Somewhere over the rainbow - Hans Stern erzählt

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Somewhere over the rainbow - Hans Stern erzählt

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Somewhere over the rainbow - Die Geschichte des Hans Stern

Deutsche Übersetzung der Autobiographie Hans Stern von Marlies Niehues.

Hans Georg Stern, geboren in Gelsenkirchen
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Die von-der Recke Straße in Gelsenkirchen heute

Meine Eltern waren Johanna und Moritz Stern, die 1924 in Gelsenkirchen wohnten. Im selben Jahr, am 11. Oktober 1924, wurde ich geboren, Hans Georg Stern. Ich glaube, wir wohnten in einer Mietwohnung in der Von-der-Recke-Straße, bin mir aber nicht ganz sicher. Ich weiß aber, wir wohnten dort vor unserer Auswanderung.

Mein Vater und meine Mutter hatten ein Herrenbekleidungs-Geschäft, ich glaube in der Bahnhofstraße, neben einem Kino. Das Geschäft lief gut, denn die beiden waren immer sehr geschäftig, wie ich mich erinnere. Mein Bruder und ich hatten in unserer frühen Kindheit ein Kindermädchen. Wir führten ein sehr angenehmes Leben. Mit sechs Jahren wurde ich in der dortigen Jüdischen Schule eingeschrieben, die auch mein Bruder besuchte. Als wir dann Deutschland verließen, etwa 2 1/2 Jahre später, konnte ich Deutsch lesen und schreiben, und natürlich auch sprechen, was mir ein Leben lang genutzt hat.
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Wolfgang und Hans Georg Stern (Rechts), 1929

Schon bald merkte ich, dass nicht alles in Ordnung war. Ich erinnere mich an Aufmärsche von Arbeitslosen auf der Straße, Fackelzüge, tagsüber und auch nachts Sprechchöre über Arbeitslosigkeit und Hunger. Eines Tages als mein Bruder und ich gerade auf dem Schulweg waren, griff uns eine Gruppe junger Rüpel an, die ganz richtig erraten hatten, dass wir Juden waren. Weil wir nämlich in Richtung auf die jüdische Schule unterwegs waren. Mein Bruder schaffte es, sie abzuwehren. Aber es beunruhigte uns, und wir fühlten uns von da an nicht mehr sicher.

Wir hatten ein einfaches Radiogerät, erinnere ich mich, und die Meldungen die wir hörten, wurden immer bedrohlicher. Als Hitler an die Macht kam, wendete sich alles zum Schlechten. Mein Vater war ein mutiger Mann, einer der ersten deutschen Juden, der die wachsende Welle von Antisemitismus wahrnahm, die nun jetzt festgeschrieben war und immer noch anwachsen würde. Er sagte uns, sobald die ersten Judengesetze erlassen würden, werde er Schritte unternehmen aus seiner Heimat zu emigrieren.

In Holland

Er stand zu seinem Wort. Irgendwann im Jahr 1933, das genaue Datum weiß ich nicht mehr, wurde unser Geschäft verkauft. Wir packten unsere Habseligkeiten und zogen nach Holland. Ein paar Wochen blieben wir in Amsterdam bei einer Grundstückmaklerin, die mein Vater wohl kannte. Sie fand ein großes Haus für uns in der Apollo Laan, einer schicken Straße im Süden der Stadt. Meine Eltern mussten nun eine neue Art finden, ihren Lebensunterhalt zu sichern, in einem anfangs ziemlich gastfreundlichen Land. Aber lies erstmal weiter! Keiner von uns konnte die Sprache. Meine Eltern entschlossen sich, eine Pension in dem großen Haus zu eröffnen. Sie hatten es entweder gemietet oder gekauft. Mein Vater war für das Geschäftliche zuständig und vermietete die Pension, an jeden, dem sie gefiel. Die meisten Gäste blieben bei uns wohnen, sogar noch, als wir viele Jahre später weggingen.

