Der Hungerwinter 1946/47

Auswirkungen der Natur auf Gelsenkirchen und seine Einwohner

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Oliver Raitmayr
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Der Hungerwinter 1946/47

Beitrag von Oliver Raitmayr »

Wie hat die Stadt Gelsenkirchen den härtesten Winter des 20. Jahrhunderts erlebt?

Gibt es diesbezüglich relevantes Fotomaterial oder Geschichten?

Oliver

Oliver Raitmayr
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Beitrag von Oliver Raitmayr »

Diese Beschreibung einer Gladbeckerin wurde in der WAZ 2011 veröffentlicht und schildert die damalige Situation in der Nachbarschaft von GE: http://www.derwesten.de/staedte/wattens ... 91888.html

Oliver

Schacht 9
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Beitrag von Schacht 9 »

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Kinder werden notversorgt.

von waldbröl
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Beitrag von von waldbröl »

Meine Oma hat mir erzählt, dass sie zum Hamstern nach Coesfeld und ins Münsterland mit dem Zug gefahren ist. Sie arbeitete zu der Zeit auf der DELOG am Ziehtisch wo das Glas aus dem Ofen kam. Mitarbeiter konnten für kleines Geld Glasscheiben kaufen ( Das war auch zu meiner Zeit auf der DELOG so )
Die Glasscheiben tauschte sie bei den Bauern gegen Kartoffeln, Gemüse, Speck und Wurst.
Nur so konnte man in dieser schlimmen Zeit einigermaßen überleben. Das ging aber auch nach dem Hungerwinter trotz Lebensmittelmarken noch einige Jahre weiter. Selbst nach der Währungsreform 1948 als es in den Geschäften plötzlich, alles zu kaufen gab, ging es den Menschen, vor allem in den Ruhrgebietsstädten schlecht.
Die Lebensmittelmarken wurden dann 1950 abgeschafft. Hat aber so recht keinem genutzt, die Bevölkerung war arm und konnte sich nichts leisten. So richtig satt geworden sind eigentlich wenige. Wir hatten dann einen kleinen Garten in dem so ziemlich alles angebaut wurde. Wurde dann eingekocht und im Keller gelagert. Dann gab`s lange Zeit eingekochtes Gemüse.

Wolle

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rapor
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Beitrag von rapor »

Je älter ich werde, desto dankbarer bin ich, nie solches Leid erfahren zu haben!
Noch nie musste ich hungern, hatte ich kein Dach über dem Kopf oder musste fliehen.
Signaturen lesen ist Zeitverschwendung!

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Heinz O.
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Beitrag von Heinz O. »

Gegen Hass, Hetze und AfD
überalteter Sittenwächter

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Lorbass43
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Beitrag von Lorbass43 »

