Ein historisches Datum: Der 9. November 1938
Rückblende - 9. November 2008 in Gelsenkirchen
Am 70. Jahrestag der "Reichspogromnacht", am 9. November 2008, fand erstmalig eine Gedenkveranstaltung für die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus in der neuen Gelsenkirchener Synagoge statt.
Im Vorfeld der Gedenkfeierlichkeiten zum 70. Jahrestag der "Reichspogromnacht" hatte Elena Gubenko, Vorsitzende des jüdischen Kulturvereins KINOR, so genannte "Kristallsplitter" an Verwaltung, Organisationen und viele Menschen in Gelsenkirchen verteilt.
Der Weltkongress russischsprachiger Juden (World Congress of Russian Jewry – WCRJ) hatte das Projekt gestartet, dass dem 70. Jahrestag der so genannten "Reichspogromnacht" gewidmet ist. Es wurden mehrere Tausend Abzeichen vorbereitet, sog. "Kristallsplitter" in Form eines Davidsterns mit der Aufschrift "Nie wieder!" in verschiedenen Sprachen. Diese Abzeichen wurden dann von den Aktivisten in verschiedenen Ländern verteilt. In Gelsenkirchen wird das Projekt vom jüdischen Kulturverein KINOR getragen. Menschen, die an dieser Aktion teilnahmen, haben die "Kristallsplitter" am 9. November 2008 als Erinnerung und Mahnung getragen.
"Die Anzahl der Sterne "Kristallsplitter" , die wir verteilten, ist die größte in Europa - rund 1300 Kristallsplitter! Die Ev. Kirchengemeinde Bulmke hat hunderte von den Sternen im Gottesdienst am 9. November verteilt, dass Diakoniewerk Gelsenkirchen und Wattenscheid hatte 100 Sterne geordert. Die Volkshochschule Gelsenkirchen, dass Mädchenzentrum e. V., die Jüdische Gemeinde Bochum, Klub der Holocaust-Überlebenden und Veteranen, dass Frauenreferat der Ev. Kirche von Westfalen, dass Kolpingwerk Bezirksverband Gelsenkirchen, Consol Theater, die Grünen Gelsenkirchen, die Katholische Frauengruppe des SPD-Unterbezirks Gelsenkirchen und auch das Büro des Oberbürgermeisters hat unsere Kristallsplitter angefordert, um nur einige zu nennen." sagte Elena Gubenko, und weiter: "So viele Gelsenkirchener Bürger und Bürgerinnen haben angerufen oder gemailt, um die Sterne am 9. November zu tragen, viele Tage lang wurden die Sterne mit großer Dankbarkeit abgeholt! Zu den Sternen haben alle Teilnehmer und Teilnehmerinnen an der Aktion "Kristallsplitter" Informationen zur Gedenkveranstaltung bekommen und wurden zu dieser eingeladen. Gleichwohl wurden sie gebeten, mit Fotoapparaten zu kommen und das Ereignis fotografisch zu dokumentieren".
Gedenkveranstaltung der Demokratischen Initiative
Zum Auftakt der Veranstaltung, die mit einem Schweigezug vom Mahnmal für die Opfer des Faschismus im Stadtgarten zur neuen Synagoge begann, verlas der Oberbürgermeister die Botschaft von Herman Neudorf. Der aus Gelsenkirchen-Horst stammende Herman Neudorf lebt heute in den USA.
Meine Gedanken zum 70. Jahrestag der "Reichskristallnacht":
"Viele Jahre sind vergangen seit meiner Befreiung aus der Hölle der Lager. Ich kann jedoch immer noch nicht fassen, wie ein scheinbar so kulturelles Volk in die Hände eines Fanatikers fallen konnte und von dem unzählige Mörder entsprangen. Die "Kristallnacht" war das Ergebnis eines Rassenhasses, der einst friedliche Nachbarn in wilde Tiere verwandelte. Mögen wir alle hoffen und wachsam sein, dass solche Untaten nie mehr geschehen...
VERGEBEN MUSS MAN, ABER VERGESSEN IST UNMÖGLICH!
"My thoughts on the 70th anniversary of "CristalNight":
Although Years have passed since my liberation from the hell of the camps. I still cannot comprehend how a seemingly cultured nation could fall into the spell of a fanatic dictator resulting in untold mass murder. The "CristalNight" was the outcome of racial hatred which transformed peaceful neighbors into beasts of prey. May we all hope and be on guard that such misdeeds will never happen again!...
