Matthias Libuda

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Matthias Libuda

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Die Zeit 2001

Im Namen des Vaters

Reinhard »Stan« Libuda war als Rechtsaußen eine Fußball-Legende. Er starb vor fünf Jahren. Doch in Gestalt seines Sohnes ist er bis heute auf Schalke präsent Stefan Willeke

Viele Monate hat es gedauert, bis der heute 36-Jährige bereit war, über sich und seinen Vater zu sprechen. »Ich bin nicht interessant«, sagt er, leise, zögernd. »Ich bin wie mein Vater. Ich bin nicht so für die Öffentlichkeit.«

Der Ort, an dem diese Sätze fallen, sieht nicht aus, als könne Bescheidenheit dort überwintern. Ein bunter Keller unter dem Fanshop des FC Schalke 04. Der Verein ist Libudas Arbeitgeber, der Arbeitgeber der Libudas. Der Keller der Fanartikel, der Trikots, Schals, Biergläser, Bettlaken, Zahnbürsten, der Keller der marktschreienden Parolen, »Meister der Herzen«, »100 Prozent Königsblau«, »Wir haben den DFB-Pokal«, der Keller der neuen Schalker Großmannssucht. »Hier ist mein Arbeitsbereich«, sagt Libuda, der Lagerist, der jeden Tag zwei Ford Transits voll blau-weißer Gefühle entlädt, der kein Namensschild trägt, der neue Arbeitskollegen bittet, ihn nicht »Herr Libuda« zu rufen, weil er keine Lust hat, sich fremden Leuten als Nachkomme eines Helden auszuliefern. Etwa einmal pro Woche muss er die Buchstaben auf den Rücken eines Fantrikots bügeln. Libuda. »Das macht mich stolz.« Libuda, sein eigener Name, nein, nicht wirklich, sondern der seines Vaters. Damit ist viel gesagt über dasLeben eines 36-Jährigen, dessen Vater so stark war, dass er nicht sterben will nach dem Tod.

Er bittet die Kollegen im Fanshop, ihn nicht »Herr Libuda« zu rufen

Schwülwarme Luft drückt durch das geöffnete Kellerfenster, von dem aus die Kuppel des neuen Schalker Fußballtempels nicht zu erkennen ist. Die »Arena auf Schalke« gegenüber ist eine semantische Täuschung, denn tatsächlich liegt sie nördlich der Demarkationslinie Rhein-Herne-Kanal, im Schalker Nachbarstadtteil Buer. 360 Millionen Mark teuer, die höchste Erhebung im Norden der Stadt, Gelsenkirchens Gipfel, bewacht von 72 Videokameras. Der Rasen wird automatisch heraus- und hereingefahren. 13 000 Mark Kosten pro Bewegung. 6000 Mark Siegerprämie bekam Reinhold Libuda, als er vor 35 Jahren den Europapokal gewann, außerdem eine goldene Uhr, ohne Armband.

In der neuen Arena gibt es Privatlogen, in deren Kühlschränken Champagner lagert, und überdachte Stehplätze, wo Bratwürste nicht mehr nass geregnet werden, und eine Kapelle, der einzige Ort, wo Vereinsmanager Rudi Assauer sich keine Zigarre anstecken darf. Der sagte schnell ja, als der Sohn des Schalker Idols vor drei Jahren im Fanshop anfangen wollte. Nun sitzt Libuda im Keller an einem Tisch, gleich hat er Feierabend, um zehn nach sechs, müde ist er, doch auf ein Bier will er noch raus, in den Garten der Gaststätte Haus Eintracht, nicht weit entfernt von der alten Glückauf-Kampfbahn, in der das Leben des verletzlichen Stars Libuda spielte, nicht weit entfernt vom Lottoladen, in dem das wackelige Anschlussleben des ehemaligen Stars Libuda begann. »Hier«, in diesem Biergarten, erinnert sich der Sohn, hat er mit ihm gesessen, wenige Tage vor dem Tod, »da«, am vordersten Tisch in der Mitte, »es war ein Mittwoch im August vor fünf Jahren. Schalke hatte gegen Gladbach gespielt. Null zu null.« Er hatte mit seinem Vater von der Obertribüne zugeschaut, wie immer, in Block N des Parkstadions. Nie wieder hat der Sohn nach dem 25. August 1996 Block N betreten. »Sonst hätte ich das Gefühl gehabt: Mein Papa sitzt neben mir.« Deshalb, sagt er, »ist es gut, dass es jetzt die neue Arena gibt. Dasmacht meine Erinnerungen leichter.«