Es war kein Krieg mehr .... in Deutschland war Tod, Angst, und Verzweifelung. Die Deutschen interessierte der Frieden nicht. Sie waren besiegt, geschlagen aber auch in gewissen Sinne erleichtert, dass der Alptraum vorbei war.
Als Flüchtlinge aus Ostpreussen kamen wir über Berlin nach Bielefeld und ich durfte dort einige Monate in den Kindergarten gehen. Es gab da jeden Tag warme Suppe, die “Tanten” waren nett zu mir, obwohl ich ein Flüchtlingskind war - und katholisch, alle anderen waren evangelisch.
Ja, auch hier hatten Fürsten in vergangenen Zeiten beschlossen, “Unsere Untertanen glauben das, was wir glauben zu glauben”. Aber jetzt waren wir auf dem Bahnhof Buer-Nord angekommen und von da aus ging es zu Fuß ca. 3 Km vom Nordring und der Feldhauserstr. zum Juliusweg nach Scholven.
Gerne wäre ich in Bielefeld geblieben, da war der Kindergarten und die Suppe, Onkel und Tante Voß, so nannte ich die Leute - und durfte das auch - die uns Flüchtlinge, vom Magistrat zugeteilt, aufnehmen mussten.
In weiten Teilen der Bevölkerung, die auch ausgebombt war und selbst nichts mehr hatte, wurden die Menschen aus den Ostgebieten des ehemaligen Großdeutschen Reiches nicht mit offenen Armen willkommen geheißen.
Doch zurück ins zerbombte und in Schutt und Asche liegende Buer-Scholven und zum Juliusweg 3. dort hin zog es meine Mutter, meine Großmutter und mich im Frühjahr 1946.
Fast nichts zu essen jeder hatte Kohldampf ohne Ende. Alle machten sich auf die Reise zu so genannte Hamsterfahrten oder auch „Fringsen“ genannt ( = von Kardinal Frings/Köln gebilligte das nicht rechtmäßige beschaffen von Grundnahrungsmitteln.)
Kohle, die aussem Pütt, war ein gängiges Zahlungsmittel denn es war in dem Winter Saukalt. Die letzte Habe wurde für Kartoffeln verschachert.
Es taucht der Witz auf von dem Bauern, der den Kuhstall bereits mit Teppichen ausgelegt hat. Es wird ja schnell verallgemeinert, wenn auch zugegeben werden soll, das nicht wenige Bauern aus der Not viel Gewinn gemacht haben.
Trampelpfade führten an Bombentrichter vorbei, aus denen im Sommer eine bunte Flora - Fliederbüsche, Goldregen, Dahlien, Liguster - um nur einige Gewächse zu nennen als stumme Zeugen von einer friedvolleren Vergangenheit und Menschen die hier lebten Zeugnis gaben .
In diesem Gemisch von Häuserresten und den dazu gehörigen Gärten stöberte ich unter der Führung älterer Jungen herum. Alles konnte gebraucht werden Jedes Brett oder Eisenträger das wir tragen konnten wurde nach Hause geschleppt. Als etwas ganz besonderes galten Stanniolstreifen, von Mosquito´s abgeworfen, um die deutschen Funkmessgeräte zu irritieren, die auf Stanniolwolken wie auf Bomberpulks reagierten. Zusammen mit dem “Silberpapier” aus den Zigarettenschachteln wurden Kindkopfgrosse Bälle gewickelt und dann beim Klüngelskerl verkauft. Johannis- Stachel- und Himbeeren waren zu finden und wurden mit Freuden gepflückt und sofort achilt.
Ich vergesse, und der Gedanke daran lässt mir das Wasser im Mund zusammen laufen nie den Geschmack von frischen Rhabarber. Die großen Blätter abgedreht, die Stangen Streifenweise von der Außenhaut befreit und dann an Ort und Stelle gegessen – herrlich.
Die Sorgen der Erwachsenen konnte wir Kinder nicht verstehen. Sie hatten zwar einen Neuanfang vor sich, doch die Vergangenheit ließ sie nicht los - eine Vergangenheit, die die Deutschen mit grausiger Handschrift geschrieben hatten. Wir sahen das anders.
Es war eng in diesem “Försterhaus“, wie es scherzhaft, aber auch mit zurückhaltenden Stolz, genannt wurde.
Oma und Opa F., die Großmutter Ida, die Kindern Helga, Anni, Gerda, Josef und Herbert (genannt Puman), Tante Ida mit ihren Töchtern Traudel und Gretel und den aus der Kriegsgefangenschaft heimkehrenden Söhnen Erich, Heinz, Walter, Helmut und Günther. Dazu kamen dann noch Oma Berta, meine Mutter und ich. Es mag heute fast abenteuerlich klingen, aber ich weiß, dass wir im Haus und Speicher auf dem Fußboden geschlafen haben. Die Ritzen zwischen den Dachpfannen wurden mit Papier verstopft, das sollte gegen Zugluft schützen.
Das gemeinsame Leben fand in der Küche und im Sommer vor der Haustür statt. Ein im Anbau zum Garten vorhandenes “Plumpsklo” war seinerzeit üblicher Standard. Toilettenpapier wurde aus Zeitungspapier in “handgerechtes” Format geschnitten oder große Blätter aus dem Garten genommen. Auf dem Hof der zum Garten führte, war ein Hühnerstall. Auf einem großen Hauklotz wurde Holz kleingehackt oder Federvieh ins Jenseits befördert. Ein Hahn - nicht richtig festgehalten - versuchte ohne Kopf zu entkommen. Den Andeutungen nach, haben auch Hasenbraten an den Festtagen - vorher mit einem langen Schwanz ausgestattet gewesen - hier ihr Ende gefunden. Es wurde dann von einem “Dachhasen” gesprochen.
So richtig sattwerden und wennet nur Schlapperkappes war, kam erst nach der Währungsreform.
Noch heute gehe ich mit Lebensmittel sorgsam um und kann "Reste" auf einem Teller nicht ertragen.
Hunger, selbst erfahren, kann verdammt wehtun.

