Montag 6. November 1944, 14 Uhr

Bekannte und unbekannte Orte in Gelsenkirchen

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Montag 6. November 1944, 14 Uhr

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Montag 6. November 1944, 14 Uhr

Von Doris Justen-Ehmann

Die meisten Menschen saßen beim Mittagessen, Es war der 6. November1944, ein Montag, kurz vor 14 Uhr. Der Drahtfunk meldete „starke feindliche Bombenverbände auf dem Anflug auf Gelsenkirchen“. Nur Sekunden später: Sirenengeheul. Um genau 13.47 Uhr war der Fliegeralarm ausgelöst worden.

Mein Vater sah noch, wie unser Haus an der Kirchstraße 40 einstürzte“, sagte Karlheinz Küper. Was der Vater zu dem Zeitpunkt nicht wusste: Seine Ehefrau und seine Tochter lebten. „Sie sind durch ein Loch gekrochen und haben sich so in Sicherheit bringen können“, erzählte Karlheinz Küper. Sein Vater war Luftschutzpolizist und kam in dem Moment zufällig an dem Haus vorbei. Karlheinz Küper hat den „schwärzesten Tag in der Geschichte Gelsenkirchens“ nicht erlebt. Er war dreizehn und in der Kinderlandverschickung, er kehrte erst nach Kriegsende 1945 nach Hause zurück. Durch die Funkmeldungen aufgeschreckt, ließen die Bürger alles stehen und liegen und rannten in Bunker und Luftschutzräume. „Kaum dort angekommen, fielen auch schon die ersten Bomben“ – so steht es in der Chronik der Stadt zu lesen. Spreng- und Brandbomben folgten. Es war der schwerste Bombenangriff des Zweiten Weltkriegs. Sofort zu Beginn des Angriffs durch die britische Luftwaffe brach die gesamte Gas- und Stromversorgung zusammen – das hat auch Karlheinz Küper später von seiner Familie erfahren. Die Folge: Es gab keine Luftschutzsignale mehr, und der Funkmelde- und Warndienst war ebenfalls „tot“. Mit den Einschlägen war auch die Wasserversorgung zerstört worden, so dass an ein Löschen nicht zu denken war. Die Bombardierung an jenem Montagnachmittag dauerte 48 Minuten. In dieser Zeit haben die Briten 6460 Spreng- und 167 131 Brandbomben abgeworfen – vornehmlich auf Alt-Gelsenkirchen. „70 744 Wohnungen in 17 880 Häusern wurden in Schutt und Asche gelegt“, haben die Statistiker der Stadt später errechnet.

Es war ganz furchtbar, überall in den Trümmern lagen Tote“ – die 74 Jahre alte Gelsenkirchenerin hält auch jetzt, 60 Jahre nach den „schrecklichen Geschehnissen“ ihre Tränen nicht zurück. Ihren Namen möchte sie nicht veröffentlicht wissen. „Den Tag werde ich im Leben nicht vergessen“, versichert die Frau. Sie hat am 6. November 1944 viele ihrer Verwandten, Freundinnen, Freunde, Klassenkameraden verloren. Sie war damals fast noch ein Kind. Als der „Spuk“ nach einer knappen Stunde vorbei war, wagten sich die ersten Menschen aus den Luftschutzbunkern auf die Straßen. Ihnen bot sich ein Bild der Verwüstung: Trümmer überall, an vielen Stellen stieg noch dunkler Rauch auf. Dieser Satz fällt der 74-Jährigen besonders schwer: „In der ganzen Stadt stank es nach verbranntem Fleisch, ganz furchtbar.

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Nach dem Bombenangriff heute vor genau 60 Jahren, lag die Stadt – insbesondere Alt Gelsenkirchen – in Schutt und Asche. 518 Menschen kamen dabei um, Zigtausende wurden verletzt. Die gesamte Infrastruktur war zusammengebrochen. Bild: Stadtarchiv

In „schrecklicher Erinnerung“ haben viele Gelsenkirchener auch den Abend des 6. November 1944: Um 19.25 Uhr flogen die Briten erneut einen Angriff. Er trieb die Menschen wieder in Bunker und die Luftschutzräume. Wieder gab es viele Zerstörungen, wieder gab es viele Tote. Auch dieser Angriff hatte augenscheinlich ausschließlich Alt-Gelsenkirchen gegolten.

Wie schon am Morgen waren Schalke, die Altstadt, Bulmke und Hüllen auch am Abend am schlimmsten betroffen. Dort standen nur noch wenige Häuser unversehrt. Neustadt und Ückendorf hingegen kamen „verhältnismäßig glimpflich davon“, Rotthausen wurde fast ganz verschont. In der Altstadt zum Beispiel war die evangelische Kirche nach der Bombardierung am Abend des 6. November ein einziger Trümmerhaufen. Ein Volltreffer zerstörte die Fundamente, Kirchenschiff und Turm brannten vollkommen aus.