Viel ist kurz vor und kurz nach dem Tod geschrieben worden über Libuda, den »Garrincha vom Schalker Markt«, ein Buch sogar, von einem jungen Autor, der Libuda nie auf dem Rasen sah und in Zeitungsarchiven eine Biografie zusammenstückelte. Ein anmaßendes Buch, das Matthias Libuda ärgert, weil er darin einige kleine Fehler las und viele große Fehlurteile, ein Buch, das einem populären Reflex gehorcht: Der große Libuda, der stürzte tief und kam einsam im Unglück um. Eine schaurig-schöne Legende, in der ein Körnchen Wahrheit steckt und sehr viel Klischee und die am besten dadurch zu erklären ist, dass die Hauptfigur es ihren Beobachtern schwer gemacht hat, vielleicht schwerer, als Beobachter dulden. Große Fußballer seiner Zeit, die von sich sagen, sie hätten »den Schtenn« gut gekannt, sagen auch, sie hätten ihn, eigentlich, nicht gut gekannt. »Ich habe ihn gekannt«, meint Matthias Libuda, und es hört sich an, als sei dies der wertvollste Schatz, den man im Arena-Schalke sein Eigen nennen darf.

Matthias-Claudius Libuda mag keinen Schmuck, doch stets trägt er die massive, goldene Halskette, die sein Vater trug, als er starb. Der hatte sich die Kettenringe aus den Plaketten zum »Tor des Monats« schmieden lassen. Auch das Rennrad hält der Sohn in Ehren, das Rad, das der Vater kaufte, nachdem er den Porsche verkaufen musste. Allein die Couch, auf der Libuda starb, schaffte der Sohn später weg.

Als Reinhard Libuda auf dem Gelsenkirchener Ostfriedhof beerdigt wurde, ließ sich Matthias Libuda zwei Beruhigungsspritzen geben. Der katholische Pfarrer meinte es gut mit den Trauernden, und natürlich erzählte er die Geschichte von der Litfasssäule in Schalke, auf der einst ein Plakat der Kirche klebte: »An Gott kommt keiner vorbei.« Und jemand hatte darunter gekritzelt: »Außer Libuda.« Eine Legende vielleicht auch dies, doch das musste dem Pfarrer gleichgültig sein an jenem Tag, denn er wollte auf eherne Wahrheiten hinaus: »An Gott kommt eben doch keiner vorbei. Auch nicht Reinhard Libuda.« Und als sie schließlich am Grab standen, da umklammerte Matthias Libuda seine Großmutter, die Mutter des Vaters, damit sie nicht hinuntersprang.

Der Friedhof ist eine geheimnisvolle Stätte. Früher, als der Vater noch lebte, verabredete sich Matthias Libuda mit ihm samstags morgens sehr oft am Grab des Großvaters. Sie brachten Kerzen hin, dann schlenderten sie zu einem Gasthof und sprachen viel, über Fußball, Gott und Schalke. Eine Woche nachdem auch der Vater beerdigt war, traf Matthias Libuda »am Grab von Papa« eine ihm unbekannte Frau, die ihn angerufen und ihr Beileid ausgesprochen hatte. Sie war jung, 26 Jahre, und er mochte sie sehr. Sie trafen sich noch oft an diesem Grab, das schlicht sein musste gemäß dem Wunsch des Vaters, ohne Ball auf dem Stein. Sie brachten Kerzen hin und Blumen, und auf dem Heimweg, auf einer Parkbank nahe dem Friedhof, nahm Matthias Libuda sie in den Arm und küsste sie. »Es war eine Dreiecksbeziehung«, sagt Libuda heute, »ich denke noch immer, dass mein Papa im Himmel uns zusammengeführt hat.« Zwei Jahre ging es gut. »Papa wollte, dass ich mich ablenke.« Matthias Libuda versucht zu lächeln, die Mundwinkel verschieben sich, doch das Lächeln steckt fest: »Mein Papa hat immer die Hände im Spiel.«