Wie ich schon sagte, kümmerte sich mein Vater um das Geschäftliche, Zimmer-Vermietung, Miete kassieren, Buchführung, Steuerangelegenheiten, Renovierungen. Meine Mutter hatte die schwierige Aufgabe, das nötige Personal zu finden, den Koch, Zimmermädchen, etc, und sie anzulernen und zu beaufsichtigen. Weil sie schon immer meinem Vater im Büro unseres Geschäftes als Sekretärin und bei der Buchführung geholfen hatte und auch bei allem, was gerade anfiel, hatte sie nie kochen gelernt. Das musste sie jetzt im Eiltempo. Sie musste die Menüs planen für eine sehr pingelige Gästeschar, wie sich zeigte. Die waren an 3 erstklassige Menüs täglich gewöhnt und forderten das auch. Zudem wurde das Einkaufen der Lebensmittel Mutters Job. Nicht eine Minute hatte sie Zeit für sich selbst. Wir Kinder waren ihr keine große Hilfe. Der Platz auf dem Dachboden wurde umgewandelt in zwei kleine Zimmer, eines als Schlafzimmer für meinen Bruder und mich, das andere als Elternschlafzimmer. Kellerräume wurden Schlafzimmer für Hilfskräfte, übrigens meist junge Mädchen aus Österreich, eine war aus Deutschland geflüchtet.

Bald darauf wurden mein Bruder und ich in die Grundschule des Ortes aufgenommen. Die ersten Monate waren echt schwierig. Ich verstand die Sprache nicht und verpasste so etwa 4 Monate Lernen. Dann schnappte ich langsam soviel von der Sprache auf, dass ich meine Lehrer verstand. Nach 2 Jahren sprach ich fließend holländisch, und das ohne Akzent! Mein Bruder und ich waren meist uns selbst überlassen. Unsere Eltern hatten keine Zeit übrig. Wir hatten zwar ein großes Haus, aber der einzige Raum für und zwei Jungen war unser kleines Schlafzimmer. Ich lernte und las in den Gemeinschaftsräumen unseres Hauses. Die waren mit hübschen Möbeln ausgestattet, wie es sich für eine First Class Pension gehörte. Da fand ich auch meinen Lieblings-Sessel, um einem meiner Hobbys nachzugehen, dem Lesen. Das andere entdeckte ich fast zufällig. Wie viele der anderen Flüchtlingskinder, die in Amsterdam untergekommen waren, besuchten mein Bruder und ich eine konfessionelle Schule zusätzlich zu der normalen. Mittwochsnachmittags mussten wir dorthin um etwas über unseren Glauben zu erfahren. Jedes Jahr veranstaltete diese Schule eine Theateraufführung, wobei die Rollen von Studenten übernommen wurden. Ich merkte bald, dass ich einfach die Bühne liebte. Schon vor der ersten Vorstellung hatte mich das Schauspielfieber befallen. Besonders gern brachte ich die Leute zum Lachen.

Als der Sommer 1936 kam, hatte meine Mutter genügend Routine in ihrer Pension, dass sie zum ersten mal nach Jahren Ferien machen konnte. Nach unserer Ankunft in Holland hatte mein Vater unermüdlich seine und Mutters Verwandte beschworen, Deutschland zu verlassen. Viele hatten auf ihn gehört. 1936 hatten wir Verwandte in Holland, Argentinien und in den Vereinigten Staaten. Mutters Schwester mit Familie lebte in New York. Dahin fuhr sie in Ferien. Nach ihrer Rückkehr bat sie meinen Vater dringend, auch für uns Immigration Visa zu beantragen, dass wir in dir USA einreisen könnten. Mein Vater war schnell überredet. Leider war es zu der Zeit praktisch unmöglich so ein Visum zu bekommen. Amerika erlaubte Einwanderung nur nach einem Quotensystem. An der Anzahl Deutscher, die in Amerika schon ihren Wohnsitz hatten, wurde bemessen, wie viele neue deutsche Einwanderer in einem bestimmten Jahr kommen durften. Weil viele deutsche Juden verzweifelt versuchten, das feindlich gesinnte Deutschland zu verlassen, und viele auch schon Familie in Amerika hatten, war logischerweise die Wahl auf sie gefallen und die Visa-Anträge stiegen in Rekordhöhe. Wir mussten noch Jahre auf ein Visum warten, schätzte man. Ja, das stellte sich leider als allzu wahr heraus.

