Rumbalotte hat geschrieben:Aber diese Opfer sind Opfer geworden weil sie selbst und / oder andere dem von ihnen nicht bekämpften größenwahnsinnigen Führer die Treue hielten oder mehr.
Gerade in dem Moment, als heute Morgen die Sirenen heulten, las ich diesen Satz und stutzte. Ich las ihn mehrmals und dachte dabei an die Erzählungen meiner Mutter, die als Kind beim Klang der Sirenen in den Stollen an der Weststraße in Erle lief und dort in dieser muffigen, engen, stinkenden Höhle saß inmitten der anderen Kinder, Mütter und Alten und vor Angst zitterte, wenn die Detonationen näher kamen und die Erde bebte. Wenn die Geräusche immer unerträglicher wurden, die Menschen schrien, laut beteten und weinten. Wie dieses kleine Mädchen im Grundschulalter dabei an die geliebte Nachbarin dachte, die zu alt und schwach geworden war, um es noch in den Stollen zu schaffen und nun mit gefalteten Händen am Küchentisch in ihrer kleinen Wohnung saß, während im Nachbarhaus die Bomben einschlugen.
Wenn in meiner Kindheit, über 30 Jahre später, die Sirenen regelmäßig getestet wurden, dann stiegen in mir diese Bilder aus den Erzählungen meiner Mutter auf. Die Kinder waren Ziel der Nazi-Ideologie und der Luftangriffe. Sie saßen zwischen allen Stühlen. Sie waren nicht in der Lage einzuordnen, was um sie herum geschah. Sie waren ohnmächtig. Sie wollten nur leben. Sie waren hilflose Opfer.
Meine Eltern und ihre Altersgenossen, in deren Kindheit der Nationalsozialismus herrschte, waren keine Täter im Nationalsozialismus. Ihnen einen fehlenden Widerstandswillen vorzuwerfen, erniedrigte sie ein weiteres Mal. Sie waren den Nazi-Lehrern mit ihren sadistischen Strafen und dem militärischen Drill ausgeliefert. Dann erlebten sie unmenschliche Lagerführer in der Kinderlandverschickung. Schließlich sind sie mehrfach zu Hause knapp dem Tode entgangen: Tiefflieger, die auf sie zielten; Granaten, die Nachbarn vor ihren Augen zerfetzten; Besatzungssoldaten, die meinen Vater irrtümlich für einen Partisanen hielten und deren Maschinengewehrsalve ihn nur knapp verfehlte. Als bei Renovierungsarbeiten diese Einschusslöcher in der Wand neben der Kellertreppe wieder sichtbar wurden, sah ich als Kind die Angst in den Augen meines Vaters aufsteigen. Er hatte eine Kindheit erlebt, in der niemand Kind sein durfte. Eine Kindheit voller grausamer Erlebnisse und tiefer Wunden, die viele Kriegskinder bis zu ihrem Lebensende nicht zeigten oder gar verarzten ließen und die darum niemals heilen konnten.
Ich habe den obigen Satz nun mehrmals gelesen. Es steht dort tatsächlich, die Opfer wurden Opfer, weil sie den größenwahnsinnigen Führer nicht bekämpften. Wir sollten sehr vorsichtig sein mit diesen tausendfach heruntergeleierten Sätzen, die die Frage nach den Verantwortlichkeiten im 2. Weltkrieg pauschal beantworten sollen. Diese Sätze stimmen nämlich nie! Sie machen viele Opfer der Nazidiktatur unsichtbar. Es sind solche Sätze, die eine Abwehrhaltung bei denen hervorrufen, die damals Kinder waren.
Stell dir vor, es geht und keiner kriegt's hin.