Auch die benachbarte Propsteikirche stand in Flammen, der Turm stürzte auf das Kirchendach. Fundamente wurden nicht zerstört, so dass hier nach dem Krieg schneller mit dem Wiederaufbau begonnen werden konnte. Die evangelische Altstadtkirche verlor durch den schweren, abendlichen Luftangriff heute vor 60 Jahren alle Pfarrhäuser, außerdem Gemeindehaus, Kindergarten, Station der Gemeindeschwestern und die Kapelle auf dem ev. Altstadtfriedhof an der Kirchstraße. Auf dem Friedhof selbst waren zahlreiche Bombentrichter. Im Krankenhaus wurde aufgrund der starken Beschädigungen sofort der Betrieb eingestellt. In der Stadt spielten sich überall erschütternde Szenen ab. Allein an jenem 6. November starben im Stadtgebiet 518 Bürgerinnen und Bürger bei den beiden größten Luftangriffen, die die Stadt heimgesucht haben. Bis zum Kriegsende waren in Gelsenkirchen mehr als 3000 Menschen Opfer geworden. Für die Stadt wurde ein sogenannter Gesamtzerstörungsgrad von 51 Prozent errechnet, heißt es in einer Chronik der Stadt. Die Trümmermenge wurde seinerzeit auf über drei Millionen Kubikmeter geschätzt. Oberbürgermeister Frank Baranowski weist angesichts dieses 60. Jahrestages des größten Luftangriffs auf Gelsenkirchen auf die Stätten hin, die an die Opfer erinnern: So bietet zum Beispiel die Dokumentationsstätte „Gelsenkirchen im Nationalsozialismus“ an der Cranger Straße 323 viele Informationen über den 2. Weltkrieg und die Folgen für die Stadt. Auf den Friedhöfen in Buer und Horst gibt es Tafeln, die auch auf die Grabstätten von Kriegsopfern hinweisen. Auf dem Friedhof in Horst-Süd wird auch der jüdischen Zwangsarbeiterinnen gedacht, die bei einem Luftangriff bereits im September 1944 auf dem Gelände von Gelsenberg in Horst ums Leben gekommen sind.

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Bilder der Zerstörung: Am Neumarkt waren Propstei- und Altstadtkirche kaum noch zu erkennen. Bis in die Fundamente waren die Bomben am 6. November 1944 eingeschlagen. - Repros: Institut für Stadtgeschichte

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Ganze Straßenzüge und Häusergruppen wurden unbewohnbar -REPROS: Institut für Stadtgeschichte


WAZ: 6.11.2004
Quelle: http://www.gew-nrw.de/untergliederung/g ... /Thema.cfm

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rm
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Gerne sprechen sie nicht darüber! Man kann sie noch fragen.

Beitrag von rm »

Wenn Luftalarm war, ging oder rannte man in den Bunker, oder zumindest im Kriegsanfang, vor den Flächenbombardements in einen Splittergraben (Begriff?). Polizisten hatten ihren Dienst und blieben beim Eintreffen der Bomber in "Polizeibunkern", wie einer vor kurzem vom Elisabethplatz verschwand, einer noch an der Küppersbuschstraße steht. Um Einlaß bettelnde Kinder, auch wenn das Bombardement schon begann, wurden abgewiesen. Mir ist eines davon bekannt, dem wurde dann auf der weiteren Flucht zum Bunker von einem Tiefflieger ein Schuh von einem Fuß geschossen.

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Luftalarm

Beitrag von Verwaltung »

Luft Alarm

Luftschutzbunker

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Beitrag von Verwaltung »

  • Die Royal Air Force meldet:

    6. November 1944, Gelsenkirchen:
    738 Flugzeuge, - 383 Halifax, 324 Lancaster, 31 Mosquitos.
    Verluste: 3 Lancaster und 2 Halifax.

    Das Ziel dieses Tages-Großangriffs war "the Nordstern synthetic-oil plant", (vermutlich die beiden großen Hydrieranlagen an der Zeche Nordstern in Gelsenkirchen-Scholven und -Horst, heute Veba-Öl). Der Angriff war nicht so zielgenau wie geplant. Aber 514 Maschinen konnten das Areal und die Umgebung des Treibstoff-Werkes bombardieren, bevor der aufsteigende Rauch die Bodensicht vernebelte. Die nachfolgenden 187 Maschinen warfen Bomben auf das gesamte Stadtgebiet von Gelsenkirchen.

    So ist dieser Tag in den Tagebuchaufzeichnungen der RAF (Royal Air Force = Königlich Britische Luftwaffe) registriert. Quelle: http://www.raf.mod.uk/bombercommand/diary/nov44.html
<hr>

  • Wir waren an diesem unheilvollen 6. November 1944 im Sauerland. Aber meine Patentante, meine liebe Tante Else musste sterben. Sie war bei dem Großangriff auf Gelsenkirchen im Luftschutzkeller ihres Hauses verschüttet worden, zusammen mit ihrem Ehemann und anderen Hausbewohnern. Alle konnten herausgeholt werden. Nur sie war eingeklemmt und die Rettungsmannschaften konnten sie nicht rechtzeitig bergen. Phosphor lief in den Keller und sie verbrannte. Ihre kleine, vom Feuer verkohlte, eingeschrumpfte, verdorrte Leiche wurde später in einer Schubkarre eilig in einer Ruhepause zwischen den Angriffen zum nahe gelegenen Friedhof an der Kirchstraße gekarrt und dort irgendwann hastig bestattet.

    Die Stadt Gelsenkirchen war als eines der Zentren der Kriegswirtschaft das Ziel mehrerer schwerer Bombenangriffe der Alliierten. Allein beim Großangriff vom 6. November 1944 starben 518 Menschen. Insgesamt forderte der Luftkrieg hier 3.092 Todesopfer, drei Viertel der Stadt wurden zerstört. Alle diese unschuldigen Opfer haben es verdient, dass die Welt von ihnen erfährt, zumal wir im Ausland oft immer noch ohne Unterschied als Krauts, Huns oder Nazis gesehen werden ... und dabei selbst so schrecklich leiden mussten, wir Kinder ohne Kindheit, Frauen, Männer, alte Menschen ... Wer es nicht miterlebt hat, kann es sich kaum vorstellen.

<hr>

  • Im 2. Weltkrieg waren die Phosphor-Kanister berüchtigt. Diese Phosphor-Brandbomben explodierten und verspritzten Phosphor, eine weiß-gelbliche klebrige, zäh anhaftende Masse mit Knoblauchgeruch. Selbst kleine Spritzer verursachten grausame, schlecht heilende Verbrennungen auf der Haut. Der verheerende Brand durch Phosphor-Bomben - bei der Verbrennung entwickelt der weiße Phosphor eine Temperatur bis 1300 Grad Celsius - war kaum zu löschen.