In England, Holland, Belgien ...

Was sollten wir machen? Wir mussten eben warten. Im Sommer 1938 hatten mein Bruder und ich beide die Grundschule beendet. Da hatten meine Eltern die gute Idee, uns für kurze Zeit in ein englisches Internat zu schicken - es hieß Buxton College - damit wir schon mal im voraus etwas
Englisch lernten, bevor wie schließlich dorthin umziehen würden. So zogen mein Bruder und ich wieder mal in ein neues Land um, und in eine neue Schule, und kämpften damit, unsere dritte Sprache zu erlernen. Wir blieben zwei Semester lang in England und lernten tatsächlich soviel
Englisch, dass wir uns einigermaßen mit anderen unterhalten konnten, und auch halbwegs fließend lesen konnten. Es reichte jedenfalls, um später auf dieser Grundlage Englisch auf eigene Faust weiterzulernen.

Ende 1938 kehrten wir nach Holland zurück. Mein Bruder wurde nach Belgien geschickt um Französisch zu lernen, ich besuchte eine Handelsschule in Amsterdam, das Schoevers Instituut, wo ich noch eine wichtige Kunst erlernte: Maschinenschreiben. Meine Eltern erträumten sich für mich immer eine kaufmännische Karriere, was aber nie wahr wurde.

In London im 2. Weltkrieg

Im Juni 1939 holte unsere Familie das Unheil ein. Der Ausspruch meines Vaters, seine Familie zu überreden, Deutschland zu verlassen, muss einigen Nazi Größen unliebsam zu Ohren gekommen sein. Diese übten dann Druck auf die gefügige Landesbehörde in Holland aus. Denn ohne Vorwarnung wurde mein Vater bei der Einwanderungsbehörde vorgeladen und ihm auf der Stelle befohlen, sofort das Land zu verlassen. Wohin sollten wir gehen? Zurück nach Deutschland hätte den sicheren Tod für uns alle bedeutet, das wussten wir. Vater konnte zum Glück ein Visum für Belgien bekommen, nachdem er die Behörden im Belgischen Konsulat in Amsterdam davon überzeugt hatte, schon Einwanderungs-Visa in die Staaten beantragt zu haben. Meine Mutter regelte auf wunderbare Weise den Verkauf unserer Pension, und wir trafen Vater in Belgien. Lange konnten wir nicht bleiben.

Wieder mal mussten wir umziehen. Spät im August bekamen wir Transit-Visa und die Erlaubnis, nach England zu reisen. Wir zogen in ein überfülltes Viertel in London. Am 1. September begann der 2. Weltkrieg. Die Amerikanische Botschaft verlautbarte, alle Einwanderungs-Angelegenheiten würden bis zum Kriegsende aufgeschoben. Da saßen wir nun, wir vier, wohnten in zwei kleinen Zimmern. Mutter konnte ein bisschen Englisch, Vater (55) kein Wort, mein Bruder und ich, damals 14 und 15 Jahre alt, sprachen es gut genug, um uns recht und schlecht durchzuschlagen. Keiner von uns hatte eine Arbeitserlaubnis, unser begrenztes Vermögen schmolz dahin, obwohl wir jeden Penny zweimal umdrehten, bevor wir ihn widerwillig ausgaben.

Die Kriegszeiten in England waren trostlos. Lebensmittel und Kleidung wurden sofort rationiert, und an jeden von uns wurden Gasmasken verteilt, eine tägliche Erinnerung an die große Gefahr durch einen Feind, der auf dem Luftweg nur eine halbe Stunde weit entfernt war. Zu allem Unglück wurde es bitterkalt. Die Wasserrohre liefen außen an den Häusern entlang - warum auch immer - und froren regelmäßig ein. Unsere einzige Wärmequelle war der offene Kamin in einem Zimmer. Bald war es praktisch unmöglich, Brennmaterial aufzutreiben. Nachts streiften wir durch die Nachbarschaft, um irgendwas Brennbares zu finden: Papier, Holz, alte Kleidung, Lumpen etc. Weil der Zwang zu strengster Verdunkelung bestand, war unsere nächtliche Suche schwierig. Nur der Mond versorgte uns mit ein wenig Licht.

