertprozentig ehrenamtlich machen. D.h. wenn du Personal brauchst, Personal, auch wenn es unterbezahlt wird – manchmal würden sie mit Hartz IV besser da stehen, als wenn sie hier arbeiten – dafür brauchst du Geld. Aber wenn nichts kommt…

Das ist hirnrissig. Das kann doch nicht sein, dass wir hier eine Struktur aufbauen – wir waren ein unstrukturierter Haufen, so habe ich uns genannt. Wir hatten schon eine Struktur, keine deutsche Struktur, aber wir hatten schon eine. Es kann nicht sein, dass wir so viel Geld kriegen, dass wir uns eine Struktur aufbauen und jetzt haben wir es geschafft, dass wir im deutschen Sinn funktionieren und jetzt lassen sie uns fallen. Wir haben keine Rücklagen. Wovon! Wir haben das, was wir gekriegt haben, ausgegeben für das, wofür wir es brauchen. Ich sage es noch einmal: Würde es die Leute nicht geben, die uns indirekt unterstützen… Wobei ich die Gefahr sehe, dass die Leute, die uns unterstützen auch älter werden. Und dann werden neue kommen. Die Neuen werden nicht unbedingt verstehen, was hier passiert. Und dann ist der Zug hier weg. Ich bin nicht positiv eingestellt. Als Mensch schaffe ich es nicht mehr. Ich brauche Unterstützung, aber nicht nur ideell nach dem Motto: „Ihr macht gute Arbeit“. Ich brauche hier Unterstützung. Wir sind schon die Grillmeister in Gelsenkirchen. (Damit kommt auch Geld rein.)

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Aber ich will und kann mir nicht noch mehr solche Aktionen aufladen, um die Aufgaben einer Kommune aufzufangen. Das ist nicht meine Aufgabe. Dass wir in Schalke nie ein Jugendzentrum haben werden, das ist mir bewusst. Der Zug ist abgefahren. Meine Kollegen haben das nicht mal geschafft, als es noch Geld gab. Aber wir müssen versuchen das, was wir haben, am Leben zu erhalten. Mein Leben geht weiter. Es wird noch lange weitergehen, hoffe ich. Das wird hier weitergehen, irgendwie, mehr schlecht als recht oder vielleicht gut. Wir träumen noch vom edlen Spender, den es nicht gibt. Oder vielleicht doch. … Und unser Motto hängt da: Mut zum Träumen, Mut zum Kämpfen. Wir träumen von einer heilen Welt. Ich möchte für meine Kinder, für meine Enkelkinder, für alle Kinder eine bessere Welt. Was eine bessere Welt ist, weiß ich nicht. Ist auch relativ. Jeder hat eine andere Vorstellung. Irgendwann wird mein Geist hier schweben. Ich habe noch ein paar Tage hier, noch 5 Jahre bis zur Rente. Und danach sehen wir weiter. So bekloppt, das hier so weiter zu machen, kann keiner sein. Vor mir war meine Mutter, die war noch bekloppter! Und vor ihr gab es anderer Bekloppte. Vielleicht gibt es nach mir auch einen, aber ich sehe im Moment keinen am Horizont. In meiner Kristallkugel sehe ich nur Nebel!!
Oder gibt es vielleicht doch noch ein Licht am Ende des Tunnels? Es könnte schon sein…

[center]Das wünsche ich dem Lalok auf jeden Fall!
Danke an Venetia für die schönen Gespräche!
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[center]Im Lalok hängt auch dieses Dankesschreiben:[/center]

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Zuzu

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zuzu
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Beitrag von zuzu »

Ich muss eine Unterlassung gestehen und korrigieren. Ich habe es versäumt, mich bei HeinzO. für seine Unterstützung zu danken. Er hat nämlich die Fotos gemacht. :oops: :up:
Zuzu

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Heinz O.
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Beitrag von Heinz O. »

zuzu hat geschrieben:Ich muss eine Unterlassung gestehen und korrigieren. Ich habe es versäumt, mich bei HeinzO. für seine Unterstützung zu danken. Er hat nämlich die Fotos gemacht. :oops: :up:

OT: 1% Arbeit von mir und 99% von dir :D
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Fuchs
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Beitrag von Fuchs »

An euch alle 3 ein Dankefür!
Interoperabel!

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staudermann
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respect

Beitrag von staudermann »

was eine hammer geschichte bin schwer beeindruckt

danke sü sü heinz mike venetzia
thomas linke fussballgott
komm wir essen opa

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