Werner Schlegel

Schriftstellerei, Dichtung, Rezitation

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Verwaltung
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Werner Schlegel

Beitrag von Verwaltung »

Werner Schlegel (* 1951 in Ansbach/Bayern) ist ein deutscher Autor.

Schlegel begann mit 16 erste Artikel für eine heimische Lokalzeitung zu schreiben. Nach einem wildbewegten Jugendleben wurde er 1974 wegen "Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung" zur Fahndung ausgeschrieben und im Februar 1975 in Zürich mit dem Chef der Schweizer "Gruppe Bändlistraße" verhaftet. Erste literarische Veröffentlichungen verzeichnete er aus der Haft heraus. Zunächst politische Lyrik in bekannten Literaturzeitschriften die horen, denen bald drei eigene Lyrikbände folgten. Neben Peter-Paul Zahl zählte er rasch zu den bekanntesten Knastautoren der 1970er Jahre.

Nach seiner Haftentlassung arbeitete er zunächst als Zeitschriftenredakteur und freier Journalist, u. a. für Zeitschriften wie Stern und die Die Zeit. In den 90er Jahren gab er als Autor und Mitherausgeber mehrere literarische Anthologien im Essener ARKA-Verlag heraus und publizierte Sachbücher. So "Frauen denken anders" mit seiner Ehefrau Marit Rullmann. Er ist Autor der 2005 erschienenen Biografie von Kelly Trump, die ihm ihre Erlebnisse als Ex-Pornostar auf Band sprach.

Als Satiriker mit eigenen Bühnenvorstellungen ("KabaRead-Programm") deckt Schlegel ein ungewöhnlich breites Panorama politischer, gesellschaftlicher und menschlicher Themen ab, die er mit wechselnden Stilmitteln - teils drastisch im Humor, teils subtil und mit feiner Ironie - ins spöttische Visier nimmt.

Werke

* Dornrösia und andere moderne Märchen und Sagen, ARKA-Verlag, Essen 1994, ISBN 3-929219-02-6
* Frauen denken anders. Philo-Sophias 1 x 1, Suhrkamp, Frankfurt/M. 2000, ISBN 3-518-39654-4
* Kelly Trump. Ein Star packt aus, Beluga New Media, Herten 2005, ISBN 3-938152-07-9 (4 CDs)
* Der ganz normale Wahnsinn - 10 Leersätze aus einem unnormalen Autorenleben, Hör-CD, Beluga New Media, Herten 2005, ISBN 3938152-03-6

Kabarettprogramme

"Ich denke, also spinn' ich!"

"Hiebe deinen Nächsten!"

"Der ganz normale Wahnsinn - 10 Leersätze aus einem unnormalen Autorenleben"

Pressestimmen

"Noch gilt er als Geheimtip: Ob der Wahl-Gelsenkirchener in einer Emil-Parodie als Politikerberater Meier-Hülimann mit Schäuble, Schröder und Kohl telefoniert oder als FUNTLSAT-Reporter mal eben trendy-easy-happy den flexibelsten Arbeitnehmer des Jahres interviewt - dem Publikum ist meist gar nicht bewußt, daß es eine gekonnte Gratwanderung zwischen schauspielerischer Lesung und gespielten Kabarettnummern erlebt. Wenn seine diversen Figuren in verschiedenen Dialekten über den "genormten Mann" an sich oder das Thema "Ausländer raus" referieren, ist nur noch Lachen angesagt." MARABO -

"Schlegel steht heute mehr oder minder allein auf weiter Flur. Kabarett wie er es bietet sieht man selten. Unverhohlen setzt er der Gesellschaft den Spiegel vor... Mit der flachen Comedy, die zu Häuf auf den Bühnen zu sehen ist, hat sein Programm nichts zu tun." GENIUS - "Der Mann hat Mut. Gewerkschaften, die schöne neue Medienwelt oder ,doitsche' Rassisten hat Schlegel als Ziel seiner bissigen Satire auserkoren. Der Künstler erwies sich dabei nicht nur als scharfsinniger Beobachter des real existierenden Schwachsinns, sondern brachte sein kleinen Geschichten mit feinen schauspielerischen Nuancen auf die Bühne."
Westdeutsche Allgemeine Zeitung

http://www.berlinerzimmer.de/wernerschl ... istext.htm

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Fuchs
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Beitrag von Fuchs »

