Kommando "In die Heijmat will ich wiedr"

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JürgenB
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Kommando "In die Heijmat will ich wiedr"

Beitrag von JürgenB »

Es war einmal eine mittelgroße Stadt, die hatte eine große Autobahnaus- und -einfahrt. Wer dorthin gelangte, der fuhr in einen Kreisverkehr und mitten drin in diesem Kreisverkehr stand ein großes gelbes Schild mit der Aufschrift "Allenstein 1100 km".

Wer von weit her kam, der erfuhr nicht, in welche Richtung es ging nach Essen, Dortmund, Köln, Amsterdam, Berlin oder Rom, nein nur nach Allenstein - wobei dias Schild nur auf die Autobahn verwies und den verwirrten Ratsuchenden nicht einmal sagte, welche Fahrtrichtung er nach Allenstein nehmen sollte: Oberhausen oder Hannover?

Es waren acht Jahre nach dem Grundlagenvertrag zwischen Deutschland und der Volksrepublik Polen vergangen und es zeigte immer noch ein Schild nach Allenstein, nicht nach Olstyn, wie diese Stadt mittlerweile hieß (Exkurs: wobei ich normalerweise auch alle polnischen Städte weiterhin mit deutscher Bezeichnung benenne, den schließlich sagt auch niemand bei uns Milano, Lisboa oder Bruxelles. Aber seinerzeit war es schon wichtig, ausnahmsweise Olstyn zu sagen, wie vielleicht gleich klar wird).

Warum stand dieses Schild in Buer? Die Stadt Gelsenkirchen hatte aus Zeiten des frühen Kalten Krieges eine Partnerschaft nicht mit der Stadt Allenstein, sondern mit den Vertiebenenklüngel :dracula: aus Allenstein (Alleijnsteijn, nich weit wech von Ortelsburjch). Und darauf sollte dieses über drei Meter lange Schild verweisen.

Diese Vertriebenen :mrbat2: betrieben noch irgendwo in Gelsenkirchen ein Heijmatmuseum mit dem Namen "Treudank" und dem fühlte sich die Stadt verpflichtet.

Eines Nachts - es muss im Jahr 1979 gewesen sein - schlich sich das "Kommando In die Heijmat will ich wiedr" an das große Schild auf dem großen Kreisverkehr und schwuppdiwupp schraubte es ab und entführte es in einem alten Käfer. Es mußte einmal geknickt werden, um überhaupt auf die Rückbank zu passen, denn Käfer hatten ja bekanntermaßen keinen großen Kofferraum.

Am nächsten Tag wurde eine Kommandoerklärung geschrieben, in der von der Stadt die Aufkündigung des Partnerschaftsverhältnisses mit dem Vertriebenenverband :mrskull: und die Aufnahme von Gesprächen mit der nun polnischen Stadt Olsztyn verlangt wurde.

Die Stadt ließ ein Ultimatum verstreichen und befestigte nun ein neues Schild im leeren Rahmen, diesmal mit ordentlich verlöteten Schrauben, wie in der lokalen Presse zu lesen war und per Augenscheinnahme auch überprüft wurde. "Alleijnsteijn 1100 km".

Es dauerte etwa ein Jahrzehnt politischer Schamfrist, bis die Stadt der Forderung des Kommandos "In die Heijmat will ich wiedr" nachkam und mit Olstyn eine Partnerschaft einging. Von dieser und auch weiteren Städtepartnerschaften zeugen nun transparente Hinweistafeln auf dem noch immer vorhandenen Kreisverkehr (wobei - nebenbei bemerkt - eine einstmals im Zeichen von 3.-Welt-Euphorie eingegangene Partnerschaft mit einer Stadt im Senegal längst vom Staub der Geschichte und dem Mantel des Schweigens überdeckt worden ist).

Das entführte Straßenschild aber landete etwa ein Jahr später, nach langer Haft in einem Hochbunkerverlies, am 19. Oktober 1980 auf dem Gelände des Bundesverbandes der Chemischen Industrie (oder so) in Köln. Dort war jedenfalls einige Jahre zuvor die Polnische Botschaft in der Bunzreplik Deutschland untergebracht. Deren Umzug war den Mitgliedern des Kommandos - die sich an jenem Tage kulturell mit dem Besuch der Tut-ench-Amun-Ausstellung in Kön weiterbildeten - erst nach dem Wurf über die hohe Mauer aufgefallen. :prost:
Geboren im Jahre der Meisterschaft - nicht wie ihr alle denkt, sondern 3 Jahre früher!

Gast
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Beitrag von Gast »

"Vertriebenklüngel" kommt im humanistischen Wörterbuch nicht vor...

Heinz
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Beitrag von Heinz »

Anonymous hat geschrieben:"Vertriebenklüngel" kommt im humanistischen Wörterbuch nicht vor...
@Gast
Zeigt aber noch heute, wie eingebunkert in Lagern man damals gefangen war. :roll: Oder immer noch ist?

@JürgenB
Gut dass du daran erinnerst. 8)
Von der Partnerschaft mit Senegal weiss ich gar nichts. Weisst du noch den Namen der Stadt?

Danach hat es doch noch eine sanftere Aktion gegeben, aus
      • ALLENSTEIN
wurde:
      • GALLENSTEIN
Ich werde demnächst mal nach Filmschnipseln suchen. Diese "Nachbesserung" blieb dort sehr lange zu besichtigen, ich glaube schon, dass es viele Autofahren täglich zum schmunzeln brachte. :wink:

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JürgenB
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Beitrag von JürgenB »

Anonymous hat geschrieben:"Vertriebenklüngel" kommt im humanistischen Wörterbuch nicht vor...
Gib mal diesen Kommentar im Beisein eines Tschechen oder Polen ab, die Angst vor Restitutionsansprüchen haben.