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Rußnase
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Beitrag von Rußnase »

@Lorbass43

Danke für die lebendigen Zeilen!

Gruß aus Buer
Die Rußnase
Weisse watte bis? Lügen tuste - dat bisse!

Da die Fantasie eine feine Sache ist, sei an dieser Stelle folgendes erwähnt : Rußnase ist ein Kerl und keine Schickse! ;-)

Acapulco
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Der Hungerwinter 1946/47

Beitrag von Acapulco »

Anmerkung vorab. Diese Zeilen stelle ich auf Wunsch meiner Mutter (die sie selbst schrieb und am 24.12 1985 in der WAZ erschien)hier ein. Meine Erinnerungen an Weihnachten 1945. Das kostbarste Weihnachtsgeschenk unserer Mutter,das wir nie vergessen haben! Wie waren sechs Geschwister und lebten mit unserer Mutter in ständiger Angst vor der Vertreibung auf unserem Hof in Ostpreussen,der von Polen besetzt war. Von ihnen bekamen wir nur das Allernötigste zum Überleben,wenn Mutter mit der Hand Kleider für die Polenkinder nähte.Für jedes Kleid gab's eine Tasse Milch und einen kleinen Keil Brot. Ein Wunsch blieb unerfüllt. Am Tag vor Heiligabend schickte Mutter uns, meine Schwester und mich-11 und 9 Jahre-mit einem Bündel zum Dorf,um etwas Essbares einzutauschen.In diesem Bündel waren die Pelze von Vater und Mutter,die sie in einem Kartoffeldämpfer kurz vor Kriegsende im Wald vergraben hatte!Der Pole im kleinen Krug(Laden)gab uns dafür ein Stück Speck ca. (1 Kilo)und ein Pfund Butter! Mit diesem Reichtum kamen wir nach Hause-und Mutter weinte. Am Heiligabend bestrich sie uns jedem ein Stück Brot und gab es uns unter dem ungeschmücktem, aber herrlich duftendem Tannenbaum. Ausser dem einen Wunsch,dass Vater (der noch Heiligabend '44 zum Volkssturm musste) bald heimkehren würde,hatten wir keinen.Unser Wunsch blieb unerfüllt. Mutter hat uns alle durchbekommen. Sie war nur für uns da. Wir haben ihr alles gedankt,und sie ist hier 80 Jahre alt geworden. Anmerkung von mir: Traurige,und nachdenkliche Zeilen einer so schlimmen Zeit die ich glücklicherweise nicht erleben musste,und so hoffe ich, sich niemals wiederholen wird. LG Aca.

Oliver Raitmayr
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Beitrag von Oliver Raitmayr »

Danke für die bisherigen Beiträge!

Gibt es vielleicht auch Bilder zum Thema, in denen das Ausmaß der Wetterkapriolen sichtbar wird?

Gestern habe ich mit meiner Großcousine telefoniert, die sehr lebendige Erinnerungen an jene hat. Allerdings lebt sie heute und lebte schon damals in Bonn. Sie weiß ganz allgemein, von viel schneereicheren Wintern in ihrer Jugend zu berichten - auch im Ruhrgebiet -, und dass der zugefrorene Rhein im Hungerwinter und die nicht mehr funktionierenden Bahnverbindung ein großes Problem beim Hamstern gewesen seien.

Gelsenkirchen im tiefen Schnee - gibt es das?

Oliver

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Akkiller
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Der Hungerwinter 1946/47

Beitrag von Akkiller »

Natürlich gibt es auch Gelsenkirchen im Schnee!Hans Rotterdam hat in den 50er Jahren auch einige schöne Motive festgehalten!Es wurden im Forum auch schon einige gezeigt, oder geht es insbesondere um die Zeit 1946/47?? Gruß Kalle
Zuletzt geändert von Akkiller am 23.01.2016, 12:28, insgesamt 1-mal geändert.