Werner war 98 mit seinem Programm "Ich denke, also spinn` ich " im LaLok:

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xy
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Beitrag von xy »

Schlegel schrieb unter anderem 15 Jahre lang für das Ruhrgebietsmagazin Marabo, bis es vor ca. vier Jahren eingestellt wurde. Unter seinem Klarnamen veröffentlichte er dort u.a. Sozial-Reportagen. Unter dem Pseudonym "Edwich Rach" und/oder dem Kürzel "er" publizierte er dort viele Artikel über Gelsenkirchener Ereignisse - was für die GE-Geschichten sicher nicht unwichtig ist. Er verstand sich immer als politischer Autor, was seine "Provinznotizen" auf seiner Website http://wschlegel.kulturserver.de/ bestätigen.

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rabe489
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Beitrag von rabe489 »

Werner Schlegel auf die Frage, ob er ein Buch über die Literarische Werkstatt Gelsenkirchen schreibe:
nein, das stimmt so nicht. Es ist eine Anthologie von und über die MARLER Literarische Werkstatt. Sie ist die älteste noch existierende in Deutschland und hat im Kuzlturhauptstadtjahr 2010 ihr 30-jähriges Jubiläum. Eigentlich ist sie sogar noch älter, aber es gab ein paar Jahre Pause, bis sie von Richard Limpert 1980 neu ins Leben gerufen wurde. Seither existiert sie ununterbrochen. Ich leite sie seit Februar 2005.

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rabe489
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Von Werner Schlegel

Beitrag von rabe489 »

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rabe489
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Eine Geschichte von Werner Schlegel, für das GG-Buch frei

Beitrag von rabe489 »

Fremde Küche Gelsenkirchen

Ursprünglich verfasst für „Interkultureller Stadtführer“, einer im Januar 2001 erschienenen Broschüre des heutigen Büros „Interkulturelle Koordination“ (Mehmed Ayas, Manfred Fokking) der Stadt Gelsenkirchen. Unmittelbar vor Druckbeginn als – so bei einem späteren Telefonat - „amerikafeindlich“ aus den Layout-Unterlagen zensiert (siehe anhängende Marabo-Story).

Später eingereicht beim Schreibwettbewerb "Grenzen & Identitäten" des Ruhrgebiets-Projekts "Städteregion 2030". Von der Jury mit dem 1. Preis (800,-- EU) ausgezeichnet. Preisverleihung war am 10.11.2003 im Triple Z in Essen