@ Heinz: Nix Genaues weiß ich auch nicht mehr. Ich kann mich nur noch an einen WAZ-Artikel aus den späten 70ern (vermutlich) erinnern, wo davon berichtet wurde, dass plötzlich ein paar Offizielle aus dem Senegal auftauchten (Name der Stadt weiß ich auch nicht mehr) und im Hans-Sachs-Haus an die Städtepartnerschaft aus den frühen 60ern erinnern wollten. Bei der Stadt wußte man (fast) von nix mehr oder wollte nix mehr davon wissen. Später ist die Erinnerung daran wohl ganz eingeschlafen.

Ist aber sicher ein interessanter Ansatz für weitere Recherche im Institut für Stadtgeschichte
:)
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Heinz
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Das kommando Wallenstein macht aus Allenstein Gallenstein

Beitrag von Heinz »

Eine weiterführende Diskussion über Vertriebene gibt es hier

Hier aber der versprochene Filmschnipsel über die Aktion des Kommandos Wallenstein



Das Kommando Wallenstein macht 1984 aus dem Allenstein-Schild an der Gelsenkirchner Autobahnauffahrt A2 Gallenstein und gibt anlässlich dieser Aktion eine öffentliche Musikdarbietung im Kreisverkehr

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rabe489
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Beitrag von rabe489 »

Ach wie sinnig. Da freuen wir uns doch alle. Allenstein - Gallenstein, das müssen doch Akrobaten des Geistes sein. Soviel Hintergründigkeit gibt's auch nur in GE. Mit der Geschichte Schabernack treiben, warum nicht RTL eine neue Doku-Soap vorschlagen?

Heinz
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Beitrag von Heinz »

rabe489 hat geschrieben:Ach wie sinnig. Da freuen wir uns doch alle. Allenstein - Gallenstein, das müssen doch Akrobaten des Geistes sein. Soviel Hintergründigkeit gibt's auch nur in GE. Mit der Geschichte Schabernack treiben, warum nicht RTL eine neue Doku-Soap vorschlagen?
Na ja, man sollte schon wissen, worüber man sich da reflexhaft erregt.
Eigentlich sollte ich mich hier an die Royals halten -- never explain. never complain. Aber weil du es bist.... :wink:
RTL gab es 1984 noch gar nicht, zumindest nicht in Gelsenkirchen zu empfangen. Da hätten die deshalb auch keine Doku-Soap drüber drehen können.
Deshalb habe ich das gemacht.
Eine Hintergründigkeit magst du z.B. darin entdecken, dass diese Szenen Bestandteil des Stattfilms 1984 waren.
Dieser war sicherlich in vielerlei Hinsicht kein Meisterwerk, aber die Szene trägt schon noch.
Der zweite Hintergrund ist natürlich die damalige Gesamtstimmung, die JürgenB in Ansätzen ja beschrieben hat. :wink:
Geistesakrobaten dürfen durchaus auch mal kalauern und gefreut haben sich damals tatsächlich viele Autofahrer, die täglich an dem Schild vorbei fuhren.
Mit der Geschichte Schabernack treiben? Na, ob dir da nicht dein Pferdchen beim Sternegreifen durchgallopiert ist?
Jo, wie die Schabernack-Stadt-Schilder "Atomwaffenfreie Zone", "Gewaltfreie Zone" oder auch Pinnokkio-Nasen-Tragende Skelette an schwarzen Sargdeckeln. :wink:
Schabernack..
Ach kwitsche könnte es durchaus besser kommentieren... schaun mer mal.

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rabe489
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Beitrag von rabe489 »

Die wie auch immer formulierte Prügel der Vertriebenen, die z. B. JürgenB betreibt, nur weil sie reaktionäre Führer hatten, ist mir Über. Ausserdem mag ich die mittelalterliche Kulturlandschaft zwischen Danzig und Königsberg, denn Kant war kein Pole. Kant- Schmand - Tand. Korrigieren wir das in den Philosophiegeschichten. Immanuel Tand 1100km.

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JürgenB
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Beitrag von JürgenB »

...ja, ja, und Kopernikus war kein Deutscher.

btw. Königsberg ist nicht Allenstein und liegt 130 km weiter im Osten

Die kulturphilhozophisch-ästhetischen Attituden in diesem Forum nerven wirklich.
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JürgenB
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Beitrag von JürgenB »

Ach, um es noch zu ergänzen: Kant war auch kein Russe!
Geboren im Jahre der Meisterschaft - nicht wie ihr alle denkt, sondern 3 Jahre früher!

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Lo
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Beitrag von Lo »

JürgenB hat geschrieben:Ach, um es noch zu ergänzen: Kant war auch kein Russe!
Dafür gibt es aber kantige Russen :roll:
Komm´doch mal gucken: https://www.kohlenspott.de/

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Lorbass43
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Auf den Spuren der Vergangenheit

Beitrag von Lorbass43 »

Zu meinem 50. Geburtstag wurde mir eine Reise nach Ostpreußen geschenkt, die ich mit meiner Frau Anni im September 1993 antrat. Natürlich stand Heilsberg ganz oben auf der Liste der Orte, die wir uns ansehen wollten. Über Frankfurt /Oder und Posnan/Posen ging es in Richtung Olsztyn/Allenstein, um dann über Dobre Miasto/Guttstadt nach Lidzbark-Warminski/Heilsberg zu gelangen.
Unterwegs standen zahlreiche Pilzsammler an den Strassen, um die Schätze des Waldes an Durchreisende zu verkaufen. Meine Großmutter hatte mir ihr Wissen über Pilze in der Praxis übermittelt, ich war von den Angeboten begeistert - nur wo zubereiten?
An einem Samstagabend sah ich zum Erstenmal die Stadt, in der ich geboren wurde. Da wir auf der Hinfahrt bereits in der Nähe von Posen gut übernachtet hatten, war unser Schreck über den Zustand des Hotels, das an der Straße Richtung Guttstadt liegt, und den lieblosen Empfang und die verachtende Bedienung groß.
Zum Abendessen trafen “Erinnerungstouristen” - dieser Ausdruck soll keineswegs pejorativ gemeint sein - mit einem Bus ein. Es wurde sich immer wieder über den schlechten Zustand des Landes und der Baulichkeiten beklagt, und das nicht die Orte angefahren würden, in denen sie einst zu Hause waren.
Sicherlich bin ich mit anderen Augen durch dies Land gegangen als jemand, der hier lange Jahre seines Lebens verbracht hat. Mir, der ich wie viele meiner Altersgenossen im Westen eine neue Heimat gefunden habe, war es leichter, das alles zu sehen und zu erleben. Düster mag das heutige Bild der Heimat dagegen dem erscheinen, der es mit dem vergleicht, was er früher dort erlebt hat.