    Zum Löschen selbstentzündender (hypergoler) Brandmittel wie Phosphor und Napalm muss unbedingt der Zutritt des Luftsauerstoffs unterbunden werden, indem man sie mit einer Schicht Erde oder Sand gut abdeckt. Sie entzünden sich nämlich immer wieder von neuem spontan an der Luft oder auch beim Zutritt von Wasser. Es entstehen hochgiftige Dämpfe, die Verletzten haben dadurch keine Sicht mehr, können nicht atmen und erleiden furchtbare Verbrennungen.

    So gesehen waren die entsetzlichen Phosphorkanister Vorläufer der noch entsetzlicheren Napalmbomben.

    BildStraßenszene bei einem Nachtangriff in Gelsenkirchen, November 1944
    Foto: http://www.historisches-centrum.de

Quelle: http://www.marnach.info/feuerkraut/index.html

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Detlef Aghte
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1945 Ike persönlich hatte gewarnt

Beitrag von Detlef Aghte »

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detlef
Wer durch des Argwohns Brille schaut,
sieht Raupen selbst im Sauerkraut
W. Busch

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Beitrag von GELSENZENTRUM »

  • Die Royal Air Force meldet:

    6. November 1944, Gelsenkirchen:
    738 Flugzeuge, - 383 Halifax, 324 Lancaster, 31 Mosquitos.
    Verluste: 3 Lancaster und 2 Halifax.

    Das Ziel dieses Tages-Großangriffs war "the Nordstern synthetic-oil plant", (vermutlich die beiden großen Hydrieranlagen an der Zeche Nordstern in Gelsenkirchen-Scholven und -Horst, heute Veba-Öl). Der Angriff war nicht so zielgenau wie geplant. Aber 514 Maschinen konnten das Areal und die Umgebung des Treibstoff-Werkes bombardieren, bevor der aufsteigende Rauch die Bodensicht vernebelte. Die nachfolgenden 187 Maschinen warfen Bomben auf das gesamte Stadtgebiet von Gelsenkirchen.

    So ist dieser Tag in den Tagebuchaufzeichnungen der RAF (Royal Air Force = Königlich Britische Luftwaffe) registriert. Quelle: http://www.raf.mod.uk/bombercommand/diary/nov44.html
Gelsenkirchen, 6th November 1944, 14:03 hours, 17,500 feet:
Bild
(Crown Copyright 1944)

Tagesangriff auf Gelsenkirchen am 6. November 1944
4000 Pfund-Bomben, so genannte "Wohnblockknacker", verursachen eine riesige Explosion. Schwarze Rauchwolken steigen über dem brennenden Hydrierwerk auf.

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Heinz O.
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Lore Gossen

Beitrag von Heinz O. »