Mittelfranken sind Fremde – in der eigenen Heimat. Sie tragen keine Lederhosen, beherrschen weder das normale, geschweige denn das Kopfstimmenjodeln, verwechseln sprachlich ständig „P“ und „B“ und „T“ mit „D“, essen lieber gebackenen Karpfen als einen „anständigen“ Schweinsbraten mit Knödeln und haben – zumindest im Umfeld der Bezirkshauptstadt Ansbach – meist auch noch die falsche Religion: sie sind gut protestantisch. Allein schon dadurch erweisen sie sich als praktisch unintegrierbar in die Leitkultur ihres Gastlandes. An das wurden sie im März 1806 – allen guten Geistern der französischen Revolution sei‘s geklagt – von Napoleon schäbig verschachert. Vorher gehörten sie zu Preußen. Also zu Bayerns Todfeinden. Das wirkt bis heute nach. Mittelfranken ist sozusagen das bayerische Kurdistan.
Ich bin Mittelfranke. Daran liegt es wohl, daß ich mich allem, was mit „quer“ und „anders“ zu tun hat, sofort verbunden fühle: Querkopf, querdenken, querlegen, querfeldein, Querverbindung, querbeete Küche – andere Küche. Fremde Küche ist meine Küche. Abgesehen einmal von gebackenem Karpfen und natürlich Ansbacher Bratwürsten (die es in dieser Art auch nur dort und in den nächstumliegenden Dörfern gibt). Achja und Wild. Aber das hat wieder mit dem Querfeldein zu tun. Außerdem ist das gute deutsche Wildschwein keineswegs typisch deutsch, sondern zumindest europäisch international. Wer anderes glaubt hat noch nie einen Wildschweinbraten in der Auvergne gegessen oder bei Asterix nicht aufgepaßt.
Nicht in die Küche kommt mir das Hausschwein. Zu brav. Zu wenig anders. Zu angepaßt, eben – zu deutsch (läßt sich in einen engen Koben sperren und fettmästen bis es einer Couchkartoffel ähnelt!). Karpfen, Wild(Schwein) und (Ansbacher) Bratwürste. Letztere stammen als Regelausnahme vom deutschen Hausschwein. Aber vom mittelfränkischen! Das ändert die Sachlage. Ansonsten liebe ich ausländische Küche. Beispielsweise französische, spanische, italienische, portugiesische.
Mit der französischen ist es – wie mit so vielem anderen auch – in Gelsenkirchen schlecht bestellt. Also mach‘ ich sie selbst. Coq au vin á l‘alsacienne. Lamm auf provenzalische Art. Escargots á la bourguignonne. (Dazu einen 80er Mâcon, von denen manch einer mit den meist dreimal so teuren 90ern Nuits de St. Georges gut mithalten kann). Enge Freunde wissen das – zu schätzen.
Die spanische Küche besteht natürlich nicht nur aus Tapas, aber diese sind ein nicht unwesentlicher Teil von ihr. Auch hier ist Gelsenkirchen auf dem absteigenden Ast. Zumindest seit das „Las Tapas“ nicht mehr existiert. Arianes Tapas waren vorzüglich. Selbst die als Halbfertigprodukt eingekauften. Nirgends schmeckten die „patatas bravas“ besser, war die Aioli würziger. Und spätestens wenn José Ramirez Alvarez zu fortgeschrittener Stunden mit seinem spanischen Rum, sonstigen Schnäpsen und Likören von Tisch zu Tisch wanderte, fühlte ich mich an die Hinterhofbodegas fernab aller Touristenviertel und straßen in Lloret de Mar erinnert. Dort hatte ich 1983 für eine deutsche Wochenzeitung und ein Magazin meine erste Auslandsreportage geschrieben. Und dabei Tapas kennen und schätzen gelernt. In exakt solchen Buden. Heruntergekommenes verräuchertes Ambiente, schmuddelige Toiletten, der Laden voll mit Charaktertypen wie aus einer alten Bukowskistory – und eine Atmosphäre, nach der man schon auf dem Nachhauseweg Heimweh bekam. So prall und voll wie das wahre Leben.