Bald merkten wir, dass wir unsere Unterkunft mit Ratten und Mäusen teilten, die nachts durch unser Wohn-Schlafzimmer wanderten, gelegentlich auch in unsere Betten streunten. Tagsüber schlugen wir leere Konservendosen platt, und nagelten damit alle Löcher zu, die wir in den Fußleisten an der Wand gefunden hatten. Leider waren die Ratten und Mäuse erfinderisch, und sobald wir die gefundenen Löcher zugenagelt hatten, nagten die Nager neue. Die Luftschutz-Sirenen pflegten regelmäßig zu heulen und uns hastig in den Keller zu scheuchen, zusammen mit der Hauswirtin und anderen Hausbewohnern.

Die meiste Zeit am Tag verbrachte meine Mutter mit dem Versuch, meinem Vater Englisch beizubringen mit Hilfe eines alten Lehrbuches, das wir fanden. Ein sehr beschwerliches Unternehmen. Schließlich lernte er die Sprache gut genug, um Radio und Fernseh-Shows folgen zu können, Zeitung zu lesen, einfache Unterhaltungen zu führen. Aber er wurde nie darin ein Meister. Die einzigen Leute, die meine Eltern in London kannten, waren ein paar sehr entfernte Verwandte, die in einer Wohnung in unserer Nähe wohnten und die wir oft besuchten. Dennoch schlossen wir Jungen Freundschaften mit anderen Kindern in der Nachbarschaft und spielten stundenlang Monopoly, wie ich mich erinnere. Ein Pfadfinder-Leiter war so nett, uns einzuladen, Mitglieder zu werden. So hatten wir ein bisschen soziales Leben. Auch entdeckte ich in der Nachbarschaft eine öffentliche Bücherei, und bald konnte ich stundenlang Bücher lesen.

Das Leben an Bord
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Die "Veendam"

Vielleicht am schlimmsten war das Leben in Ungewissheit. Was sollte bloß aus uns werden, wenn wir nach und nach unsere wenigen Reserven aufgebraucht hätten, wo man doch tagtäglich las und sehen konnte, wie alles nur noch schlechter wurde? Aber Mitte Januar 1940 wurde Vater zur Amerikanischen Botschaft vorgeladen. Man sagte ihm, unsere Visa seien tatsächlich da! Welch ein Wunder! Wir mussten eine medizinische Untersuchung über uns ergehen lassen in der Botschaft, und danach wurden die kostbaren Visa in unsere Pässe gestempelt.
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The wizard of oz - There's no place like home

Nachdem wir unsere Gasmasken und die Bezugsscheine am 26. Januar zurückgegeben hatten, gingen wir an Bord der Veendam der Holland-Amerika-Linie und legten von England ab. Das Leben an Bord war aufregend für uns. Es gab reichlich und sehr gut zu essen, ein fast sagenhafter Umschwung für uns, nachdem wir an knauserig bemessene Portionen gewöhnt waren. Das nterhaltungsprogramm war toll, und ich weiß immer noch, wie wir den neu erschienenen Film sahen "The Wizard of Oz". Was konnte es Schöneres geben?

Zwei Augenblicke...
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Die Freiheitsstatue

Da gibt es zwei sehr emotionale Augenblicke, die für immer in meinem Gedächtnis eingebrannt sind. Der eine ereignete sich eines Abends nach mehreren Tagen auf See, als ohne Vorwarnung die gesamte Schiffsbeleuchtung anging. Seit Anfang September 1939 hatten wir jeden Abend in totaler Dunkelheit verbracht. Die plötzliche Lichtflut war für uns wie ein Glücksschock, der nur eines bedeuten konnte: endlich waren wir außer Gefahr. Der andere Augenblick war, als wir am 5. Februar 1940 vorbei an der Freiheitsstatue in den Hafen von New York einliefen. Nun konnten wir endlich ein neues Leben beginnen, in der neuen Heimat, in einem Land in Frieden.