Bericht einer Zeitzeugin
Unsere GEW-Kollegin Lore Gossen, vor ihrer Zurruhesetzung Lehrerin an der Hauptschule Hansastraße in Gelsenkirchen, berichtet über ihre Kindheit und Jugend in der Nazi-Zeit und wie sie dem Holocaust entkam:
Lore Gossen * 1920
Mein Leben als 12-Jährige veränderte sich allmählich nach der Machtergreifung am 30. Januar 1933. Ich entstamme einem religiös jüdischen Elternhaus. Beide Eltern lebten vor dem Ersten Weltkrieg in einem kleinen Dorf in Mittelfranken, Heidenheim, zusammen mit etwa 7 anderen jüdischen Familien und einer Gesamteinwohnerzahl von 1.500 Menschen. Mein Vater war Kriegsteilnehmer im Ersten Weltkrieg. Meine Mutter eine „national“ denkende Frau, glaubte zuerst, die Nazis würden die damalige ökonomische Situation zum Besseren verändern. In einer im Radio wiedergegebenen Rede von Hitler versicherte er, alle Religionen zu respektieren. Mein Onkel lebte als Viehhändler in Heidenheim. Zu seinem 50. Geburtstag gratulierte ihm meine Mutter zu einem „besseren Leben“. Im Febr. 1934, an seinem Geburtstag, hängte sich mein Onkel auf, seine Lebensgrundlage war zerstört. Die jüdischen Familien mussten Heidenheim verlassen. 1 ½ Jahre nach der Machtergreifung war das Dorf judenrein. Das Zusammenleben, das vorher problemlos schien – es bestanden gute nachbarliche Beziehungen zu einander -, war zerstört. Ich, die ich sehr oft dort bei meinem Großvater, dem Onkel und der Tante, die im gleichen Haus wohnten, zu Besuch war, konnte das kaum verstehen. Einige Bauern und ihre Söhne waren Nazis geworden und ganz wild auf die Häuser der Juden.
Wir lebten in Nürnberg. Dort hatten meine Eltern einen Großhandel für Tabakwaren und Textilien betrieben. Mein Vater bereiste die bayrischen Groß- und Kleinstädte, um seine Waren zu verkaufen. Unser Geschäft ging in der Weltwirtschaftskrise zurück, aber nach 1933 noch viel schneller. Es blieben uns aber doch so viele Kunden, dass wir bis zur Pogromnacht 1938 davon leben konnten. Zuletzt führten die Eltern das Geschäft von der Wohnung aus.
Zwei Brüder meines Vaters waren 1933 im Konzentrationslager Dachau. Sie kamen mehr tot als lebendig von dort wieder heraus, mussten sich verpflichten, innerhalb von 6 Wochen Deutschland zu verlassen, aber wohin? Der eine der Brüder wohnte lange bei uns, weil er es nicht wagen konnte, zu Hause zu leben, bis er endlich mit seiner Familie in die USA auswandern konnte. Meinen Eltern besorgten sie von dort eine Bürgschaft, um auch ihnen die Ausreise zu ermöglichen. Aber inzwischen verschärften die Staaten die Einreisebedingungen. Es gab Nummern für die Botschaft. Wir bekamen eine über 20.000, was lange Wartezeiten bedeutete.
Ich will mich kurz fassen, deshalb schildere ich nur noch einige persönliche Erlebnisse. Weil meine Mutter im Geschäft mitarbeitete, betreute mich eine Angestellte. Sie führte auch unseren Haushalt. Einmal nahm Anna mich mit zu ihren Verwandten aufs Dorf bei Nürnberg. Als wir aus dem Bus ausstiegen, sahen wir ein großes Schild. Darauf stand: „Juden lasst euch nicht erwischen, in Almoshof gibt’s nichts zu fischen.“ Und überall gab es Verbotsschilder für Juden, an Cafés, an Gaststätten, am städt. Schwimmbad, an Geschäften, im Winter sogar an Schlittschuhplätzen. Schwer vorstellbar, aber selbst die städt. Theater waren zeitweise mit Verbotsschildern bestückt. Die jüdischen Läden wurden von SA bewacht, Kunden wurden fotografiert, so dass die Angst der Leute, bei Juden zu kaufen, schnell zunahm und nach einem Jahr schon viele Geschäfte schlossen.
Ich besuchte 1933 das städt. Lyzeum für Mädchen in Nürnberg. Das Leben in der Schule veränderte sich ziemlich schnell. Wir waren mehrere jüdische Mädchen in einer Klasse. Die jüdischen Kinder mussten zusammen sitzen. Aber die meisten LehrerInnen versuchten, es uns nicht allzu schwer zu machen. Selbst die Französisch-Lehrerin, eine große Anhängerin der Nazis, versuchte, uns gegenüber gerecht zu sein, so schien es. Einmal erzählte diese Frau, nachdem sie Hitler die Hand gegeben hatte, sie wolle diese Hand nun 3 Tage nicht waschen, so begeistert war sie. Die Klasse begrüßte zu einer jeden Stunde den eintretenden Lehrer mit „Heil Hitler“. Das durften die jüdischen Mädchen nicht; wir mussten nur aufstehen. Vor 1933 hatte ich nichtjüdische Freundinnen. Nach 1933 mussten diese in den BDM (Bund deutscher Mädchen) und konnten nicht mehr mit mir befreundet sein. Es tat meiner besten Freundin Paula damals sehr Leid, aber nach einigen Monaten kannten wir uns nicht mehr, obwohl wir noch dieselbe Klasse besuchten. Das städt. Lyzeum besuchte ich bis zum Sommer 1936. Dann wurde eine jüdische „Mittelschule“ gegründet, mit jüdischen Schülerinnen und LehrerInnen, die aus den anderen „Höheren Schulen“ entlassen worden waren. Der Schulabschluss, die mittlere Reife, wurde jedoch nicht anerkannt. Meinen Eltern wurden in der Pogromnacht 1938 die Wohnung und das Geschäft kurz- und kleingeschlagen. Meine Mutter schrieb mir dieses damals nach Berlin ins jüdische Krankenhaus, in dem ich als Lernschwester arbeitete. Noch 4 Wochen danach stellte sie 5 große volle Mülleimer mit zerschlagenen Sachen zu jeder Müllabfuhr heraus. Wenig später mussten meine Eltern die Wohnung, in der ich 1920 geboren war, verlassen und mit einer anderen jüdischen Familie zusammenziehen.
In unser Krankenhaus kamen nun immer mehr entlassene Häftlinge aus dem Konzentrationslager Sachsenhausen. Es gab da einen Saal voll Jungen von 12 – 18 Jahren, die in den kalten Novembertagen an ihren Händen aufgehängt worden waren. Die ersten Glieder waren schwarz erfroren und mussten abgenommen werden. Ihre Lungen husteten diese Kranken stetig aus. Als ich im Mai 1939 Deutschland verließ, waren diese armen Geschöpfe zum Teil am Leben; manche habe ich sterben sehen, manche hatten den Verstand verloren. Was sich bei den Elternbesuchen abspielte, lässt sich nicht schildern. Aber auch viele junge und ältere Männer ereilte das gleiche Schicksal. Auch der junge Ehemann einer Mitschwester im Krankenhaus, von Beruf Rechtsanwalt, starb auf diese Weise. Ich verbrachte meine ganze Freizeit bei ihm und später bei seiner Frau, denn sie wollte nicht mehr weiter leben.
Weil der Schwesternberuf in England sehr aufreibend und obendrein schlecht bezahlt war, konnten sich jüdische Mädchen aus Deutschland um eine Stelle bewerben. Bedingung, um eine Arbeitserlaubnis zu erhalten, war die Vollendung des 18. Lebensjahres. Dies war meine Chance, die ich wahrnahm.
Meine Eltern konnten sich nicht bewerben, denn die Arbeitserlaubnis gab es nur bis 45 Jahre, sie waren älter. Ich wollte mich bemühen, Bürgen zu finden. Aber 3 Monate, nachdem ich angekommen war, brach der 2. Weltkrieg aus. Ich konnte nur noch manchmal durch das Rote Kreuz mit einigen Sätzen den Kontakt zu meinen Eltern aufrecht erhalten.
Die Bürgschaft für die USA war abgelaufen, bevor die Nummer bei der Botschaft aufgerufen worden war. Es gab eine neue Nummer. Doch dann traten die USA in den Krieg gegen Deutschland ein. Meine Eltern wurden mit allen noch in Nürnberg lebenden jüdischen Mitbürgern, darunter viele junge Leute, zuerst in ein Lager bei Nürnberg „Langwasser“ gebracht. Von dort erhielt ich das letzte Lebenszeichen von ihnen, das, vom Roten Kreuz weiter geleitet, mich einige Monate später erreichte. Später waren sie in einem anderen Lager. Das Lager, so schrieb mir die jüdische Gemeinde auf Anfrage nach meiner Rückkehr, hieß Izbica und lag in Polen. Kein einziger Überlebender sei zurück gekommen. Der Judenstern, der auf der Kleidung aufgenäht zu tragen war, blieb mir erspart. Er wurde erst mit Beginn des Krieges eingeführt, als ich bereits in England war.
Ich meine schon, eine solche Vergangenheit mit Schülern zu erörtern könnte Betroffenheit auslösen und ihre Einstellung zu Menschenrechten fühlbar verändern. Erfahrungen, die ich vor Schulklassen in der Vergangenheit gemacht habe, zeigten mir ein reges Interesse der Schüler an. Meistens sollte ich noch einmal wiederkommen.
In Gelsenkirchen lebe ich nun, weil ein früher in England lebender Kumpel aus Gelsenkirchen – auch Emigrant – für mich bürgte, dass Wohnraum für mich in Gelsenkirchen vorhanden war. Sonst hätte ich keine Zuzugsgenehmigung in die Bundesrepublik erhalten. So konnte ich erst 1950 nach langem Bemühen mit Hilfe englischer Freunde nach Gelsenkirchen gelangen.
Lore Gossen
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Quelle:GE-W 139, Mai 2005-Zeitung für Lehrerinnen und Lehrer in GE und GLA