Mein Papa. War das nicht dieser Mann, den sie Held nannten, solange er mit den Knien den Grashalmen nahe kam, und den sie am Ende verhöhnten, weil sie in ihm einen Absteiger zu erkennen glaubten? Dass der eifersüchtige Libuda seine Frau Gisela, die als »schönste Frau von Schalke« galt, aus Trainingslagern fern der Heimat mehrmals täglich anrief, hatte zu sagen: Die betrügt den. Dass der Außenstürmer Libuda schließlich in ein Formtief rutschte und immer öfter ausgewechselt wurde, hatte zu bedeuten: Die Gisela macht den kirre. Als die Zeitungen darüber berichteten, schickten Fans anonyme Schmähbriefe an Gisela Libuda und drohten, sie umzubringen. Sie veränderte sich zusehends, schluckte Pillen haufenweise, ließ sich scheiden, bekam viel Geld, erlitt eine schwere Psychose. Sie starb vor zweieinhalb Jahren, sie wurde 54. »Ich gehe seitdem auch zu ihrem Grab«, sagt der Sohn.

Als die Bild-Zeitung mit der (wahren) Nachricht aufmachte, dass Reinhard Libuda nach einer Autofahrt im Suff seinen Führerschein abgeben musste, stand Reinhard Libuda in seinem Lottoladen und verkaufte die Bild-Zeitung. Dass er abends in der Kneipe ein paar Biere trank und tagsüber, wenn es warm war, sich von nebenan einen halben Liter Pils in den Laden bringen ließ, hatte von nun an ein Beweis zu sein: Der säuft. Dass der Fußballrentner Libuda im Stadion sommertags eine Sonnenbrille aufsetzte und sich nach dem Spiel flugs verdrückte, hatte zu bedeuten: Der hat was zu verbergen. Dass dem Patienten Libuda, als er mit einer Darmgeschwulst überstürzt ins Krankenhaus gebracht wurde keine Zeit blieb, einen Schlafanzug mitzunehmen, hatte zu bedeuten: Der kann sich nicht einmal mehr ein Nachthemd leisten. Dass er zeitweise nicht krankenversichert war, weil die AOK den ehemaligen Privatpatienten nicht ohne weiteres aufnehmen wollte und er sich darum nicht scherte, hatte zu signalisieren: Der ist am Ende.

Li-bu-da, Li-bu-da - das waren drei Silben, die sich selbst dann noch weigerten, ihre Melodie zu verlieren, wenn Tausende Fans sie brüllten. Li-bu-da, das ruft heute nur manchmal ein Kollege im Fanshop, um Matthias Libuda zu foppen. Er selbst hat diese Beschwörungsformel nie gehört, als Reinhard Libuda noch bezahlter Fußballspieler war. Der Sohn war damals nicht im Stadion, er war noch zu klein. Später, der Vater war schon seit Jahren nur noch Zuschauer und Mythos, das Schalker Spiel lief miserabel, aber statt »Aufhören!« schrien die Fans »Li-bu-da«. Der Sohn sagt: »Da lief es mir erstmals eiskalt den Rücken runter.«