Heilsberg, ehemals Kreisstadt in Ostpreußen, 65 m. über dem Meere, an der Mündung der Simser in die Alle, im altpreußischen Gau Pogesonien, an der Nordgrenze des Ermlandes, mit ( 1939) 11 800 deutschen, meist katholischen Einwohnern. Die Burg Heilsberg, 1241 vom Deutschen Orden angelegt, wurde 1251 dem Bischof von Ermland übergeben, der 1315 - 1795, meist hier residierte. Der quadratische Bau mit Bergfried, drei Ecktürmen und einem zweigeschossigen Umgang im Innenhof ist nach der Marienburg der bedeutendste Profanbau Altpreußens. Heilsberg erhielt 1308 von Bischof Eberhard von Neiße Culmisches Recht. Die Siedler waren meist Schlesier, weshalb Heilsberg zum mitteldeutschen Sprachgebiet gehörte. Den Marktplatz umstanden Laubenhäuser. 1504 - 1510 lebte hier Nikolaus Kopernikus.
Erheblich zerstört kam Heilsberg 1945 unter polnische Verwaltung (jetzt Lidzbark Warminski, Woiwodschaft Olsztyn)

Meine Mutter und Oma Berta hat mir die Liebe zu unserer Heimat, Ostpreußen vermittelt, aber niemals ein Hehl daraus gemacht, dass es für uns kein Zurück mehr geben wird. Ich habe von Kindesbeinen an erfahren, dass die Geschichte nicht erst 1945 begonnen hat. Die Liebe zu diesem Land, in dem ich geboren wurde und das meine Frau Anni ebenso hoch achtet wie ich, hat etwas geheimnisvolles, rational nicht erklärbares.
Es hat Jahrzehnte gedauert, bis ich imstande war, für mich selbst das zu begreifen und akzeptieren, was ab 1970 unter Willy Brandt mit einer aktiven Ostpolitik in Gang gesetzt wurde. Wenn wir Normalisierung wollten, dann war Klarheit über die endgültige Grenze notwendig. Es wurde immer deutlicher, das die Faustregel: Gewaltverzicht - ja, Territorialverzicht - nein, keine Lösung seien konnte.
Am Sonntagmorgen waren wir in der Kirche und besichtigten anschließend das Schloss.
In den Bäumen Richtung Markt und Kirche krakeelten wütend eine Horde von Krähen dazu kam das Gebell von Hunden. Keine Menschenseele war zu sehen. Ein kleiner Junge bot uns abgegriffene Ansichtskarten an und lief schnell weg nachdem wir einige gekauft hatten. Die dummen Niemcie ....
Meine Familie hatte erst am Markt gewohnt, dann in Neuhof. Ausgerechnet beide Häuser standen nicht mehr. Zur Kreuzkirche, in der meine Eltern 1942 geheiratet hatten, war es nicht mehr weit. Hier lernten wir Pfarrer Wladislaw Boksa, inzwischen Domkapitular zu Guttstadt ( Dobre Misto) kennen, er wohnt gegenüber der Kirche, spricht gut Deutsch und war zuvor Pfarrer in Klebowo/Wernegitten. Gemeinsam mit ihm besuchten wir den dortigen Pfarrer Ks. Roman Cichocki, der uns freundlich bewirtete.
In diesem Ort war 1884 Oma Berta geboren worden, und auf nachfolgenden Reisen konnte wir in den noch vorhandenen Kirchenbüchern Geburts- und Sterbedaten meiner Vorfahren nachlesen. Heute habe ich sogar Fotokopien von diesen Eintragungen, ebenso besitze ich die Seitenauszüge aus dem Kirchenarchiv der Angehörigen.
Alle meine Vorfahren Mütterlicherseits sind um die Kirche auf dem Kirchhof in Wernegitten beerdigt worden. Dies geschah bis zum 7.9.1927. Weitere Beerdigungen fanden auf dem neuen Friedhof auf dem Weg nach Blankensee statt. Die Gräber um die Kirche sind um 1955 eingeebnet worden.
Was ist aus all diesen Menschen geworden ob im Ermland oder in Masuren?
Spuren habe ich gefunden von Wernegitten bis in die USA Indianapolis von Dimussen bis Würselen, Essen und sogar bis Argentinien. Viele sind ins Ruhrgebiet gegangen. Das gewaltige Anwachsen der Industrie in jenem Teil Deutschlands rief nach vielen Arbeitskräften, zog sie an, und gerade viele Masuren, denen bis dahin nur eine Landarbeiter-Existenz möglich gewesen war oder bestenfalls die eines Handwerkers, reihten sich in das Industrie-Proletariat ein, was wohl meistens hieß: Sie machten die Drecksarbeit in Gruben und Fabriken.
Anfang 1900 sollen rund sechzigtausend Masuren im Ruhrgebiet gezählt worden sein, davon über ein Viertel in Gelsenkirchen. Und sie hatten es außerordentlich schwer,
es “zu etwas zu bringen”.
Was Wunder! Wollte man sie doch nicht einmal so richtig als Deutsche anerkennen. Und wer je im Westen Deutschlands später beobachtet hat, wie verächtlich ein Westfale oder Niedersachse das Wort Flüchtlinge in “ Flichtlinge” entstellte oder dann mit manchem Gastarbeiter umsprang, vermag sich vorzustellen, was das bedeutete.
Und “ Gastarbeiter” ihrer Zeit: das waren im 19. und frühen 20. Jahrhundert eben auch und nicht als letzte die Masuren.
Da wir seit der “ersten” Reise jedes Jahr nach Ostpreußen reisen ist Pfr. Boksa zu einer festen Anschrift geworden. Er lädt uns immer wieder ein, auf unseren Reisen wenigstens einmal bei ihm zu übernachten. Mit ihm suchten wir vergeblich auf dem Friedhof das Grab meiner Tante Frieda die 1945 Opfer der ruhmreichen Roten Armee durch wiederholte Vergewaltigungen wurde. Bemühungen eine Gedenktafel auf dem Friedhof für alle zu Tode gekommenen Einwohner zu errichten scheiterten lange am Widerstand aus Teilen der heutigen polnischen Bevölkerung. Wir haben auf unserer ersten Reise natürlich auch die Marienburg, Elbing, Wormditt, Heiligenlinde und Rößel besucht. Aber ich war, wegen der für mich bedrückenden Stimmung die über dem Land lag, nur durch die Überredung meiner Anni zu einem längeren Verweilen bereit.