Jetzt haben sie dort das Café Madrid. Hell, freundlich, nett. Von der Art, wie es das überall gibt. Junge Leute gehen dort gerne hin. Aber keine mittelalterlichen Mittelfranken. Die brauchen was Verqueres. Einmal hab‘ ich‘s immerhin probiert. Da haben sie mir die „patatas bravas“ mitsamt der Schale serviert. Seitdem vermisse ich das „Las Tapas“ doppelt. José, hörte ich neulich, soll jetzt direkt daneben irgendwas mit türkischer Pizza machen. Aber das ist wieder eine ganz andere Geschichte.
Portugiesisches esse ich bei Gil. Natürlich heißt sein Laden anders: „Vasco da Gama“. Benannt nach dem großen portugiesischen Seefahrer und Entdecker. Auch so einer, der lieber überall zu Hause war als nur zu Hause.
Gil heißt mit Nachnahmen „da Silva“. Das klingt nach einem spanischen Granden. Aber Portugal mit Spanien auch nur zu vergleichen, verbietet sich schon aus geschichtlichen Gründen. Von der Küche her sowieso. In Portugal gibt es 365 Rezepte, um „bacalhau“, den Lieblings(stock)fisch zuzubereiten. Für jeden Tag des Jahres eines, sagt die Fama. Die Spanier kennen höchstens fünf. Und die haben sie von den Portugiesen geklaut. Übrigens viel zu spät: Wäre Columbus der extrem lange haltbare und immer etwas streng riechenden Trockenfisch (den man vor der Zubereitung am besten gleich einige Tage im Wasser schwimmen läßt) bereits bekannt gewesen, hätte er nicht zwecks Proviantsuche in Amerika an Land gemußt, sondern bis Indien durchsegeln können. Die Amerikaner wären noch heute Indianer, die Inder dafür Amerikaner und die Welt ohne McDonalds, weil die Heiligen Kühe ja nicht – oder irgendwie so ähnlich jedenfalls. Auch Gerichte machen eben Geschichte. Multikulturell und völkerverbindend. Für den „bacalhau“ gilt das ganz besonders. Der auch als traditionelles portugiesisches Weihnachtsessen fungierende Dörrfisch stammt nämlich aus der Fremde: Heimische Seefahrer brachten ihn im 16. Jahrhundert aus Neufundland mit.
Natürlich gib es bei Gil „bacalhau“. Und gegrillte „sardinhas“. Aber am liebsten sind mir die scharf gewürzten großen Mies- und die pikanten kleinen Venusmuscheln. Wenn die auf dem Tisch stehen, verschmelzen das schmuddelwettrige Ruhrgebiet und das urlaubserinnerte Südeuropa zu einem einzigen magenwohligen Gabelhappen. So muss das früher gewesen sein, als wir am neuentdeckten wärmenden Feuer in den Höhlen zusammenrückten, um uns an den ersten gebratenen Ur-Wildschweinen zu laben.
Gutes Essen macht friedlich. Fulgo ist gutes Essen Hochkultur. (Irgend jemand müsste das mal den Amerikanern beibringen). Der Zusammenhang zwischen der weltweit zunehmenden Aggressionsbereitschaft und der wuchernden Verbreitung von McDonalds-Buden sei hiermit öffentlich zur Diskussion gestellt. Diplomarbeiten bitte in Kopie an den Autor.
Apropos Hochkultur: Die Krönung war natürlich mein Lieblingsitaliener. War, da es ihn leider nicht mehr gibt. Natürlich handelte es sich auch gar nicht um einen Italiener. Sondern um ein Mazedonier aus Tetevo. Genauer: um einen Albaner mit mazedonischer Staatsangehörigkeit. Wie das eben so ist, im Schmelztiegel des Ruhrgebiets. Das machte aber rein gar nichts, denn: "Die Deutschen, können das sowieso nie auseinanderhalten“, sagte Bardil immer. Er betrieb mit seiner Frau Ayse in der Essener Straße in Gelsenkirchen-Horst das „La Luce“. Ayse ist in Deutschland geboren, aber kennengelernt hat Bardil sie in seiner Geburtsstadt. Und für seine eigenen Landsleute sind beide nichts anderes als Albaner. Kompliziert? Es kommt noch besser.