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Akkiller
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Re: Der Hungerwinter 1946/47

Beitrag von Akkiller »

Akkiller hat geschrieben:Natürlich gibt es auch Gelsenkirchen im Schnee!Hans Rotterdam hat in den 50er Jahren auch einige schöne Motive festgehalten!Es wurden im Forum auch schon einige gezeigt, oder geht es insbesondere um die Zeit 1946/47?? Gruß Kalle
Anbei mal zwei Links zu Winteraufnahmen!

http://www.gelsenkirchener-geschichten. ... hp?t=13115
http://www.gelsenkirchener-geschichten. ... hp?t=13073

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Lorbass43
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Beitrag von Lorbass43 »

In Notzeiten waren Steckrüben die letzte Nahrungsreserve für einen Großteil der Bevölkerung. Sprichwörtlich geworden ist der Steckrübenwinter 1916/17 während des 1. Weltkrieges. Auch in den Hungerjahren nach dem 2. Weltkrieg verdanken viele Menschen ihr Überleben der Steckrübe.
Eine Hungerkatastrophe ungekannten Ausmaßes ließ sich schon 1945/46 nicht verhindern – zumal im darauffolgenden Sommer eine Kartoffelkäfer-Plage die Ernte schädigte und der Winter 1946/47 ebenfalls wieder zu einem der härtesten seit Menschengedenken zählte.
Dabei litten vor allem Kinder und Senioren. Viele Ältere verzichteten zugunsten der Jüngeren auf ihre Rationen, was zur Folge hatte, dass die ohnehin geschwächten Menschen einfachen Krankheiten erlagen.
Die Zahl der Hungertoten ist bis heute unbekannt.
Die Menschen waren häufig gezwungen, ihre Wertgegenstände, wennse denn noch welche hatten, wie Familienschmuck einzutauschen, um an etwas Essbares zu kommen und so die eigene Familie vor dem Verhungern zu retten. Gleichzeitig florierte der Schwarzmarkt. Gehandelt wurde mit allem, was sich tauschen ließ.
Auch alliierte Soldaten beteiligten sich. Ihre Zigaretten waren als eine Art Ersatzwährung besonders beliebt – ohne dass es den Behörden in der Region gelang, dem Handel Einhalt zu gebieten. Selbst harte Strafen hielten die Menschen nicht davon ab, sich auf dem Schwarzmarkt zu versorgen.
In der Folgezeit bildeten sich regelrechte Banden, die mit dem Elend Geschäfte machten. Auch Mitglieder der “försterlichen“ Familie waren vor der Währungsreform, als nur die Zigarettenwährung Geltung hatte, auf diesem Markt tätig. Ledermäntel waren das sichtbare Zeichen einer erfolgreichen Tätigkeit in dieser Branche. Es soll sogar deswegen jemand “eingesessen” haben.
Meine Mutter war Schneiderin - ja sogar Meisterin, wie auch meine Großmuter Berta. Aus allen verbliebenen Textilien wurden Kleidungsstücke genäht, gewendet und geflickt. Die Bezahlung erfolgte in Naturalien, denn von den Zuteilungen auf den Lebensmittelkarten konnte keiner satt werden. Lange Zeit war meine Mutter krank, die Strapazen von Flucht und Vertreibung forderten ihren Tribut. Wochenlang musste sie - ein Bein auf einem Bügelbrett hochgelegt - das Bett hüten. Da es noch keine elektrische Nähmaschine gab, wurde mit den Füßen getreten. So heilten die Entzündungen nie richtig aus. Meine Mutter hatte ein lebenslang Probleme mit ihren Beinen.
Wir sind ja von zwei Seiten, einmal vom Osten und einmal vom Westen, aber von 4 “Befreiern” 1945 befreit worden.
Im Pott waren die Engländer mit der Nordwestlichen Zone zuständig, deshalb hat das Land Nordrhein -Westfalen bis in die späten 90er Jahre die Verwaltungsstrukturen des Vereinigten Königreichs praktiziert. Die Doppelspitze Bürgermeister und Stadtdirektor möge ein Beispiel sein.
Unsere Soldaten waren in der Kriegsgefangenschaft. Es gab aber genügend Besatzungs-Soldaten, die das Fraternisierungsverbot nicht so ernst nahmen, und so wurden zwischenmenschliche Beziehungen beim Tanz geknüpft. Auf den Befehl, sich nicht mit Deutschen einzulassen, reagierten die Soldaten nämlich genauso, wie ihre Väter in den zwanziger Jahren auf das Alkoholverbot reagiert hatten. Vor allem, was Frauen anging. Das Verbot jeglichen Kontakts mit Deutschen bewirkte nur, dass die Tommys und GIs vorsichtiger waren, änderte aber nichts an ihrem Hunger auf deutsche Frauen.

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