Von Martin Henkel und Annette Schwarz, Berlin 20035 Ein Blick auf die Praxis
Es ist nicht die Aufgabe der vorliegenden Darstellung, die Praxis der Erwachsenenbildung in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts zu dokumentieren und kritisch zu analysieren. Dennoch mag ein kurzer Blick auf diese Praxis zeigen, inwieweit die von uns dargestellten Theorien als Theorien dieser Praxis angesehen werden können, was sie ja zu sein beanspruchen. Wir stellen fest: Das tatsächliche Erwachsenenbildungsangebot in den 70er und 80er Jahren unterschied sich erheblich von dem, was die Theoretiker der Erwachsenenbildung angesichts der gesellschaftlichen Entwicklung für erforderlich hielten. Wir haben das Angebot der Volkshochschule einer Großstadt im Ruhrgebiet genauer betrachtet, die keine Universität besitzt, aber in unmittelbarer Nachbarschaft der Ruhr-Universität Bochum und (der erst im Berichtszeitraum aufgebauten) Universität Gesamthochschule Essen liegt. Gelsenkirchen,die Stadt der 1000 Feuer, im Zweiten Weltkrieg weitgehend zerstört, hatte unter dem Zechensterben und dem Rückgang der Schwerindustrie seit den 60er Jahren besonders stark gelitten. Eine (bis zum Jahre 2000) unverrückbare SPD-Mehrheit, der “proletarische” Fußballverein Schalke 04, Hauptstraßen, die nach sozialistischen und kommunistischen Widerstandskämpfern und Gewerkschaftsfunktionären benannt sind, sind typisch für diese Stadt.
Beim Blick in die Programme der VHS Gelsenkirchen stellen wir fest, dass es eine Reihe von Angeboten gibt, die sich als erstaunlich resistent nicht nur gegenüber dem gesellschaftlichen Funktionswandel der Stadt, sondern auch gegenüber den theoretischen Diskussionen in dem von uns betrachteten Zeitraum erweisen. Das trifft nicht nur auf den Bereich der Fremdsprachen zu (sogar Türkisch für Deutsche wird bereits zu Beginn der siebziger Jahre angeboten), sondern vor allem auf die Angebote, die, obwohl sie einen großen Teil des VHS-Programms darstellen, eher selten zum Gegenstand theoretischer Diskussionen wurden, und das nicht ohne Grund. So findet sich im Studienplan für 1972 in der Arbeitsgemeinschaft 10 “Kosmetik und Moderne Hauswirtschaft” ein Kurs “Gesundheits- und Schönheitspflege für die moderne Frau”, der nahezu unverändert auch 17 Jahre später im Programm für 1989, diesmal jedoch im Bereich “Hauswirtschaft, Gesundheit und Ausgleichssport” wieder zu finden ist. Ähnliches gilt für Sportangebote und Kochkurse, die aber dem Zeitgeist folgend dann gegen Ende der siebziger Jahre zeitweilig mit dem Zusatz “Kochkurs für Damen und Herren” versehen werden.
Auch in der Angebotspalette der fachlichen Bildung (in den Bereichen Technik bzw. Kaufmännische Berufspraxis) findet sich die von Siebert geforderte Legitimation und Verpflichtung der VHS, in der berufsbezogenen Weiterbildung auch die emanzipatorischen Interessen durch eine Analyse und Kritik unseres Gesellschaftssystems deutlich zu machen, nicht wieder. Zwar gibt es vereinzelt Angebote, in denen auch die gesellschaftlichen Auswirkungen der Computeranwendung oder die Veränderungen, die an Arbeitsplätzen im Büro zu erwarten sind, diskutiert werden sollen. Eindeutig im Vordergrund steht jedoch die (berufs-)fachliche Qualifizierung.
Größere Auswirkungen der theoretischen Diskussionen um Theorie und Praxis der Erwachsenenbildung finden sich im Angebot der Fachbereiche Gesellschaft und Politik. Hier ist zu beobachten, dass die Auseinandersetzung mit marxistischen Theorien in den 70er Jahren auch in einer nicht universitär geprägten Stadt einen Platz findet. So beginnt die “Einführung in die Wirtschaftskunde” (veranstaltet von der VHS und dem DGB im Rahmen des Programms “Arbeit und Leben”) mit dem Tagesseminar “Die Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital – Bewertungsmethoden, marxistische Analyse, die Ausbeutungstheorie, Kapitalakkumulation, soziale Theorien”.
Im Bereich der Philosophie finden sich bis zum Ende der siebziger Jahre immer wieder Kurse wie z. B “Marxismus und menschliches Individuum”, “Dialektischer Materialismus und Christentum”, “Grundkurs Philosophie – Grundprobleme aus der marxistischen Philosophie”, “Philosophische Grundlagen des Marxismus”, die im Bereich Politik und Gesellschaft ergänzt werden durch die Auseinandersetzung mit dem “Historischen Kompromiss in Italien” oder die Entwicklung in Portugal nach der Nelkenrevolution. Auch scheinbar politisch neutrale Themen werden durch die Kurzbeschreibung im Programm in einer Weise charakterisiert, dass der einigermaßen informierte Interessent durchaus erkennen konnte, dass in den betreffenden Veranstaltungen kritisches Bewusstsein gegenüber den bestehenden Verhältnissen geweckt werden sollte. Zudem sind uns die Namen einiger der haupt- und nebenamtlichen Dozenten aus anderen, explizit politischen Zusammenhängen bekannt, so dass wir die von ihnen vertretenen Thesen etwa zum scheinbar ergebnisoffenen “Systemvergleich BRD-DDR” durchaus erahnen können. Unter den Dozenten des Jahres 1981 findet sich ein später zum “grünen” Staatsminister avancierter Sozialwissenschaftler, hinter einem neutralen Thema wie “Entwicklung im Stadtteil” lässt sich leicht ein Strategietreff für die damals gegen die “Plattsanierung” ihrer Zechensiedlung kämpfenden Bewohner eines bestimmten Straßenzuges erkennen usw. Alle diese Angebote trafen auf eine Nachfrage.
In den achtziger Jahren wandelte sich das Angebot. Zu vermuten ist, dass dieser Wandel der geänderten Nachfrage folgte. Jetzt finden sich nicht nur die neuen sozialen Bewegungen (u. a. in der Auseinandersetzung um neue Lebens- und Arbeitsformen) im Programm wieder. An die Stelle der Einführung in die philosophischen Grundlagen des Marxismus tritt die Selbsterfahrung. Ansatzweise findet sich in der Praxis ein alternativer Blick auf das Lernen im Erwachsenenalter, mit dem der Erwachsene nicht mehr als aufklärungs- und bildungsbedürftiger Mensch konstruiert wird, sondern in ganzheitlicher Perspektive in seiner lebensweltlich-biographischen Eingebundenheit thematisiert wird. Entsprechend sind jetzt die Themen: “Selbsterfahrung durch Yoga und Entspannung”, “Der Weg durch mein Leben”, “Einander annehmen – Einübung in die Kommunikation”, “Sag mal, was du wirklich denkst – das partnerzentrierte Gespräch” u. Ä.
Hier gibts die ganze Arbeit als PDF:
http://www.abwf.de/content/main/publik/ ... ort-81.pdf