In den USA
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Johanna und Moritz Stern, die Eltern von Hans und Wolfgang, aufgenommen 1965

Wir zogen bei unseren erfreuten Verwandten ein. Bald schon würde es Zeit werden für wichtige Entscheidungen. Mein Bruder und ich wurden in der dortigen High School eingeschrieben, der George Washington High School in New York. Die Lehrer dort entschieden nach einem Blick auf mein Zeugnis, ich sollte eine Klasse besuchen mit Englisch als Zweitsprache, wie alle Kinder, die gerade in Amerika angekommen waren.... für einen Tag. Am nächsten Tag wurde ich in die normale Englisch Klasse versetzt.

Ein paar Wochen später entschied mein Vater, nach dem schrecklich kalten Winter sollten wir in Los Angeles wohnen, wo angeblich ewiger Frühling sei. Das war eine gute Idee. Die Fahrt dauerte mehrere Tage, die wir Tag und Nacht im Bus durchfuhren, weil ein Halt irgendwo unterwegs zu teuer geworden wäre. Nach dieser Busreise quer durchs Land kamen wir endlich an und bezogen eine Wohnung in der Innenstadt von Los Angeles. Vater fand schnell ein kleines Restaurant, das zu verkaufen war, und so halfen wir alle mit als Köche, Kellner und Geschirrwäscher, damit es ein erfolgreicher Standort wurde. Für Mutter und Vater war die Arbeit sehr strapaziös, weil das Restaurant 14 Stunden täglich geöffnet war. Mein Bruder und ich schrieben uns in der dortigen High School ein um unsere Ausbildung fortzusetzen. Wenn die Hausaufgaben fertig waren, sausten wir dann schnell ins Lokal.

Vater hatte immer noch seine liebe Mühe mit der Sprache und fühlte sich unsicher, wenn er mit Gästen verhandelte und mit den vielen Firmen, die Speisen und Getränke für das Restaurant lieferten. Er war in Ulrichstein geboren, in einer Bauernfamilie. Deshalb fühlte er sich vertraut mit der Landwirtschaft. Hinter den Hügeln, die Los Angeles begrenzen, aber noch
zur Stadt gehören, im San Fernando Valley, war immer noch viel Agrarland. Wir verzogen bald schon nach Van Nuys, einer Stadt, die zu Los Angeles gehört, im San Fernando Valley. Und da fing er mit einer Hühnerfarm an.

Auf der Hühnerfarm

Dieser Umzug brachte für Vater klare Vorteile, denn die Hühner verlangten nicht von ihm, Englisch zu sprechen. Für den Rest der Familie war es wieder mal harte Arbeit, wie üblich. Mein Bruder und ich schrieben uns in der örtlichen Van Nuys High School ein. Nach der Schule halfen wir Vater beim Hühner füttern, Käfige sauber machen, die Eier einsammeln und säubern, bei Bedarf halfen wir die Käfige zu reparieren. In der Blütezeit des Projekts mussten wir für 5000 Hühner sorgen. Ich lernte jedes einzelne Huhn zu hassen. Aber das war nicht die Schuld der Hühner, ehrlich nicht!

An der Van Nuys High School gab es Schauspiel-Klassen. Ich nahm natürlich möglichst an jeder von ihnen teil. So konnte ich weiter meiner Liebe zur Schauspielerei nachgehen. In jedem aufgeführten Stück bekam ich Rollen. Allgemein betrieben mein Bruder und ich akademische Studien, um schließlich in unsere Universität aufgenommen zu werden, die University of California at Los Angeles, besser bekannt als UCLA. Aber vorher kam der 7. Dezember 1941, als die Japaner Hawaii angriffen. Kurz danach traten auch die USA in den 2. Weltkrieg ein. Das hatte Folgen für uns. Wir waren immer noch deutsche Bürger, zwar nur pro forma und höchst widerwillig. Doch bald mussten wir erfahren, wir waren nun feindliche Ausländer. Das war eigentlich ein guter Witz! Mein Bruder Wolfgang hieß nun Wolf, machte zu gegebener Zeit seinen Abschluss bei der High School und schrieb sich ein bei UCLA. Aber er studierte nicht allzu lange sondern wurde in die US Army geholt, und weg war er, diente den USA, danach Europa und schließlich Japan. Im Herbst 1945 kehrte er heim, setzte seine Studien bei der UCLA fort, und wurde schließlich Anwalt. In diesem Beruf arbeitete er, bis 76 jährig im Jahr 1999 starb.