Allerdings in Masuren!
Da wusste ich noch nicht, dass mein Vater hier zuhause war.
Dieser Himmel über dem Land!Bild
Blauer Himmel und Haufenwölkchen, an den Rändern schneeweiß. Irgendwer versuchte mir zu erklären, das käme von den vielen masurischen Seen, dass der Himmel diese nirgendwo sonst anzutreffenden Wolken hat. Sage ja niemand, dass der Himmel überall auf der Erde gleich sei - wer dies behauptet, hat ihn noch niemals genau betrachtet. Diese Weite über dem Land von seinem Himmel her! Das hat nichts mehr von westlicher Einförmigkeit und Kleinkariertheit. Das atmet Unbegrenztheit und hat doch diese leise Melancholie, gleichsam volksliedhafte Poesie. Wir fuhren kreuz und quer durch das Land meiner frühen Kindheit. Und wie lange ist alles her. Ich war 1945 zwei - und nun schon weit über über sechzig Jahre alt.
Doch Heimat ist, wo das Herz weh tut.
Es ist ein stilles Land, ein gleichsam verschwiegenes, von einer unbeschreibbaren Ruhe, was nicht heißt: Lautlosigkeit. Selbstverständlich gibt es die zahlreichen Geräusche der Natur: das Rauschen der Wälder, das dem des Meeres gleicht; die unterschiedlichen Stimmen der Vögel. Ich denke, es ist diese vollendete Harmonie aus Wäldern, Seen und hügeligem Bauernland, die Gemächlichkeit und Ausgeglichenheit bewirkt, geradezu ein Gefühl der Verwunschenheit heraufruft. Es sind noch die alten kurvenreichen Straßen, gesäumt von den alten Bäumen; ihre Kronen über uns ineinandergewachsen, bilden Gewölbe wie in Kirchen. Landstrassen wie z. B. von Wormditt nach Guttstadt, oder von Sensburg nach Johannisburg haben sich mir unauslöschlich in ihrer unverwechselbaren Schönheit eingeprägt.
Nach unserer Rückkehr wurde natürlich meiner Mutter ausführlich berichtet. Jetzt passierte etwas, was uns sofort die nächste Reise planen ließ.
Meine Mutter teilte mir mit, das mein Vater 1938 nach der Entlassung aus der
Luftwaffe (Gr. Kampffliegerschule Faßberg) vor und während des Krieges bei den Junkerswerken in Dessau (Ju 52,Ju 87u.Ju 88 ) als Einflieger, heute sagt man Testpilot, tätig war. Er galt als vermisst, und wurde in Dimussen bei Gehlenburg Richtung Johannisburg /Masuren geboren . 1994 ging es also wieder nach Ostpreußen. Diesmal mit Schwerpunkt Masuren. In Pisz -früher Johannisburg - nahmen wir in einem an der Galinde gelegenem sehr gutem Hotel Quartier.
Dann ging es über Biala Piska nach Dimusy - auf den Spuren der Vergangenheit.
Das abgelegene Dorf, hatte bis zur großen Flucht im Winter 1945 seine Identität bewahrt. Eine Welt ohne elektrischen Strom, aber mit Petroleumleuchten, ohne asphaltierte Straßen, dafür mit Sandwegen, auf denen nur Pferdetransporte sich ohne große Mühe fortbewegen konnten. Das tägliche Leben war mühsam, die Menschen bescheiden und geduldig, die kleinen Abwechslungen beschränkten sich auf die Badenachmittage der Kinder im einsamen, nahegelegenen See und auf Festlichkeiten, die den Erwachsenen Gelegenheit gaben, sich außerhalb der täglich zu verrichtenden Arbeit näher zukommen.
Eine Welt, die Heimat war für Menschen, deren Leben eine tragische Wendung nehmen sollte. In diese Idylle bricht störend der Krieg ein, fordert seinen Tribut an den kriegsfähigen Männern und verlangt von den Daheimgebliebenden, sich mit den Zwangsarbeitern aus Polen und den Gefangenen aus Frankreich auseinander zu setzen. Der Zusammenbruch der deutschen Ostfront zwingt letztendlich Einheimische, Fremdarbeiter und Gefangene, sich gemeinsam auf den rettenden Treck in Richtung Westen zu machen, das Dorf zu verlassen, um wenigstens ihr Leben zu retten.
Der Ort hatte vor dem Krieg 300 Einwohner. Heute sind es weniger. Strom und Satellitenschüsseln haben Einzug gehalten. Sonst scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Alte Kopfsteinpflasterstraßen, altersgraue Häuser, der Baumgarten davor, und zur Straße der Staketenzaun... Blühende Fliederhaufen... In der Dorfmitte ein Wassertümpel, hinter ihm auf der Weide, eine Schar weißer Gänse und Enten... Bild Storchennester über manchen Stallgiebel und auf Strommasten. Der Friedhof mit einer über 50jähriger Vegetation überwuchert und als Müllhalde missbraucht, gibt kein Geheimnis meiner Vorfahren preis.