TO FORGIVE ONE MUST BUT TO FORGET IS IMPOSSIBLE!
Herman Neudorf, im Oktober 2008
Begleitet von den Klängen der Kirchenglocken bewegte sich der Schweigezug nunmehr zur neuen Synagoge, viele Kirchen hatten in der Zeit von 19.00 Uhr bis 19.05 Uhr durch Glockengeläut zur Erinnerung gemahnt und zum persönlichen Gebet gerufen.
In seiner Rede zum 9. November 2008 in der Synagoge Gelsenkirchen betonte Oberbürgermeister Baranowski, wie wichtig es ist, Zitat: "(...) dass wir das gesichtslose Schicksal Hunderttausender in die Lebensgeschichte einzelner Menschen übersetzen (...). Damit deutet der OB genau in die Richtung, die zum Beispiel der Kölner Künstler Gunter Demnig schon lange eingeschlagen hat. Bereits 1993 entstand die Idee, den NS-Opfern ein Denkmal genau dort zu setzen, wo diese Menschen auch lebten - vor den Türen Ihrer Häuser. So wird aus dem Namelosen wieder das Fassbare, hier also hat dieser Mensch gelebt, den man dann weit entfernt ermordete. Das Gedenken an diese Menschen ist auch eine Geste an die Überlebenden des Holocaust, denn es gibt den ermordeten Menschen ihre Namen, die Würde und den Respekt zurück. OB Baranowski bat den anwesenden Ernst Ludwig Back um Vergebung. Seine Rede schloss Gelsenkirchens Oberbürgermeister mit der eindringlichen Mahnung: "Wehret den Anfängen"!
Ernst Ludwig Back, aus Gelsenkirchen stammend, an diesem Tag eigens aus Schweden angereist, kann als Augenzeuge von der "Reichskristallnacht" in Gelsenkirchen berichten. Back, der als 15jähriger Junge jüdischen Glaubens die Pogromnacht in Gelsenkirchen miterlebte, verlor Eltern und Angehörige im Holocaust. Zum ersten Mal seit langer Zeit besuchte Ernst Back wieder Gelsenkirchen. Mit gemischten Gefühlen, wie er sagte.
Der Vertreter der Bischöflichen Hauptschule in Essen-Stoppenberg erinnerte in seiner Rede an Kurt Neuwald, dessen Name in Gelsenkirchen unvergessen ist. Kurt Neuwald hatte zu Lebzeiten von den ungarischen Zwangsarbeiterinnen jüdischen Glaubens berichtet, die kahlgeschoren, in gestreifter Häftlingskleidung vom Bahnhof durch die Straßen Gelsenkirchens zur Gelsenberg Benzin AG nach Horst getrieben wurden, wo sie Zwangsarbeit auf Gelsenberg verrichten sollten. Kurt Neuwald hat dazu einmal gesagt: "Viele in Gelsenkirchen haben später gesagt, davon haben wir nichts gewusst, die Wahrheit ist - sie alle haben etwas gewusst, der eine mehr, der andere weniger."
In der Synagoge wurde an diesem Abend die Erinnerungswand enthüllt. Mit eindringlicher Stimme betete Rabbiner Chaim Kornblum ein Kaddish, ein jüdisches Totengebet für die aus Gelsenkirchen stammenden jüdischen Menschen, die in den Todesfabriken der Nationalsozialisten ermordet wurden. Kleine Tafeln mit den Namen der Ermordeten erinnern im Lichthof der Synagoge an das Schicksal dieser Menschen. Zum Abschluß der Veranstaltung sang man gemeinsam das Lied "Die Moorsoldaten". Im Anschluß an die Gedenkveranstaltung bot sich Gelegenheit, die Ausstellung "Du gehst mich an - Juden und Christen in Westfalen auf dem Weg zu einem neuen Verhältnis" im Gemeindesaal der Synagoge zu besuchen.
Das Miteinander, dass diese Gedenkveranstaltung zum 70. Jahrestag der "Reichsprogromnacht" prägte, ist ein starker Impuls für den interreligiösen, ja auch interkulturellen Dialog - besteht die jüdische Gemeinde Gelsenkirchens doch zu mehr als drei Vierteln aus Menschen, die aus Osteuropa zu uns gekommen sind.
Bildstrecke von der Gedenkveranstaltung:
http://www.gelsenzentrum.de/fotos_9_november_2008.htm