Bardil war auch gar kein gelernter Koch. Er machte 1986 bei der Mannesmann Röhrenwerke AG in Düsseldorf eine Ausbildung als Betriebsschlosser und Schweißer. Da er aber albanisch, serbokroatisch, bulgarisch und türkisch spricht, wechselte er 1993 freiberuflich ins Dolmetscherfach. Zum Kochen kam er genau wie ich: er ißt gerne gut. Zico, ein Verwandter, der 12 Jahre in Top-Restaurants arbeitete und sich einen Stern erkochte, brachte ihm dann die Feinheiten bei. Mit ihm als Küchenchef hatte er auch die Trattoria „La Luce“ eröffnet.
Taglierini mit schwarzen oder – im Winter – weißen Trüffeln waren Zicos Spezialgericht. Schon bei der Zubereitung schwebte der Trüffelduft aus der Küche, machte die Nasenflügel weit und die Mundhöhle in erregter Vorfreude feucht. Wenn Zico dann mit seinem Lausbubenlächeln an den Tisch kam, in einer Hand die Trüffelreibe, in der anderen das Glas mit den eigentlich so unscheinbar aussehenden schwarzwarzigen Pilzknollen, schmolzen Männer- und Frauenherzen gleichermaßen dahin.
Aber das Leben ist hart und in den meisten Amtsstuben sitzen keine Gourmets, sondern verknöcherte Paragraphenzähler – was sicher miteinander zu tun hat. Zico mußte sein ungastliches Gastland verlassen. Statt Trüffel zählt er jetzt KFOR-Soldaten, die – sonst wären es ja keine – seine Kochkünste überhaupt nicht zu schätzen wissen, sondern ihm statt dessen sogar noch den Paß abnahmen. „Gourmets aller Länder vereinigt euch! Nieder mit der Diktatur der magenkranken Kommisköppe! Küchenfreiheit für die Zicos dieser Welt!“ (das müßte mal irgend jemand den Amerikanern sagen).
Danach mutierte Bardils Leidenschaft zur Pflicht. Der „Insalate dello Chef“ mit Parmaschinken und einem vorzüglichen Rinder- oder – auf Wunsch – Lachscarpaccio trug nun den Namen zurecht.
Bardil kochte gut. Bardil kochte sogar sehr gut – und das nicht nur für Gelsenkirchener Verhältnisse. Den Rest besorgte die so herrlich undeutsche Herzlichkeit: „Wenn zu uns Gäste kommen, kommen sie zu uns nach Hause“, sagte Ayse. Und wer einmal dagewesen war, wußte, daß sie dies genau so meinte. Deshalb blieb der mazedonische Albaner auch ohne Zicos irgendwo im Kosovo verglühtem Stern mein Lieblingsitaliener.
Bis Bardil meine Frau und mich eines Abends telefonisch ins "La Luce" zum Essen einlud. Ein Abschiedsessen, wie sich herausstellte. Sie hatten nicht so richtig Fuß fassen können, im fremden Horst. "Currywurst", murmelte Bardil bedrückt, "hier paßt eher Currywurst hin. Und Pommes rot-weiß. Vielleicht auch noch Pizza, aber keine schwarzen und weißen Trüffeln". Und so erlosch "La Luce – das Licht" in der Essener Straße in Horst.
Zico fühlt sich übrigens, wie man hört, in in der Heimat inzwischen als Fremder. Da schließt sich der Kreis. Mittelfranken liegt in Albanien. Oder in Mazedonien. Oder in Kurdistan. Oder in Gelsenkirchen. Mittelfranken ist einfach überall. Deshalb fühle ich mich auch überall zu Hause. Vorausgesetzt – es gibt dort eine gute anheimelnde fremde Küche.