PS: Lorre Gossen lebte bis zu Ihrem Tode in Erle und ist die Mutter von Bert Gossen
siehe:http://www.gelsenkirchener-geschichten. ... ght=gossen

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Gegen Hass, Hetze und AfD
überalteter Sittenwächter

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6. November 1944 - Nekropole Gelsenkirchen-Schalke

Beitrag von GELSENZENTRUM »

Flammendes Inferno

Dies irae, dies illa.
Solvet saeclum in favilla.
Teste David cum Sibylla.

Tag des Zornes, Schreckensstunde,
flammend sinkt die Welt zugrunde
nach Sibylls und Davids Munde.


"Die neunmalklugen Autoren der jüngeren Generation fanden mein Beharren auf Augenzeugenschaft hoffnungslos naiv - für sie war alles nur eine Frage der Textstruktur."
Hans Christoph Buch in DER SPIEGEL, Hbg, 42/2008, S. 169.

Die Luftangriffe am 6. November 1944 - Nekropole Gelsenkirchen-Schalke


Ein Augenzeugenbericht von Joseph P. Krause:

Ginge es nicht um den Massenmord an Zivilpersonen bei der größten Tragödie Gelsenkirchens, als ganze Stadtteile unter Bombenteppichen zu gigantischen Trümmerbergen mutierten, als Menschen in grauenhaften Flammenmeeren mit markerschütternden Todesschreien zu namenlosem Sülz verschmorten, wäre der selbsternannte Zeitzeuge aus dem Internet zu belächeln, der fern vom entsetzlichen Bombenterror in bukolischer Idylle lebte, gleichwohl - sich zum Kronzeugen ernennend - als wichtigstes Ereignis vom Hörensagen bramabarsierte, sein Wohnhaus in Gelsenkirchen sei eingestürzt.

Ich hingegen gehöre zu den Zeitzeugen am Tatort der Zeitgeschichte, zu den Überlebenden des grauenvollsten, höllischsten Tages der Gelsenkirchener Chronik, des 6. November 1944, des Tages, an dem mein Geburtsort Schalke in flammendem Inferno unterging, als 738 RAF- Bomber in zwei Angriffen - mittags und abends - tausende von Tonnen Spreng- und Brandbomben als "Bombenteppiche" über der "Stadt der tausend Feuer", die sie an jenem unheilvollen Tag wurde, ausklinkten und Kaskaden an Phosphor auskübelten, als Gelsenkirchen in einem riesigen Feuersturm verglühte, als die Schwester des Schalker Pfarrers Konrad Hengsbach, Pauline, zwischen herabgestürzten Balken bei lebendigem Leib verbrannte. Ich litt inmitten der Schreie der Sterbenden, des Blutes und der Fleischfetzen zerrissener Körper. Und ich sah als Teil verzweifelter, vor Schmerz und Verzweiflung irrsinnig gewordener Menschen am Schalker Markt, wie das traditionelle Vereinslokal von Schalke 04, die Gaststätte der legendären "Mutter Thiemeyer", in einem gigantischen Feuerorkan zerbarst, während wir uns in den total überfüllten "Zuckerhut" zwängten, hineingetrieben von Feuersbrünsten und detonierenden Bomben.

"Wenn jemand diese Stadt liebt, dann bin ich es, weil ich mit jeder Faser meines Herzens, mit jedem Blutstropfen, mit tausendfältigen Tränen an sie gebunden bin"

Unser Wohnumfeld: Die Familien Dr. Hans Kassner (Augenarzt) und Paul Krause wohnten im Haus Kaiserstraße 71 (jetzt: Kurt-Schumacher-Straße). Im Haus rechts daneben wohnte die Familie des Ludwig ten Hompel, Amtsgerichtsrat und späterer Amtsgerichtsdirektor am Amtsgericht Gelsenkirchen. Bereits am 4. November 1944 war Schalke bei einem Bombenangriff in Mitleidenschaft gezogen worden. Aus einem brennenden Haus an der Grillostraße war mir dabei ein Funken in das rechte Auge, das sich davon entzündete, geraten.

"Schwarzer Montag", 6. November 1944, um 13,47 Uhr. Der "Drahtfunk", sich akustisch mit einem Sound wie Pferdegetrappel ankündigend, dessen Zentrale nach einem GE-Ondit in einem Bunker in Gelsenkirchen-Buer arbeitete, meldete sich nach meiner Erinnerung mit folgender Durchsage: "Starke feindliche Bomberverbände auf dem Anflug auf Gelsenkirchen."

Noch während dieser Meldung brach die entfesselte Hölle los. Wir flohen vor den Bombenteppichen, die unmittelbar mit dem Sirenengeheul der "akuten Luftgefahr" niedergingen, ins Freie. Bei dieser Luftwarnung drehte sich automatisch mein Magen um, und mich suchte stets eine schmerzhafte, ordinäre Diarrhöe heim.