Seine Lieblingszahl ist die Sieben. Heute darf sie Andi Möller tragen

Sie haben Matthias Libuda immer wieder hochgenommen wegen dieses Nachnamens, in der Realschule, in der Berufsschule, in der Firma. »Es war nicht einfach.« Als Matthias Libuda selbst noch Fußball spielte, als 12-Jähriger, in einer Jugendmannschaft eines Vorortklubs in Gelsenkirchen-Hüllen, drängte ihn der Trainer auf die Position Rechtsaußen, natürlich, wegen Libuda. Der Vater hatte ihm eingeschärft: »Matthias, wenn du mal Fußballer wirst, musst du besser sein als ich.« Und beim ersten großen Jugendturnier saßen der Vater, »mein schärfster Kritiker«, und der Großvater, »der schärfste Kritiker meines Papas«, im Publikum, und der Außenstürmer Libuda, Matthias machte sein schlechtestes Spiel. »Matthias«, meinte der Vater später, »du wirst wohl nie ein guter Fußballer.« Das ist alles, was Matthias Libuda seinem Vater vorzuwerfen wagt. Der Sohn lernte Goldschmied, baute dann Fenster, der Betrieb wurde aber verkauft und geschlossen. Deswegen jetzt Schalke 04.


Als Reinhard Libuda den Lottoladen aufgeben musste, weil er kein Talent hatte zum Kaufmann, weil er sein halbes Vermögen mit diesem Laden verloren hatte und die andere Hälfte mit der Scheidung, wollte Wolfgang Overath, die Fußballikone des 1. FC Köln, ein Benefizspiel für ihn ausrichten, »für Schtenn«. Doch der hat abgewinkt. Keine Almosen. Er nahm einen Job an in einer Druckerei, reparierte Maschinen und wuchtete Papierrollen und erzählte mit leuchtenden Augen seinem Sohn, samstags auf dem Friedhof, wie wohl er sich fühle als Fachmann für Druckmaschinen. Nur einmal erwähnte er gegenüber einem Journalisten, dass er Ölflecken beseitigen musste auf dem Hallenboden, dass er sich bücken musste, auf den gelenkigen Knien hocken, für die ihn die Fußballwelt einst bewundert hatte, und also stand in der Zeitung: Der ist tief gesunken. »Ausgewogen war mein Papa, mit sich im Reinen, wie ich auch«, sagt der Sohn. Als der Druckereiarbeiter Libuda mit einem kleinen Gehalt auskommen musste, später krebskrank und arbeitslos wurde, hieß es in der Zeitung: Jetzt ist der wirklich ganz am Ende, jetzt lebt der auf unsere Kosten. Dass »die Oma« viel für »den Papa« gespart hatte, für die Zeit ab 60, damit er dem Staat nicht auf der Tasche liegen würde, wusste Matthias Libuda. Er hat Zeitung gelesen und geschwiegen. Er sagt: »Mein Papa hat noch heute viele stille Verehrer.«

Als der Sohn noch etwas jünger war und zehn Kilo leichter, schnappte er sich manchmal den DFB-Ausweis des Vaters mit einem Foto aus dessen Jugendtagen und kam bei Auswärtsspielen des FC Schalke an jedem Ordner vorbei, denn jeder dachte: Das ist »der Schtenn«. Matthias Libuda ist 1,72 Meter groß, genau wie sein Vater. Auch Matthias Libuda war mal arbeitslos. Seine Lieblingszahl ist die Sieben, die Libuda-Sieben auf königsblauem Grund, die heute Andy Möller tragen darf. Matthias Libuda spielt die verfrüht abgepfiffene Nachspielzeit der einstigen Nummer sieben, er spielt es auf seine Weise, ohne Ball und ohne Publikum.

An dem Tag, als Libuda starb, trug er Turnschuhe, dunkelblaue mit drei roten Streifen. Matthias Libuda hat sie aufbewahrt zu Hause, nahe dem Schalker Markt. Größe 41 ½, sie passen. Er trägt sie selten und keinesfalls, wenn es regnet. Die Sonne schien, als Libuda starb.

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