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rabe489
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Ein zweiter Text von Werner Schlegel

Beitrag von rabe489 »

Ruhrstadtrock oder Die Welt nach New York

"Trotz der pausenlosen Wiederholung dieser Floskel – es stimmt nicht, daß sich die Welt durch den Zusammenbruch des World Trade Centers verändert hat."

Gabriele Gillen ("Der Preis der Lüge")


I
Ganz plötzlich versucht sich der Spätherbst als Sommer zu tarnen. Gegen 11 Uhr schiebt sich die Thermometersäule gemächlich über den 22er Strich auf der Gradskala hinweg. Auf der Gelsenkirchener Bahnhofstraße schiebt und drängt es taschenbepackt mit verkniffenen Gesichtern. Zwei gegenläufige, ineinanderverwirbelte Menschenströme, aus denen sich größere und kleinere Rinnsale lösen, um in diesen scheinbar ewig gleichen Geschäften links und rechts zu versickern: Douglas, Woolworth, Tchibo, DM-Drogeriemarkt, Kaufhof, McDonalds. Nur wer sehr genau hinsieht, über Wochen und Monate hinweg, bemerkt die schleichende Veränderung. Mal schließt hier ein Geschäft, mal entsteht dort eine Lücke. Und stets sind es alteingesessene Einzelhändler. Häßliche papierverklebte Löcher im Schaufensterufer. Sie existieren nie lange genug, um wirklich jemanden zu alarmieren. Nach zwei, drei Wochen sind sie wieder geschlossen, ist das Ufer geflickt und bunt wie immer. Nur die Auslagen verändern sich. Statt WMF-Tafelsilber, Urbans Plastikrosen. Zuletzt traf es Kamphausen. Eßkultur und Geschenkartikel. Gut und teuer. Zu teuer – für diese Stadt.
Die Welt ist hier schon lange nicht mehr dieselbe. Zehn Jahre Arbeitslosenquoten zwischen 14 und 24 Prozent. Da feiert Arme-Leute-Plastik Triumphe. Jetzt verkaufen sie dort kuhäugige Terrakottafrösche und knallfarbene Gartenkitschenten Made in Taiwan. (Was die fernöstlichen Fabrikarbeiterinnen wohl über unsere westliche Zivilisation denken?). Die nachgemachte Tupperware für 1 Mark 50 das Stück kommt aus China. Sie mieft so durchdringend nach Chemie, daß man es noch durch die Schaufensterscheibe zu riechen glaubt. Direkt daneben, wo im Frühjahr noch Fielmann war, wurden den Sommer über die westlichen Werte verschleudert. Bergeweise Quarzuhren zu sechs Mark. Und vor der Tür standen riesige Kartons mit roten, grünen und blauen Plexiglasleuchten, in denen sich Blubberblasen oder Glitzerglitter träge auf- und abbewegten.
Ein paar Meter weiter, auf der anderen Seite, sind vor der Nordsee ein paar Tischinseln verankert, an denen sich Gestrandete der Einkaufsflut an Cola-Pappbechern und Handys festklammern. Auf den Tellern dick panierter Alaskaseelachs Marke Siebeckschreck. Alles wie gehabt. Es schmatzt und rülpst und kreischt und gackert. Hinten links spielt ein etwa Achtjähriger Polizeisirene. Im Dauereinsatz und durchdringend besser. "Christian, nerv' die Leute nicht!" – Uiiiiiiuiiiiiiuiiii. "Christan, ich sag's nachher dem Papa!" – Uiiiiuiiiiiuiiii! "Chris-ti-an!!" – Uiiiiuiiiiuiiiiiuiii.
"Stell'n se ma ihr Blach ab!" – "Wat geht Sie dat denn an? Bleib doch zu Haus, wennse keine Kinder magst!" Uiiiuiiiuiiiuiiiii. "Haste die Tussi gehört?! Die hattse wohl nich alle! Wennse nich mit Blachen umgeh'n kannst, setz' keine in die Welt!" – Hömma, Du Kotzbrocken, wat bist Du denn für ein?"
Sturm droht. Das Sprachfetzengemisch links und rechts ebbt ab. Es verspricht interessant zu werden. Nur Christian bleibt davon unberührt. Er schaltet um auf Krankenwagen: Uiuiuiuiuiuiuiuiuiuiuiui. Als er kurz Luft holt, ertönt plötzlich Beethovens Fünfte. Die Anfangstakte. Vom Chip. Gefolgt von einer Vielzahl unterschiedlichster Tonfolgen. Ein ins proletenhafte changierender Goldkettchenträger führt seiner aufgebrezelten Blondine das neu erworbene Handy vor. Belustigte Blicke und vereinzeltes Gekicher. Mama nutzt die Chance des ehrenvollen Abgangs und zerrt Christian abrupt vom Stuhl. "Komm jetzt, Papa wartet nich gern!" Wenig später treibt sie, von leiser werdendem Uiiuii-Sirenengeheul begleitet, im Menschenstrom davon.