Ich wurde beim Hinuntersprinten aus dem 1. Obergeschoß unter Zersplittern von Fenstern und Türen von dem Luftdruck der ersten Bomben zusammen mit meiner 13jährigen Schwester Hildegard durch das geräumige Treppenhaus in das Parterre geschleudert. Im Bombenhagel und zwischen herumfliegenden Trümmerteilen und Granatsplittern der Flak gelangten wir in den öffentlichen Luftschutzkeller unter dem Feuerwehrmuseum an der Kaiserstraße, das zweite Haus links neben der Kaiserstraße 71. Dazwischen lag das Wohnhaus mit Praxis des Dr. med. Kirchmeyer. Meine Schwester Genoveva (19) war mit zwei Kindern in Panik zur Kirche St. Joseph gerannt und fand Zuflucht in der dortigen Krypta. Unter dem Feuerwehrmuseum erlitten wir das Nonplusultra eines Weltuntergangs. Zehntausende Spreng- und Brandbomben hagelten auf Schalke herab. Alle Versorgungsleitungen waren sofort unterbrochen. Kein Wasser. Kein Strom. Keine Funksignale oder Warnmeldungen. Jemand im Keller zündete eine Wachskerze an, die aber sofort durch Luftdruck erlosch. Orientierung boten allein die Streifen an den Wänden, die mit Leuchtfarbe gestrichen waren.

Die Sprengbomben waren zur Erhöhung des Horroreffekts unter der Zivilbevölkerung mit ratternden und pfeifenden Luftschrauben ausgestattet. Durch die perfide Akustik der niedergehenden Bombenteppiche ahnten wir im voraus, wann und mit welchem Gewicht eine Bombe in unserer Nähe einschlagen werde, und wir duckten uns instinktiv und kauerten auf dem Boden.

Fortwährend preßten wir die Finger auf die Ohren und öffneten die Münder, damit der gewaltige Luftdruck nicht die Lungen und Trommelfelle zerriß. Der Keller schwankte und drückte seitlich zusammen. Von überall her tierische Schreie in Todesangst. Kinder und Frauen weinten hysterisch, fluchten und beteten laut, warfen sich wimmernd auf den Boden, flehten vergeblich den unsichtbaren Gott um Erbarmen an. Wir waren Gefangene in der Hölle. Rauch. Hitze.

Dann ein infernalisches Krachen und Knacken. Das Gebäude über uns war eingestürzt. Qualm kroch durch Mauerritzen und zerborstene Türen herein. Das zusammengebrochene Haus über uns brannte wie Zunder. Die Hitze wurde unerträglich. Durch einen Durchbruch im hinteren Teil des Kellers wankten rußgeschwärzte Gestalten herein, mit nassen Decken umhüllt. Einer der Flüchtigen heiserte mit tränenerstickter Stimme: "Die Schalker Straße existiert nicht mehr".

Die mit meiner Mutter befreundete Schuhhändlerin Frau Ziegler mit ihrer Tochter (21 Jahre alt) war ein paar Meter von uns entfernt im Keller ihres Geschäftes an der Schalker Straße, Ecke Grillostraße, gegenüber dem früheren Schuhgeschäft Jampel, zusammen mit einer Tante der Ursula Rademacher (diese aus der Funkenburg, später Pfarrsekretärin bei Pfarrer Egon Röer an Hl. Dreifaltigkeit im Haverkamp) und dem Baby der Tante qualvoll verbrannt. Das war Dante's "Inferno" pur. Es herrschte Heulen und Zähneknirschen. Die geschundenen Menschen brüllten und schluchzten vor Verzweiflung und Todesfurcht. Grauen und Gruseln drang aus allen Fugen.

Nachdem die ersten Angriffswellen mit 738 Flugzeugen nach einer knappen Stunde, die uns wie eine Ewigkeit lähmte, abgeflaut war, wollten wir den Luftschutzkeller, über dem die Ruinen brannten, verlassen. Der Keller-Haupteingang (Treppenabgang) zur Kaiserstraße war von glühenden Trümmern und brennenden Balken halb verschüttet, der Mauerdurchbruch zur Schalker Straße als Fluchtweg durch ein unendliches Flammenmeer versperrt und unpassierbar. Meine Mutter Mathilde Krause erfaßte blitzschnell die Situation und organisierte aus den völlig verzweifelten, verstörten bis apathischen Frauen einen Rettungstrupp. Sie ergriff die noch nicht brennenden Teile der Bretter und Balken und drückte sie in fliegender Hast seitlich weg vom Kellereingang. Wir anderen schafften das schwelende Holz weiter nach hinten, um den Gang passierbar zu halten. Kleinere Trümmerteile warf meine Mutter in hohem Bogen durch Lücken im Balkendickicht nach oben in die gleißende Hitze des Feuers.

So schaffte sie einen schmalen Notausstieg, durch welchen wir Überlebenden uns mit versengten Kleidern und rußverschmiert zwängten und den Weg ins Freie bahnten, das heißt in einen tosenden Orkan aus Gluten und Rauch, während über und neben uns aus den Trümmern herausragende Balken krachend, brennend und glühend herunter stürzten. Glimmende Holzteile regneten herab. Über und in Schalke waberten Lohen unter unendlichem Funkenregen. Mütter schrieen ihre Verzweiflung mit den todbringenden Schwaden zum Himmel.