1941 - USA im Krieg
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Japan erklärt den USA den Krieg

Wenige Tage nach dem 7. Dezember 1941 waren alle USA Staaten im Kriegszustand, und Lebensmittel wurden rationiert, vor allem Zucker, Öl, Butter und Fleisch; dann Bekleidung und Schuhe, und Benzin. Die Benzin Rationierung hatte größere Auswirkungen in Los Angeles, wo man mit weiten Entfernungen fertig werden musste. Öffentliche Verkehrsmittel wie Bahnen und Busse gab es nur wenige oder gar keine, denn jede Familie besaß wenigstens ein Auto. Personen Japanischer Abstammung von der Westküste, egal ob legal in den USA aber nicht eingebürgert, oder Amerikanische Staatsbürger, wurden in Umsiedlungslager gebracht, wo sie bis zum Kriegsende blieben. Erst Jahrzehnte später veröffentlichte die Regierung eine Art von Entschuldigung und zahlte eine bescheidene Summe an Wiedergutmachung an die Überlebenden oder deren Familien für diesen Willkür-Akt von Umsiedlung. Die meisten Japaner in Kalifornien waren Farmer. Viele verloren ihr Land, als sie es gezwungenermaßen verkaufte, weil sie es nicht mehr bebauen konnten. Für uns "Feindliche Ausländer" wurde eine Ausgangssperre erlassen. Zwischen 1/2 9 abends bis 6 Uhr morgens mussten wir im Haus bleiben.

Meinem Vater gefielen die Beschränkungen nicht. Im März 1942 verkaufte er unsere Hühnerfarm, und wir zogen nach New York, wo es keine Ausgangssperre gab. Er und Mutter starteten nun einen Job als "Haushälter-Paar". Meine Mutter war die Köchin, Vater hielt das Haus in Ordnung. Ich schrieb mich wieder in der George Washington High School ein und machte im Juni meinen Abschluss. Dann ging ich wieder zur UCLA - University of California at Los Angeles. Das bedeutete, im August 1942 wieder mit dem Bus quer durchs Land zum Universitätsstudium. Weil ich praktisch kein Geld besaß, musste ich mir mein Studium selbst verdienen, wie viele Studenten damals.

Im Oktober 1942 wurde ich 18 und für den Militärdienst registriert. Bald darauf hatte ich pflichtgemäß Fragen für die ärztliche Untersuchung zu beantworten. Ich war immer schon sehr klein, niemals größer als 1,58 Meter. Damals wog ich 45.39kg. Wenige Wochen später wurde mir mitgeteilt, ich sei nicht medizinisch geeignet für den Militärdienst. Sie nannten tachycardia - Herzrasen als entscheidenden Grund. Ich wusste vorher gar nicht, dass ich so was hatte.

So konnte ich mein Universitäts-Studium fortsetzen. Ich arbeitete auch in einer Drogerie, um alles bezahlen zu können. Für Studium und jobben brauchte ich mindestens 18 Stunden täglich. 1944 hatte ich mich für den Lehrerberuf entschieden, im Juni 1945 machte ich in UCLA meinen Bachelor of Arts Abschluss. Für meine Lehrzulassung brauchte ich noch ein zusätzliches Studien-Jahr. Ich fing sofort damit an. Im Juni 1946 war ich bereit, meine Lehrer Laufbahn zu beginnen. Meine Eltern entschlossen sich 1944 wieder nach Los Angeles zurückzugehen, wo sie ein bescheidenes Haus kauften. Ich zog aus meinem bisher gemieteten Zimmer aus und bei ihnen ein. Im August 1945 war der 2. Weltkrieg endgültig zu Ende, die Beschränkungen fielen weg, und wir feierten rauschende Feste! Im April 1946 wurde ich Amerikanischer Staatsbürger, konnte meine Lehrerlaubnis bekommen, die damals nur US Bürgern erteilt wurde, und freute mich auf die Arbeit in meinem selbst erwählten Beruf.