Einige Maiglöckchenstauden, der Boden ist durchgehend damit überwuchert, haben wir mit nach Herzogenrath und Belgien (Maaseik) genommen, wo sie prächtig gedeihen. Nirgendwo sonst wie auf einem Friedhof wird mir so unmittelbar bewusst, was das ist - ein Menschenleben. In seiner Begrenztheit, Eingeengtheit, Flüchtigkeit, völliger Unberechenbarkeit. Der Hinweis von etwas deutsch sprechenden Polen, die sich fast entschuldigten, heute in Dimusy zu leben - da sei ein W. vor 5 Jahren in Gehlenburg gestorben - stundenlanges Suchen auf dem dortigen Friedhof - brachte keinen Erfolg.
Wir fühlten uns von der Gastfreundschaft der uns bis dahin unbekannten Menschen berührt. Distanz, ja sogar Abweisung hatten wir erwartet, im besten Falle eine höfliche Duldung. Die Zuwendung, die uns entgegen gebracht wurde, die Zeit die sich der Bauer und seine Frau für uns nehmen, die Achtung und Verständnis, die unser Besuch auslöst, bringen unsere Herzen zum überlaufen.
Ruckzuck wird im Wohnzimmer der Tisch gedeckt, mit Wurstplatten, Schinken, Eiern, kaltem Fleisch, Obst, Kuchen, Wodka und Bier. Man setzt sich. Es beginnt unter höflichem Anbieten, Nehmen, Danken und Ablehnen eine etwas mühsame Unterhaltung, teils polnisch, teils deutsch.
Beim herzlichen Abschied mit Handküssen für meine Pani Anni, gibt es als Geschenke Schinken, Wurst und Hirschgeweihe.
Gottseidank hatten wir div. Spirituosen und Süßigkeiten aus Deutschland mit dabei, so konnten wir auch etwas zurück schenken.
In der Heimat von Kant wird wie selbstverständlich sein wichtigster Lebensbefehl - Klartext 21. Jahrhundert- Handle so, wie du selbst behandelt werden möchtest, gelebt.
Probleme bestehen aus unseren gemachten Erfahrungen nicht zwischen den deutschen Heimatvertriebenen und den im Vertreibungsgebiet wohnenden Polen. Wohl aber bestehen große Probleme mit den nicht beteiligten Deutschen und den nicht beteiligten Polen.
Auf der Rückfahrt erworbene Steinpilze und Maronen erwiesen sich zu Hause - wir waren von Nikolaiken bis Herzogenrath 18 Stunden gefahren (1500 Km) - als wurmstichig. Und wir hatten immer noch keine Störche gesehen.
Also, im Sommer fahren. Der äußere Eindruck wird immer besser, immer mehr deutschsprachige Hinweisschilder, Reklame etc. An Bauruinen wird weiter gearbeitet, mehr Fahrzeuge mit deutschen, ja auch Kennzeichen aus Belgien und den Niederlanden. Die Bevölkerung wird freundlicher -
Ganz im Gegensatz zu Schlesien. Auch hier war ich im gleichen Jahr, allerdings mit meinem Schwiegervater - er stammte aus der Gegend um den Annaberg - unterwegs. Von Breslau ins Riesengebirge über Oppeln, Kattowitz und Gleiwitz bis Auschwitz.
Millionen Menschen, größtenteils Polen fanden hier durch die Nazis, die doch auch Deutsche waren, den Tod. Das Lager ist heute ein Museum und eine Gedenkstätte für die, die hier starben. Vielleicht sollten wir das Schicksal unserer Vertreibung auch einmal im Zusammenhang mit dem Schicksal dieser Toten sehen. Hier war noch viel Ablehnung bis zu offener Feindschaft, und das nicht nur von Einzelnen, zu spüren und zu erleben. Wir haben aber auch wiederholt antisemitische Parolen in polnisch an Häusern und Wänden gesehen.
Friedhöfe und Kirchen werden - wenn auch mit bescheidenen Mitteln - instandgesetzt . Der durch einen Brand zerstörte Dachstuhl des ehemaligen Gerichtsgebäudes des Heilsberger Schlosses ist erneuert. Die noch vorhandenen Bauten aus der Vorkriegszeit am Markt sind oder werden instandgesetzt. Broschüren, z.B. über das Heilsberger Schloß, nehmen Bezug auf die Vertreibung und das darin liegende Unrecht an der ermländischen Bevölkerung.
Die Nehrung über die im Winter 1945 die Todestrecks zogen, Rastenburg und die Wolfschanze, BildAngerburg Lötzen, Lyck und Arys. Neue Eindrücke in unserem Ostpreußenbild, ebenso Kutschfahrten durch Reservate am Spierdingsee und Mauersee oder eine Stakfahrt auf der Kruttinna, dem schönsten Fluss Masurens, an einem sonnigen, stillen Tag. In dieser Märchenlandschaft nehme ich spontan am Eingang zum See ein Bad direkt vom Boot ins Wasser - herrlich! Wir sehen auf der Straße in Richtung Swieta Lipka (Heiligenlinde, Wallfahrtsort mit hervorragenden Orgelkonzerte) auf einem abgeflämmten Feld 50 Störche, die der Einladung zur “Grillparty“ gefolgt sind. In der Nähe von Talty im Sommer ein schneeweißes Feld . Des Rätsels Lösung 7000 Gänse, und alle hatten blaue Augen . Wir haben nach gefragt und zwei Gänse gekauft und bei unsere polnischen Freunde Luzya und Thadeus in Mikolijki mit Rotkohl und Klößen zu bereitet .
Er, für eine Telefongesellschaft lange in den Vereinigten Staaten tätig. Sie hat als Corporal in der polnischen Armee Sanitätsdienst geleistet. Beide haben in Nikolaiken eine Pension eröffnet in der man sich wohlfühlt. Thadeus arbeitet während der Woche in Warschau. In Englisch kommen sich ein Pole und ein Deutscher näher und lernen sich verstehen und begreifen. “Klaus“, sagte Thadeus bei einem Abschied, ”Du bist kein Deutscher und ich bin kein Pole - wir sind beide Masuren“. Dzien dobry, co nowego, Klaus ruft Luzya, was soviel heißt wie: Guten Tag, Was gibt es Neues? wenn wir ankommen.

