Aufruf an das polnische Volk vom damaligen Staatspräsidenten Ignacy Moscicki am 1. September 1939: http://www.gelsenzentrum.de/aufruf_ignacy_moscicki.htmDer Vernichtungskrieg
Mit dem Überfall der Deutschen Wehrmacht auf Polen am 1. September vor 70 Jahren eskalierten auch die Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes.
In diesem Herbst dürfte nahezu weltweit an den Beginn des Zweiten Weltkrieges vor 70 Jahren erinnert werden – am 1. September 1939. Den medialen Anfang machte am 12. August der TV-Sender „Arte“ mit dem vorzüglichen Dokumentarfilm „Sommer ‘39“. Er stellte Polen, Deutsche, Franzosen und Engländer und deren Erinnerungen an den Spätsommer jenes Jahres nebeneinander – eine lohnende und weitgehend neue Art des Rückblicks auf jene Zeit.
In Polen fürchteten viele den bevorstehenden deutschen Angriff. Schließlich hatte es bereits kurz zuvor etliche Zwischenfälle an der Grenze gegeben. Der Beauftragte der polnischen Regierung, Wladyslaw Bartoszewski, erinnerte jüngst in einem langen Gespräch mit der Zeitschrift für deutsch-polnische Verständigung „Polen und wir“ an hierzulande kaum bekannte polnische Opfer. „…nur wenige Deutsche wissen, dass bereits im September und Oktober deutsches Militär und deutsche Polizei über zehntausend polnische Katholiken, darunter viele Ordensleute, Priester und Bischöfe ermordet haben, z. T. in Dachau, z. T. in Buchenwald und in Ravensbrück. Und nur wenige wissen, dass bereits in diesen ersten Kriegsmonaten 120 Bewohner von Gdynia und Umgebung binnen 15 Minuten aus ihren Arbeitsstätten und Häusern verjagt wurden und nur ein Stück Gepäck mitnehmen konnten…“
„Blitzsiege“ bescherten begeisterte Zustimmung
Die deutsche Erinnerung bezog sich vor allem auf das heiße Wetter, während Ostseeurlauber die „Schleswig-Holstein“ auf der Ostsee gen Osten nicht vergessen hatten. All das interessierte allerdings kaum jemand und verbreitete weder Angst noch Schrecken. Man lebte schließlich seit dem Beginn des „Dritten Reiches“ in Sicherheit und Wohlstand. Was sollte da schon passieren?! Gewiss – es gab keine Demokratie mehr, aber die hatte zwischen 1919 und 1933 beispielsweise fast nichts gegen die Massenarbeitslosigkeit erreicht, während die neue Regierung seit 1933 nahezu für Vollbeschäftigung gesorgt hatte. Dass diese mit der Aufrüstung erreicht worden war, spielte in diesem Zusammenhang keine Rolle. Deutschland war wieder ein starker Staat, der selbstverständlich eine schlagkräftige Armee brauchte. Es schien also für die meisten alles in bester Ordnung zu sein – ausgenommen die Juden, die Sinti und Roma, Sozialdemokraten und Kommunisten, Schwerkranke und Behinderte.
Mit dem 1. September und den folgenden Siegen schien in Erfüllung zu gehen, was der Bevölkerung versprochen worden war. Knapp drei Wochen später kapitulierte die nach London geflüchtete polnische Regierung. Nach dem Angriff auf Frankreich im Mai 1940 konnte Hitler sechs Wochen später in Paris die Siegesparade abnehmen. Es folgte die Aktion „Weserübung“ mit dem Ziel, skandinavische Länder zu besetzen, um eine Basis für den Angriff auf die britische Insel zu schaffen. Alles schien wie geplant zu laufen, einschließlich der Militärbündnisse mit südosteuropäischen Staaten. Der Nichtangriffspakt mit der Sowjetunion vom August 1939 sollte dem „Reich“ den Rücken frei halten. Die „Blitzsiege“ bescherten der Regierung in Berlin und den deutschen Truppen begeisterte Zustimmung.
Analphabetische Arbeitskräfte für das „Reich“
Mit dem Sieg über Frankreich in Juni 1940 war Hitler auf dem Höhepunkt seiner Macht. Er konnte die „Neuordnung Europas“ umsetzen, war Herrscher über den „alten Kontinent“, schien keine Rückschläge mehr fürchten zu müssen. Dabei hatte Hitler sein Hauptziel, die Unterwerfung der UdSSR, nie aus den Augen verloren. Der Befehl, das „Unternehmen Barbarossa“, wie der Überfall auf die Sowjetunion genannt wurde, vorzubereiten, erging bereits im Herbst 1939 und begann im Juni 1941. Dann folgte ein Sieg nach dem anderen. Geographen hatten Mühe, dem Vormarsch gen Osten auf ihren Landkarten zu folgen. Der erste Winter in den Weiten der Sowjetunion machte all dem ein Ende. Die deutschen Truppen blieben in Eis und Schnee stecken. Die Gewissheit, durch einen weiteren „Blitzsieg“ den „Endsieg“ zu erringen, war verflogen.