Der Lehrerberuf und andere Jobs

Meine Erste Anstellung war in dem kleinen Ort Needles, California, in der Mojave Wüste, wo überraschenderweise die Temperatur Tag und Nacht zu meinem Schrecken 41°C betrug. Man gewöhnt sich fast an alles, und im Dezember wurde mir wirklich kalt. Die Wüste ist ein Ort von Extremen. In meinem ersten Jahr als Lehrer lernte ich wirklich eine Menge, weil man mich bat in Englisch, Geschichte und Schauspiel zu unterrichten. Ich habe es überlebt, nahm aber dann doch den ersten Zug heim nach Los Angeles. Dort hatte ich schon einen Job bei dem Los Angeles Unified School District. Hier arbeitete ich die nächsten 39 Jahre. Meine Eltern hatten die verschiedensten Jobs gemacht. Nach der Rückkehr nach Los Angeles hatte meine Mutter beim Catering für eine Film Gesellschaft gearbeitet, mein Vater in verschiedenen Fabriken, meist im Schiffsbau, wo noch mehr Leute mit bescheidenen Englisch-Kenntnissen arbeiteten. In den frühen 60ern investierte er mehrfach sehr gewinnbringend. So konnten sie sich schließlich gemütlich zur Ruhe setzen.

Ich hatte meine Schauspielerei an der Universität und auch später weiter betrieben, unterbrochen von 9 Monaten während meiner Zeit in Needles. Los Angeles war das Zentrum des Entertainment, und eines Abends, nach Schluss der Vorstellung, kam eine Agent auf mich zu, der mich unter
Kontrakt nehmen wollte für Spielfilm-Rollen. Keiner war erstaunter als ich über diese Wendung der Ereignisse. Ich unterzeichnete, und zu meiner großen Überraschung fand der Agent eine Anzahl von Rollen für mich in Filmen der Paramount, Warner Bros. und einer Zahl von anderen Studios. Ich arbeitete regelmäßig als Schauspieler. Wenn ich eine Rolle bekam, nahm ich meist kurze Zeit frei. Das war gewöhnlich kein Problem, solange es nicht mehr waren als ein, zwei Tage. Aber bald wurden die Rollen umfangreicher, eine dauerte 4 Wochen. Ich wusste, jetzt hieß es, eine große Entscheidung zu treffen: unmöglich, zwei Karrieren gleichzeitig nachzugehen. Ich entschied mich beim Lehren zu bleiben, was sich auf die Dauer als die richtige Wahl erwies. Ich schauspielerte aber weiter mit meinen Freunden. Das konnte ich auch nach der Schule machen. Aber lehnte Rollen ab, wo dies nicht möglich war. Meine letzte Vorstellung gab ich gerade, bevor meine Tochter 1962 geboren wurde.

Nachdem ich 7 Jahre lang Lehrer war, entschloss ich mich im Juni 1953 zu einem Sabbatjahr (ein Jahr der Auszeit im Berufsleben), obwohl mir noch keines zustand im LA Schulbezirk, wo ich erst 6 Jahre gearbeitet hatte. Mir wurde ein Jahr unbezahlter Urlaub gewährt, und ich begann mich umzusehen, was ich damit machen sollte. Ich lehnte verschiedene Job Angebote ab, auch eins von der Wehrmacht, für die ich in ihren Schulen in Afrika unterrichten sollte. Danach war ich gespannt, was als nächstes passieren würde. Ich bewarb mich tatsächlich für Fulbright Grant (Kommission, die Stipendien vergibt), wusste aber, das würde ein Traum bleiben. Doch Wunder gibt es wirklich! Und das mehr als einmal! Gegen Ende August wurde mir angeboten, als Fulbright Austausch-Lehrer und Wissenschaftler Englisch zu unterrichten, und Österreichisches Theater in Österreich zu studieren.