Wir fahren immer wieder gerne nach Nikolaiken, nicht nur weil die beiden sehr gastfreundlich sind und sehr gut Kochen können. Es ist die spürbare Zuneigung ,die uns nach Nikolaiken zieht. Maräne Zander Barsch und Aal, Fische die Fangfrisch auf den Tisch gelangen, und ein guter Wodka, sind für uns willkommene Gaumenfreuden .
Ja es geht so weit, das wir von ihnen aufgefordert wurden zurück zukommen, und wenn es nur für einige Monate im Jahr wäre, und eine Beratertätigkeit bei der Woidwodschaft aufnehmen. Du weißt soviel über Marketing und Planung, alles Dinge die wir noch nicht beherrschen und bedenken, da vorrangig nur der schnelle Profit gesucht wird. Gerade die rasante Entwicklung von Nikolaiken geben Thadeus Recht, hier werden Fehler gemacht die nur sehr schwer gut zu machen sind. Die größte Hotelanlage verfügt derzeit ca. 1400 Betten.

Auch die Einsichten in die evangelischen Kirchenbücher in Nikolaiken , der evangelische Gottesdienst erfolgt nach Augsburger Ritus - der Pfarrer trägt noch Rochette und Stola, und später im Zentralregister in Berlin bringen uns keinen Schritt weiter auf der Suche nach meinen Vater. Thadeus telefonierte mit zwei Ws, im Umkreis von 100 Km - ohne Erfolg. Ein weiterer W. war nach Argentinien ausgewandert. Bei Recherchen u. a. auch im Internet, stellte ich fest, das der Name W. Wingert bedeutet - das heißt Winzer, er kommt aus Süddeutschland und dem Salzburgischen. Sollten Exkulanten - Protestanten - die wegen ihres Glaubens verfolgt, und ihre Heimat verlassen mussten, meine Vorfahren sein?
Ludwig Ganghofer schildert in seinen Romanen “Der Mann im Salz” und “Das Grosse Jagen”, vor der imposanten Kulisse der Berchtesgadener Bergwelt, die Verfolgung bis zum Tod auf dem Scheiterhaufen dieser in und durch ihren Glauben standhaften Menschen. Im evangelischen Paradiesgärtlein von Johann Arndt heißt es:“ Nicht die Zweifler machen einen neuen Glauben, die Unduldsamen im alten säen ihn aus, und die Geplagten in ihrer Sehnsucht ernten ihn. Der junge Friedrich holte im Auftrag seines Vaters, dem Soldatenkönig, 10.000 Inkulpaten von den Bischöfen zu Salzburg und Berchtesgaden Verjagten nach Ostpreußen und siedelte sie in Masuren an.
Ist das der Grund, das mein Name so selten ist? Ca. 500 Personen tragen in Deutschland diesen Nachnamen.
Bei einem weiteren Besuch in Dimusy 1997 bekomme ich einen Lageplan, erstellt von einem Deutschen, Walter O. aus Datteln, der die früheren Besitzverhältnisse und Lage der Anwesen aufgelistet und katalogisiert hat.
Wir können nicht mehr in die Welt der herkömmlichen masurischen Menschen zurückkehren, denn es gibt daheim nur noch so wenige von Ihnen. Marion Gräfin Dönhoff sagte einmal ... wir kommen nach Hause in unsere Landschaft. Die vor uns da war und nach uns da sein wird. Alles ist anders geworden, und alles ist gleich. Geht man über die weiten Wiesen und fährt man mit einem altem Kahn über die Wasserflächen, so meint man, nichts habe sich verändert, obwohl doch vom Einst nichts mehr geblieben ist.
Walter O. überredet uns im September 1997 zum Besuch eines Treffens der Landsmannschaft in und um Johannisburg, in der Westfalenhalle Dortmund.
Nach dem Zweiten Weltkrieg hat die größte Vertreibung der Geschichte stattgefunden. Für den Terror, mit dem Nazideutschland Osteuropa überzogen hatte, rächten sich die Opfer an der deutschen Bevölkerung: Von 16 Millionen Deutschen wurden 12 Millionen enteignet und aus ihrer Heimat vertrieben, über zwei Millionen kamen ums Leben.
Auf den Konferenzen von Jalta und Potsdam hatten die USA und Großbritannien der Sowjetunion die Annexion Ostpolens zugestanden und Polen als Ausgleich die deutschen Provinzen östlich der Oder und Neiße gegeben: Schlesien, Ostbrandenburg, Ostpommern und Ostpreußen. Die acht Millionen Einwohner sollten “in geordneter und humaner Weise” nach Westen geführt werden. Ungeplant wurden zugleich drei Millionen Sudetendeutsche aus der Tschechoslowakei und Hunderttausende aus anderen osteuropäischen Ländern vertrieben. Im besetzten Deutschland wurden angesichts zerstörter Städte und Industrien die meisten Flüchtlinge nach Bayern, Niedersachsen und Nordrhein- Westfalen geschickt. 1950 bekannten sich die Vertriebenenverbände in ihrer Charta zum Gewaltverzicht und forderten, das Recht auf Heimat als Menschenrecht anzuerkennen. Vertriebenenfunktionäre verursachten aber auch mit Schlagworten wie “Schlesien bleibt unser” immer wieder für internationale Irritationen.
Allerdings hat auch keine politische Partei oder Bundesregierung gleich welchen Coleurs den Vertriebenen jemals die Rechtslage korrekt geschildert.
So hörten meine Frau und ich auf dem vorgenannten Treffen in Dortmund auch Ansprüche gegenüber dem deutschen Staat. Dieser habe “über das Privatvermögen der Heimatvertriebenen verfügt”. Nichts für uns, nach drei Stunden verlassen wir das Treffen, nicht ohne im Foyer an einem Infostand 10 Anschriften von W.´s mitzunehmen.
Genau der letzte Anruf erbrachte die folgende Auskunft: “Die Schilderung und Beschreibung könnte auf seinen Onkel Willi zutreffen”.
K. W., aus S. bei Münster vermittelte, mir dieses Wissen. Vor 30 Jahren war “Onkel Willi ” auf seiner Hochzeit gewesen. Der Kontakt sei danach abgebrochen, nach seinem Wissenstand würde er aber noch Leben, und zwar in der Nähe von Köln. Nur durch seine Bereitschaft zu helfen ist es mir gelungen das jahrelange vergebliche Suchen nach meinem Vater doch noch erfolgreich abzuschließen. Das wir meinen Vater auch noch lebend finden würden daran haben meine Frau und ich nie zu hoffen gewagt.
Warum wurde von meinen nächsten Angehörigen so viele falsche Angaben gemacht, und - versucht - die Wahrheit mit ins Grab zu nehmen .
Ich habe mit K. W. viele Telefonate geführt, um gemeinsam die Vorgehensweise zur Kontaktaufnahme zu planen.
Fragen über Fragen:
Wie ist sein Gesundheitszustand?
Kann er das alles noch geistig erfassen?
Ist seine Frau über die erste Ehe informiert?
Weiß Sie um meine Existenz?
Was wissen seine Kinder?