II
Auf der A 40 hat sich die arbeitstägliche Kampfzone ausgeweitet. Der ganz normale Wahnsinn, jetzt auch am Samstag. Stau schon auf der Auffahrt. Baustelle in Fahrtrichtung Essen. Montags bis Freitags ist das normal. Irgendwo wird immer grade was gebaut. Mal Verkehrsampeln auf den Zufahrten (die den Stau dann prompt in die Städte hinein verlängern), mal Starenkästen, in deren Blitzlichtfalle spätestens nach acht Tagen nur noch Amnesiekranke und Ruhrgebietsfremde rasen. Die anderen bremsen 50 Meter vorher scharf herunter und beschleunigen fünf Meter später wieder rasant. Essens maroder Haushalt wird auf andere Einnahmen warten müssen. Und auf der vom Volksmund Ruhrschleichweg getauften Autobahn herrscht weiterhin nur eine Regel: Rase in der Zeit, dann hast Du in der Not. Denn der Stau kommt. So sicher wie das Amen in der Kirche. Wenn nicht durch eine Baustelle, dann durch einen Unfall.
Auch den gibt es mehrmals täglich, auf den 60 Kilometern zwischen Duisburg und Dortmund. Ruhrgebiet ist Bergbaugebiet, auch wenn der Abbau längst die ehemaligen Grenzen überschritten hat, und weit nach Norden, an den Rand des münsterländischen Flachlands gewandert ist. Aber die Bergschäden an Häusern und Straßen werden noch in hundert Jahren auftreten. Fassadenrisse, Tagesbrüche, Fahrbahnabsenkungen. Der Asphalt auf der A 40 erinnert streckenweise an römische Armeestraßen. Spurrillen, von den Tonnengewichten der rund um die Uhr im Kolonneneinsatz dröhnenden LKWs tief in den Belag gepreßt, wechseln sich ab, mit mehr oder weniger spürbaren Verwerfungen.
Die A 40 ist die dichtbefahrenste Autobahn Deutschlands. Wer kann meidet sie. Auf jeden Fall montags bis freitags zwischen sieben und zehn und 15 bis 19 Uhr. Aber genau da sind die meisten auf sie angewiesen. Und so quält und flucht und – wenn es denn gerade mal einige hundert Meter geht – brettert es täglich über diese stets infarktgefährdete Verkehrsschlagader, mit abertausenden von stinkenden Blechkisten, in denen meist nicht mehr als ein oder zwei Totalfrustrierte hocken. Nur Spätnachts ist es etwas ruhiger, verdient die Strecke den Namen Autobahn. Und natürlich Samstag/Sonntag. Vormittags zwischen 11 und 12 ist es einigermaßen ruhig. Manchmal wenigstens.
Jetzt blinken vorne die ersten mit allen Fahrwassern gewaschenen A-40-Kämpen und ziehen reaktionsschnell an der einzig noch möglichen Stelle nach rechts von der Zufahrt weg, ab in die Oststraße. Und dann los. Time is runnig und wird knapp für den samstäglichen Amokkauf in Essen. Die verlorene Zeit muß aufgeholt werden. Die Wilde Jagd am Krayer Stadtgarten. Mit knapp 80 durch den engen Schleichweg, entlang an Ballspiel- und Rollerkindern. Am Ende in die Eisen steigen. Nach der Ampel teilt sich's. Die eine Meute nach links über den Korthovenweg, die andere nach rechts. Nützt aber nichts. Spätestens am Zehnthof ist Schluß. Neue Ampelschaltung an der Kreuzung Schönleinstraße. Nie mehr als zwei Autos. Pech gehabt. Knapp 600 Meter in 30 Minuten. Da hätte man auch auf der A 40bleiben können.