Hier muss ich erwähnen, ich hatte inzwischen noch 2 Abschlüsse für das Hauptstudium: einen Master of Arts in Theater Arts at UCLA, and noch einen Master of Arts in Educational Administration at the California State University of Los Angeles. Meine Erlebnisse in Österreich waren wunderbar! Ich konnte viel reisen, schloss viele Freundschaften,mit manchen korrespondiere ich bis heute. Dann zurück nach LA!

Die Familie


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Emilie und Hans Georg Stern, aufgenommen 2006

1955 traf ich ein Mädchen, das meine Frau werden sollte. Sie war Niederländerin. Wir trafen uns bei mir kurz nachdem sie aus Holland angekommen war. Da ihre Familie und sie selbst jüdisch sind, konnten sie ihre eigene Horror Story über den Krieg erzählen. Als die Deutschen Holland besetzten, tauchte die Familie unter, 2 1/2 Jahre lang. Ihre gestohlene Kindheit bekam meine Frau Milie nie zurück. Nachdem sie mit ihrer unterbrochenen Ausbildung fertig war, wurde sie Krankenschwester. Sie fand schon bald Arbeit in Los Angeles, wo sie in ihrem Fach gern arbeitete, in Krankenhäusern und später bei einer Anzahl von Ärzten mit Privat Praxis. 1959 heirateten wir, im Februar 2008 feierten wir unseren 49. Hochzeitstag. Im Mai 1962 wurde unsere Tochter Michelle geboren, der wahre Segen unseres Lebens. Wir versuchten, ihr eine stabile Kindheit zu sichern, wie wir Eltern sie leider nicht hatten. Sie ist eine wunderbare Tochter, verheiratet, selbst Mutter einer Tochter.

Im September 1960 begann ich nach einem Europa Besuch meine Studien für eine Doktor in Pädagogik an der UCLA, natürlich nur zeitweise, nach dem Unterricht und in den Ferien. 1966 bekam ich den Doktor Titel zuerkannt. Immer noch hatte ich Freude am Lehren und an Erziehungsarbeit, bis ich seit Juni 1987 nur noch zeitweise unterrichtete. Ich hatte Spaß an Computern bekommen und hielt Erwachsenen-Kurse ab, die von den LA Schulen angeboten wurden. Nun im Ruhestand gab ich weiter zeitweise Computer Kurse für Studenten in verschiedenen Kollegs am Orte, auch am Santa Monica College und National University. Das ging so 12 Jahre lang, bis ich 1999 Herzbeschwerden bekam, die mehrere Gefäß-Operationen erforderten. Ich überlebte, ging dann aber endgültig in Ruhestand.

Während ich dies mit 83 Jahren schreibe, freuen wir uns an unserem Haus, an ein paar kurzen Ferien in jedem Jahr, und mehr als an allem anderen an unserer Tochter und ihrem Mann, beide Autoren im Unterhaltungsfach, und an unserer Enkelin Sophia.
Zuletzt geändert von GELSENZENTRUM am 05.03.2008, 13:53, insgesamt 3-mal geändert.

pito
Abgemeldet

Beitrag von pito »

Mein Vater war ein mutiger Mann, einer der ersten deutschen Juden, der die wachsende Welle von Antisemitismus wahrnahm ...

Wahrgenommen haben das sicher alle. Aber nicht jeder Mensch hat den Mut und die Entschlusskraft, in solch einer Situation Fakten zu schaffen und auszuwandern. Viele hingen sicher an der Heimat. Das macht es so besonders perfide.

Hätten doch mehr den Mut gehabt ...

Ernst
Abgemeldet

Beitrag von Ernst »

........ Hätten doch mehr den Mut gehabt ...

Mutige Handlungen muss man gelernt haben, sich zu erlauben.

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