Nach langem “hin und her” habe ich mich telefonisch bei meinem Vater gemeldet. Wie er mir später sagte, wusste er nach drei Minuten, wer ich war.
Er hatte uns, wie auch von Mutter, Opa und Oma geplant und mir erzählt, auf der Willi Gustloff - ein Schiff der KdF Flotte, das die Zivilbevölkerung aus Ostpreußen evakuieren sollte - gewusst.
Zu diesem Zeitpunkt waren meine Eltern bereits rechtskräftig vor dem Amtsgericht Dessau geschieden . Das Schiff wurde mit 10.000 Menschen an Bord, ausschließlich Müttern Kindern Schwerverletzte und alten Menschen, kurz nach dem Verlassen des Hafens von dem sowjetischen U -Boot S13 am 30.1.45 torpediert und versenkt.
Nur wenige Menschen überlebten im eisigen Wasser der Ostsee.
Wir, Großmutter, Mutter und ich, sind nicht rechtzeitig am Schiff gewesen, weil Oma ihre geliebte Heimat nicht verlassen wollte und mit vielerlei Ausflüchten die Flucht in Heilsberg verzögerte.
Das “Heilsberger Dreieck” war bereits Mittelpunkt von Kampfhandlungen, und auf die Zivilbevölkerung wurde keinerlei Rücksicht genommen. Mein Großvater Kriegsteilnehmer 14/18 wurde in den Volkssturm gepresst und ist auf dem Weg nach Sibirien umgekommen.
Die Rote Armee trieb Millionen Deutsche vor sich her und eine von Stalin und seinen politischen Kommissaren aufgepuschte Soldateska fiel in den Städten und Dörfern über die verbliebenen Zivilisten, Mädchen und Frauen her - raubte und vergewaltigte. Hunderttausende Deutsche wurden erschossen, erschlagen. Ebenso viele, wenn nicht mehr, starben an Hunger und Entkräftung, erfroren oder ertranken in der Ostsee. Tausende flüchteten in den Freitod.
Tante Frieda, die jüngste Schwester meiner Mutter, kam nach mehreren Vergewaltigungen ums Leben. Als Zweijähriger auf dem Arm meiner Mutter soll ich sie öfters gerettet haben, da meine Anwesenheit manchen Russen, leider nicht alle, auf andere Gedanken brachten. Sich ihrer eigenen Familie erinnernd, wurde dann stolz den verängstigten Frauen Fotos der eigenen Familien und Kinder gezeigt. Andere warfen Säuglinge und Kleinkinder der Mutter entreißend an die Wand und vergewaltigten die Schutz- und Rechtlosen Frauen . Die Überlebenden, sich immer wieder an das schreckliche Geschehen erinnernd, fanden spät oder gar nicht ihren Seelenfrieden wieder. Später, als junger Mann, erzählte mir meine Großmutter, wie ein Nachbar im Keller meiner Tante Frieda zugerufen habe, als die Russen an ihr zerrten:
“ Nun geh doch schon mit, du gefährdest doch uns alle”! Es geschah auch, dass Frauen die Verstecke von Mädchen den Russen zeigten “Die sollen es nicht besser haben als wir“. Kleine Fußnote zum Untergang des Abendlandes.
Mit Glück und der Tatsache, das Mutter Epauletten an russische Offiziersuniformen nähen konnte, entgingen wir einer Deportation nach Sibirien. Einen Tag standen wir zum Transport bereit, doch weil die Fahrzeuge nicht eintrafen, wurden die Gruppe zu der meine Großmutter meine Mutter und ich gehörten, wieder weggeschickt.
Dann kamen die Polen, die Sowjets hatten Ihnen einige Hundert Kilometer weiter östlich weisgemacht, dass in Ostpreußen Milch und Honig fließen würden. Sie brauchten sich nur in die Betten der Deutschen legen und deren Teller leer zu essen, denn die wären ohne Gepäck von jetzt auf gleich davon. Was haben sie vorgefunden? Trümmer - ausgeplünderte Häuser - leere Scheunen - verrecktes Vieh - und todesverängstigte Menschen. Es wurde Rücksichtslos Besitz ergriffen. Nur wer polnisch wurde durfte bleiben
Wir sind, weil wir nicht optierten - d.h. nicht, wie verlangt, polnisch wurden - teils zu Fuß oder per Güterwagen, unterwegs gewesen, um von Ostpreußen nach Deutschland zu kommen. Meine Mutter, die alles verloren hatte, sang mir, Kleinkind, im Oktober 1945 in einem Viehwagen irgendwo zwischen Allenstein und Berlin alle Strophen von “Der Mond ist aufgegangen “ vor. Sie hatte irgendwann keine Milch mehr in ihrer Brust. Kinder hören auf zu weinen, wenn ihre Mütter singen. Nach der Ankunft in Bielefeld lag ich ein halbes Jahr in Bethel Krankenhaus.
Was unmittelbar nach dem Krieg im deutschen Osten jenseits von Oder und Neisse geschah, hat in das Leben aller die dort ihre Heimat hatten, auf das heftigste eingegriffen, auch in mein damals kindliches Leben.
Bei der Durchsicht des Nachlasses meiner Mutter, nach deren Tod, habe ich Hinweise und Dokumente wie einen Ausweisungsbefehl, von einem Durchgangslager in Berlin Ankunft im November 1945, Entlausungsnachweise sowie die Genehmigung zur Weiterreise nach Bielefeld - Brackwede, gefunden.
Die genau Summe des, wie immer behauptet ach so großen, Lastenausgleichs liegt mir im Original vor.
Gewiss ist das, was meine Familie und ich am Ende des Krieges und danach erlebten, nichts Einzigartiges, sondern das gewöhnliche Leid ungezählter Menschen, die von den Mächten des Bösen überfallen und durch das Tal des Todes getrieben wurden. Wenn ich trotzdem aus dieser entscheidenden Zeit meines Lebens berichte, so geschieht es nicht, um jene anzuklagen, die uns zerschlugen, noch um für meine unglücklichen Landsleute Mitleid zu heischen. Ich versuche vielmehr, für alle, die nach mir geboren sind, Wissen weiter zugeben.
Im Herbst 1997 standen mein Vater und ich uns - zum Erstenmal in unserem Leben - gegenüber.
Das Schicksal gewährte uns diese späte Gnade. Wir sind beide Ostpreußen, gerade dieses erste Treffen, an dem auch unsere Ehepartner teilnahmen, stellte dies Eindrucksvoll unter Beweis. Keine überschwängliche Begrüßung, ein fester Blick, ein Handschlag der stimmte und über Stunden die Schilderung des jeweiligen Lebensverlaufs. In diesem Jahr wird mein Vater 97 Jahre.
Lernen wir aus der Vergangenheit ?
Oder war alles Erleben vergebens ?