Dann unser lähmendes Entsetzen: Die Häuser an der Kaiserstraße waren als riesige Trümmerhaufen auf die Straße gekippt. In den glosenden Fensterhöhlen glotzte gräßliches Grauen. Aus unserem Wohnhaus, dessen Inneres durch die durchlöcherte Fassade bis auf die halbe Fahrbahn geschleudert war, schlugen lichterloh die Flammen. Andere Häuser brannten gleichfalls wie überdimensionierte Fackeln. Die Brandstätten erzeugten einen fürchterlichen Sog wie biblische Feuersäulen: "Die Erde war wüst und leer", sie war ganz mit Flammen bedeckt. Wir, ein Trupp irrsinnig Verzweifelter, klammerten uns aneinander und kletterten über das Chaos der brennenden Trümmer in Richtung Schalker Markt; denn in Gegenrichtung brannten die Kirchtürme von St. Joseph wie Strohfeuer und drohten, auf die Straße zu stürzen. Das Wohnhaus Kaiserstraße 71 (nach meiner Erinnerung im Eigentum der Fa. Küppersbusch, Herdfabrik in Gelsenkirchen, stehend) war durch eine Sprengbombe vernichtet worden. Diese durchschlug das Haus bis in den Keller, den wir bei dem besagten Angriff nicht benutzten. Er war auch nicht als Schutzraum ausgewiesen.

Unserem Wohnhaus gegenüber bestand das Haus des Kinderarztes (oder: HNO) Dr. Kunze nur noch aus einem riesigen Flammenturm, dessen Sog einer flüchtenden, alten Frau, die über die lodernden Scheite stolperte, den Hut vom Kopf riß. Sie wollte hinterher rennen und sich zur Rettung ihres Hutes in die Flammen stürzen. Ich - 12 Jahre alt - hielt sie instinktiv zurück und zerrte sie an der Hand von dem glühenden Feuersturm weg, und wir torkelten gemeinsam über die gleißenden Ruinen. Am Fenster im ersten Stock dieses Hauses oder nebenan flehte eine lichterloh brennende Frau mit erhobenen Armen wild gestikulierend und gellender Stimme in Todesangst vergeblich um Hilfe.

Der Schalker Markt, eingeschlossen von riesigen Feuerfackeln, war zu einem einzigen Tohuwabohu, von Nero-Churchill entzündet, verkommen. Über der Gaststätte "Bei Mutter Thiemeyer" (Schalke-04-Legende), der alten "Kaiserhalle", und im Haus nebenan warfen verzweifelte und völlig durchgeknallte Menschen - besessen von nacktem Wahnsinn - in der irrwitzigen Hoffnung, noch etwas retten zu können, ganze Möbelstücke aus den Fenstern der brennenden Zimmer auf den Gehsteig, wo sie zerschellten.

Das Tapetengeschäft Ecke Schalker Markt / Schalker Straße brannte lichterloh wie Zunder, ebenso das Milchgeschäft Kruhöfer an der Ecke Kaiserstraße / Schalker Markt. Der Laden von Fritz Szepan (aus arisiertem Vermögen übernommen) und das frühere Tabakgeschäft des Ernst Kuzorra verglühten und zersprühten in gleißenden Lohen. Hinter vorgehaltener Hand wurde später Kuzorra's angeblicher Ausspruch verbreitet: "Jetzt kann Hitler mich am Auspuff lecken!"

Die Gewerkenstraße bestand nur noch aus riesigen, lichterloh brennenden oder glühenden Trümmerhalden, die von allen Seiten kreuz und quer übereinander gestürzt waren: Ein apokalyptisches Gebirge unter der tödlichen Sonne Satans. Immer wieder detonierten Blindgänger. Die Luft war grenzenlos mit wirbelndem Funkenregen zerstrahlt. Die Industrieanlagen nördlich und westlich des Schalker Markts mutierten zum Höllenfeuer Luzifers. Alles brannte und knisterte und heulte, Menschen kreischten, zitterten verbittert und verzweifelt.

Wir fanden Notaufnahme im völlig überfüllten, mit blutigen und angekokelten, nach konzentrierten Schweißschwaden miefenden Menschen vollgestopften Spitzbunker ("Schalker Zuckerhut") mitten auf dem Schalker Markt, der von Bombentrichtern zerwühlt und mit zahllosen, qualmenden Trümmern übersät war. Meine Mutter begab sich sofort an die Pumpenaggregate, um wegen des Stromausfalls per Handbetrieb an der Frischluftversorgung für uns, die von der Außenwelt hermetisch abgekapselten Insassen, mitzuarbeiten. Drinnen war es stickig und überhitzt. Wir saßen auf Böden und Treppen, zusammengepfercht wie Ölsardinen.

Die Briten steigerten das Grauen durch eine weitere, perverse Angriffswelle. So erlebten und überlebten wir den zweiten Großangriff abends am selben Tag, dem 6. November 1944, um 19:25 Uhr. Der Tod kehrte zurück. Schalke wurde zur Nekropole, zum Blutacker, zum Hochofen für Menschenfleisch. Der Gottseibeiuns griff nochmals gierig nach uns Überlebenden der Katastrophe. Auf das erlittene Entsetzen wurde wiederum grausamste Vernichtung angedockt und aufgestockt. Der "Zuckerhut" wurde bei dem abendlichen Alarm nach meiner Erinnerung zweimal von Sprengbomben getroffen. Unser Elend wurde vervielfacht. Wir drehten durch.

Der "Zuckerhut" schwankte pausenlos, so daß wir dachten, er kippt um. Wieder schreiende und verzweifelte Menschen, ein Haufen Wahnsinniger in Todesangst, innerhalb weniger Stunden erneut gebeutelt und drangsaliert, laut plärrende oder wimmernde Kinder mit voll geschissenen Hosen ohne Nahrung und Wasser, ohne Elektrizität, Erwachsene, die wie Kleinkinder in die Leibwäsche urinierten. Das nicht mehr zu überbietende Grauen war über Schalke hereingebrochen. Es roch nach verbranntem Fleisch und Unrat. Wo - zum Teufel!!!! - war Gott an diesem 6. November 1944?

Noch heute, nach über mehr als 60 Jahren, weine ich als alter Mann, wenn der Kalender den 6. November anzeigt. Wir waren durch den entflammten und enthemmten Horror und Terror getrieben worden, hatten die Eruptionen der Hölle überlebt, Vulkane des Phosphors, Attacken von Brandbeschleunigern, die gewaltigen Druckwellen der Luftminen, das Tosen von tausend Feuern.