III
Manchmal gibt es noch Parkplätze in Essen. Selbst am Samstagvormittag. Zumindest an der Peripherie. Einen jedenfalls. Einen einzigen. Man dankt in Demut, welchem Gott auch immer.
Die Rüttenscheider Straße, zwecks des Düsseldorfer Backgroundsounds kurz "Rü" genannt, ist Gelsenkirchens Bahnhofsstraße für den gehobenen Anspruch. Einkaufen mit Stil. Geschäft an Geschäft. Dezent, aber vornehm. Hier heißen die Schreibwarengeschäfte "Papeterie" und zum Flüssigen gehört das passende Gefäß: Wein&Glas. Keine Flasche im Schaufenster unter 19 Mark. Nichts Ausgefallenes. Gute Durchschnittsweine im 99er Jahrgang. Ansonsten Frankreich und Toscana. Entsprechend dem derzeitigen Geographiestandard der Rüttenscheider Cabrioszene. Côtes du Rhône und Grappa in der Stylingflasche. Nichts besonderes, wie gesagt. Gibt's woanders preiswerter. Aber hier zählt keine Mark und schon gar nicht der Groschen. Hier wohnen nicht allzuviele, die's noch schaffen wollen. Wer hier lebt hat's. Meistens zumindest.
Für den Rest sorgt ALDI. Entstanden und herübergerettet aus den frühen Achtzigern. Damals galten Teile Rüttenscheids als Künstlerquartier. Einige wenige soll's noch irgendwo geben. Auch nichts besonderes – aber gerade richtig für die werbe-, web-, und steuerdesignende Rüttenscheider Toscana-Fraktion.
Die Fließgeschwindigkeit des Einkaufstroms entspricht hier übrigens der Wildwasserqualifizierung. Kein Wunder. Er wird nicht von Füßen getragen, sondern fährt. Häufig im BMW- Roadster. (Ab und an im Mercedes-SKL-Cabrio). Die Häufigkeit der Marke BMW steht in Essen-Rüttenscheid im kommunizierenden Röhrenverhältnis mit der Zahl der Rechtsanwalts- und Steuerberaterschilder in den Nebenstraßen.
Um ein entsprechendes Cabrio hat sich's geschart. Die Rü ist schmal, wer BMW fährt tu es forsch und achtet nicht auf Mark und Zentimeter. Leicht schräg auf dem Parkstreifen gehalten, das linke Eck ragt in die Fahrbahn. Macht zigtausend Mark. Zwei türkische Jugendliche mit geliehenem Ford-Transit unterschätzten die Abmessungen. Und bremsten zu langsam. Das BMW-Cabrio braucht eine neue Lackierung. Von hinten bis vorne.
"Mensch", sagt die Verkäuferin aus dem Bäckerladen daneben, "hier ist wenigstens immer was los. Braucht man sich nur auf die Straße zu stellen und warten. Kostet nichts und ist wie Fernsehen!" Einige gucken indigniert. "Wo kommt die denn her?" lautet das beredte Schweigen. Sie guckt irritiert und verschwindet wieder im Geschäft.
Eigentlich paßte sie besser in die Mitte der Rü, weiter unten, am Stern. Dort wird's vorübergehend neckermännisch. Karstadt auf der einen, Bauhaus auf der anderen Seite. Und natürlich ist letzteres prompt geschlossen. Schon seit 14 Uhr. Die Welt ist einfach nicht mehr wie sie war - seit Einführung des Ladenschlußgesetzes. Bauhaus in der Schederhofstraße – geöffnet bis 16 Uhr. (Dafür schließt dort Aldi um eins und der auf der Rü um drei). Aber Umtauschen kann man nur in dem Bauhaus, dessen Adresse auf der Quittung steht. Die ganze Fahrt umsonst. Das waren noch Zeiten, als man sich auf dieselben blind verlassen konnte.

IV
Auf der A 40 dichter Verkehr. Blau-weiße Schals und Fahnen. Schalke spielt in der Arena. Alles wie gehabt. Besoffenes Grölen rund um das architektonische Schwerstverbrechen namens Hauptbahnhof, schon vor der Fahrt nach Essen. Jetzt pöpelt's dezenter, aber dafür dreispurig und mit Vollgas. Aus den heruntergedrehten Fenster hämmert's im Vorbeirauschen. Ruhrstadtrock auf der einen, Ruhrstadtblues auf der Gegenbahn. Noch mehr Staufrust, jetzt schon über Gelsenkirchen hinaus. Im Autoradio Meldungen vom Einsatz der ersten amerikanischen Elitetruppen in Afghanistan. Dann plötzlich gellendes Qietschen. Ein dumpfer Schlag, Scheppern, Klirren – Bremslichter. Stillstand. Nichts geht mehr, für die nächste Stunde.
Wie sagte die Verkäuferin auf der Essener Rü? "Hier ist wenigstens immer was los. Kostet nichts und ist wie Fernsehen!" Der ganze normale Wahnsinn eben, in der Welt - nach New York.

© Werner Schlegel

Heinz
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Beitrag von Heinz »

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