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Detlef Aghte
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Beitrag von Detlef Aghte »

Danke,
Lorbass, ich bin einer der jenigen, die sich immer aufgeregt haben, weil ich diese"Hupkas" mit ihren Ansprüchen und politischem Weltbild nicht mochte
Tausend Morgen Wind hinterm Haus, war auch so ein Satz.
Ich habe hier in der Nachbarschaft einige Leute,die regelmäßig in diese gegend fahren und auch so glücklich sind, dass sie alte Erinnerungen aufleben lassen können
Dein Bericht hier ist mir jedenfalls unter die Haut gegangen
detlef
Wer durch des Argwohns Brille schaut,
sieht Raupen selbst im Sauerkraut
W. Busch

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JürgenB
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Beitrag von JürgenB »

Ja, ich verschließe mich nicht der Erkenntnis, dass auch ihr gelitten habt, aber eines möchte ich doch noch mal angesichts folgenden Satzes im drittletzten Absatz klarstellen:
Gewiss ist das, was meine Familie und ich am Ende des Krieges und danach erlebten, nichts Einzigartiges, sondern das gewöhnliche Leid ungezählter Menschen, die von den Mächten des Bösen überfallen und durch das Tal des Todes getrieben wurden.
Die "Mächte des Bösen" kamen aus dem Westen und haben beispielsweise mehr 20 Mio. Russen und 7 Mio. Juden "durch das Tal des Todes getrieben".
Geboren im Jahre der Meisterschaft - nicht wie ihr alle denkt, sondern 3 Jahre früher!

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Lorbass43
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Die "Mächte des Bösen"

Beitrag von Lorbass43 »

Die Zivilbevölkerung in den Ostprovinzen des Deutschen Reiches bekam die volle Wucht des Kriegsendes besonders zu spüren. Dort war die Zahl der Zivilisten seit 1943 noch stark angewachsen, weil viele Frauen, Mütter und Kinder wegen der Bombenangriffe auf die deutschen Großstädte in den vermeintlich sicheren Osten des Reiches evakuiert worden waren.
Sie erlebten am Ende des Krieges die Vergeltungs- und Strafmaßnahmen der Roten Armee als Erste. In den östlichen Provinzen gingen in diesen Monaten Hand in Hand:

flächendeckende Verhaftungen vermeintlicher Kriegsverbrecher
willkürliche Erschießungen angeblicher „Diversanten“ und „Terroristen“
Zwangsrekrutierung und Deportation männlicher und weiblicher Arbeitskräfte - darunter auch 12jährige Mädchen und 70jährige Greise - sowie eine brutale Gewalt gegen Frauen als „Kriegsbeute“.
So hat Bundespräsident Horst Köhler in seiner Rede zum 8. Mai 2005 dazu aufgefordert, alle Opfer des Zweiten Weltkrieges ins historische Gedächtnis mit einzubeziehen, nämlich „die Opfer der Gewalt, die von Deutschland ausging, und […] die Opfer der Gewalt, die auf Deutschland zurückschlug“:
„Wir gedenken des Leids der Zivilbevölkerung in allen Ländern. Wir gedenken der in deutscher Gefangenschaft umgekommenen Millionen Soldaten und der Millionen, die zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt wurden. Wir gedenken der mehr als eine Million Landsleute, die in fremder Gefangenschaft starben, und der Hunderttausende deutscher Mädchen und Frauen, die zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion verschleppt wurden. Wir gedenken des Leids der deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen, der vergewaltigten Frauen und der Opfer des Bombenkriegs gegen die deutsche Zivilbevölkerung.“
Und weiter: „Wir haben die Verantwortung, die Erinnerung an all dieses Leid und an seine Ursachen wach zu halten, und wir müssen dafür sorgen, dass es nie wieder dazu kommt.“

Die “Mächte des Bösen” gibt es seit dem der Mensch das Paradies verlassen musste. Immer und überall ! Da wird sich auch nicht an Himmelsrichtungen gehalten.

Wie pflegte meine ostpreussische Großmutter zu sagen:
“Es lässt sich gut gackern, wenn anderer Leute Hühner die Eier legen”

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