Im Westen schien sich die Lage nach dem Ende der Schlachten zu beruhigen, im Osten hingegen folgte den Kämpfen der Vernichtungskrieg gegen Juden, Slawen, Sinti und Rom, gegen die polnischen Intellektuellen wie Universitätsprofessoren, Lehrer und Geistliche. Polen sollte dem „Reich“ analphabetische Arbeitskräfte liefern – sonst nichts. Universitäten wurden geschlossen, Schüler sollten nur noch das Nötigste fürs tägliche Leben lernen, im Rechnen lediglich das „Kleine Einmaleins“. Reichsführer-SS Heinrich Himmler hatte im Mai 1940 zum Unterricht polnischer Kinder grundsätzlich erklärt: „Das Ziel dieser Volksschule hat lediglich zu sein: einfaches Rechnen bis höchstens 500, Schreiben des Namens, eine Lehre, dass es ein göttliches Gebot ist, den Deutschen gehorsam zu sein und ehrlich, fleißig und brav zu sein. Lesen halte ich nicht für erforderlich.“
Im Geheimen begann seinerzeit bereits der Mord auch an eigenen Landsleuten. Kurz nach dem Beginn des NS-Regimes war die Diskussion um die „eugenische Indikation“ neu entflammt. Sollte chronisch Kranken und Babys mit angeborenen Körperschäden der „Gnadentod“ gewährt werden? Das war die Frage, die bereits während des NSDAP-Parteitages 1935 in kleinem Kreis erörtert wurde? Hitler hat damals seinem Vertrauten, dem Reichsärzteführer Gerhard Wagner, versichert, die „Euthanasiefrage“ werde dann erörtert, „wenn alle Welt auf den Gang der Kampfhandlungen schaut“ und „der Wert des Menschenlebens ohnehin minder schwer wiegt“. Mit anderen Worten: die Ermordung Kranker war längst im Gespräch.
Hunderttausend Männer, Frauen und Kinder wurden Opfer der „Aktion T 4“
Als die Wehrmacht Polen überfiel, folgten ihr SD- und SS-Einheiten und ermordeten systematisch Juden und Angehörige der Intelligenz. Sie räumten ohne Rücksicht auf die Patienten Altersheime und jüdische Krankenhäuser und ermordeten die Opfer. Im Reich wurde neben der „Euthanasie“ damit begonnen, Altenpflegestätten zu räumen. Begründung: man brauche vermutlich bald neue Lazarette für verwundete Soldaten. Der Mord konnte nicht geheim gehalten werden. Die grau gestrichenen ehemaligen Postbusse, die Kranke in Tötungsanstalten brachten, fielen auf und erregten Aufsehen. Gerüchte machten die Runde, die Menschen würden getötet. Doch nur in wenigen Fällen folgten Proteste. Die Morde wurden zwar offiziell eingestellt, tatsächlich gingen sie aber bis Kriegsende weiter. Noch vor dem Überfall auf Polen bestimmte ein Geheimerlass vom 18. August 1939, missgebildete Neugeborene den Behörden zu melden. Im Oktober 1939 begann dann der Krankenmord durch die „Gemeinnützige Krankentransport-GmbH“. Alles im Schatten des Krieges. Die Zahl der Opfer mit dem Tarnnamen „Aktion T 4“ ist noch nicht genau ermittelt, betrifft aber gewiss fast hunderttausend Männer, Frauen und Kinder. Hinter dem Code „T 4“ steckte der Ort, an dem das Verbrechen beschlossen worden war: die Berliner Anschrift „Tiergartenstrasse 4“.
Absicherung der Mordstätten gegen Augenzeugen
Nach dem Überfall auf die Sowjetunion im Sommer 1941 begann der „Rasse- und Vernichtungskrieg“ ohne jede Behinderung. An der Front wurde zwar offen darüber gestritten, ob Soldaten bei Massenmorden mittun dürften oder nicht. Das änderte aber nichts daran, dass vor allem SS und SD, aber eben auch Soldaten bei den Massenmorden mitmachten. Oft wurden Wehrmachtseinheiten herangezogen, um die Mordstätten gegen Augenzeugen abzusichern. Die Generalität und das Oberkommando der Wehrmacht unterstützten die Morde – und sicherten den Tätern Straffreiheit zu – auch für die Ermordung sowjetischer Kommissare. Das war ein Grund dafür, dass der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW), Wilhelm Keitel und der Chef des Wehrmachtsführungsstabes im OKW, Alfred Jodl vom Internationalen Gerichtshof in Nürnberg 1946 zum Tode verurteilt und hingerichtet worden sind.
Es geht also mit dem Überfall auf Polen vor 70 Jahren keineswegs nur um den „Verlauf“ des Zweiten Weltkrieges, es geht mindestens gleichrangig um die Verbrechen, die während dieses Krieges begangen worden sind. Er eskalierte nämlich nicht wie ein Selbstläufer vom „Polen-Feldzug“ zum „Zweiten Weltkrieg“, der in dieser Formulierung längst zu einem festen Begriff in der Forschung geworden ist. Deshalb ist es nicht angemessen, „2. Weltkrieg“ zu formulieren als seien weitere zu erwarten. Ob andere Regierungen auch auf einen Krieg zugesteuert wären, ist ziemlich ungewiss. England und Frankreich gewiss nicht. Und die UdSSR war viel zu schwach, um das mächtige „Dritte Reich“ anzugreifen.
Quellen-URL: http://www.bnr.de/content/der-vernichtungskrieg
Verweise: http://www.bnr.de/ausgaben/ausgabe-172009
Veröffentlicht auf Bnr.de - Blick nach Rechts. Von G. Nandlinger. Erstellt 08/20/2009
Edit Gelsenzentrum: Erinnerungen an einen Krieg - Museum Berlin Karlshorst http://www.museum-karlshorst.de/