Am späten Abend war draußen tückische Ruhe eingekehrt, und die Ordnungskräfte ließen einzelne Gruppen der Bunker-Insassen nacheinander über eine noch intakte Nottreppe zum Eingangsbereich vor, damit die Leute an die "frische Luft" kamen, die allerdings aus penetrantem Brandgestank bestand, aus dem Mief verbrannten Fleisches und Unrats. Ringsherum waren nur Trümmer und Feuerwalzen zu sehen. Manche Frauen standen stumm vor grenzenlosem Leid, sie schluchzten, andere drehten durch und röhrten verzweifelt ihren Schmerz gegen den brutalen, erbarmungslosen, blutigen Himmel.

Die Leute brüllten vor Entsetzen, fielen sich weinend in die Arme: Schalke war ausradiert, der Stadtteil zerschlagen, in den Kellern verbrannten stinkend die Leichen oder sterbend Begrabene wie Pauline Hengsbach, die - eingeklemmt zwischen herabgestürzten Balken - im Keller des Pfarrhauses St. Joseph an der Grillostraße 62, Ecke Anton-Hechenberger-Straße (jetzt: Königsberger Straße ) bei lebendigem Leib eingeäschert wurde, im Krematorium haßerfüllter Feinde, Schwester des Schalker Pfarrers Konrad Hengsbach, Tante des Franz Hengsbach, später erster Bischof des Bistums Essen. Konrad Hengsbach wurde am Ohr von Phosphor übergossen. Es regnete Feuer vom Himmel - wie in Ägypten des Alten Testaments. Konrad Hengsbach trug mir später auf, den Untergang Schalkes schriftlich festzuhalten.

Im Phosphor-Sprüh wurden Menschen bei 1300 Grad Celsius gekocht und verschmort, lebendig gebraten. Der unangenehme Gestank von Phosphor verursachte Brechreiz. Wenn ich heute Karbid oder Knoblauch rieche, tauchen in mir die Bilder der Phosphor-Verbrannten wieder auf.

Einer der Überlebenden im Keller des Pfarrhauses war Heinrich Rettler, später Rektor der Volksschule an der Caubstraße in Schalke-Nord, die ich als Notbehelf 1946 frequentierte. Rettler war übrigens der Meinung, ich sei der geborene Chronist. Viele hatten am 6. November 1944 ihr Hab und Gut verloren, waren obdachlos. Gott hatte sich von Schalke abgewandt. Unsere Schwester Genoveva hielten wir für tot. Irgendwann stieß sie mit den beiden Geschwistern verstört zu uns. Sie hatte sich aus der Krypta der brennenden Schalker Pfarrkirche St. Joseph gerettet. "Entkam den Flammen wie durch ein Wunder" titelten die "Ruhr-Nachrichten" in einem Rückblick am 15. Oktober 1977.

Von unserem Vater Paul Krause, der "auf Consol" verschüttet war, hörten wir erst Tage später, daß er lebte. Ich meine mich zu erinnern - allerdings unter Vorbehalt - daß er mit einigen Kumpels durch den Schacht "Oberschuir" in der Feldmark ans Tageslicht geholt wurde. Später fanden meine Mutter und Frau Kassner (Ehefrau des Dr. med. Hans Kassner) heraus, daß das Wohnhaus des Oberstudiendirektors Schönhauer vom Adolf-Hitler-Gymnasium trotz eines Treffers durch eine Brandbombe eine provisorische Unterkunft bot. So hausten wir vorübergehend dort. Noch 3 oder 4 Tage nach den beiden Großangriffen am 6. November 1944 hatten Rettungstrupps aus dem Keller der zusammengestürzten Drogerie Schmitz (Ecke Kaiserstraße und Grillostraße, zwei Häuser links vom Feuerwehrmuseum) eine Frau herausgeholt. Sie lag vor dem Haus auf Trümmern und war total schwarz, verbrannt, verkohlt, verrußt, das Gesicht unkenntlich: Aber ich merkte, als ich mich über sie beugte, daß sie - bestialisch nach verbranntem Fleisch und Kot stinkend - noch schwach röchelte. Wo Straßen asphaltiert waren, konnte man nicht gehen, weil der Teer durch die Hitze der Feuersbrünste zu einer zähen Masse aufgequollen war.

In der Turnhalle des Gymnasiums (Eingang Schalker Straße), die nur teilweise zerstört war, wurden die Leichen und Leichenteile gesammelt, verbrannt, geschrumpft, zerfetzt. 518 Bombenopfer wurden identifiziert. Später errechneten Statistiker für diesen Tag des Entsetzens auf dem Kriegsschauplatz Gelsenkirchen den Abwurf von 6460 Sprengbomben und 167 131 Brandbomben. 17880 Häuser wurden in Schutt und Asche gebombt.

Zur Bergung der Toten wurden auch gefangene Fremdarbeiter eingesetzt. In den Trümmern der Fa. Pleiss, Bäckereibedarf, Ecke Martin-Faust-Straße und Anton-Hechenberger-Straße (jetzt: Magdeburger Straße und Königsberger Straße), war zwischen den Trümmern des Warenlagers Zucker verschmort. Ich sah, wie die jungen, unrasierten, total verdreckten Zwangsarbeiter verzweifelt Stücke der harten Masse losschlugen und gierig hinunterschlangen, um Zusatznahrung zu haben. Dies geschah unter Lebensgefahr; denn Plünderer wurden standrechtlich erschossen.

Wenig später wurde meine Mutter fälschlich bei den NS-Behörden unter der Anschuldigung des Plünderns denunziert. Ihre handschriftlichen Niederschriften, die sie im Gewahrsam der Gestapo fertigte, besitze ich noch heute. Es stellte sich heraus, daß sich die angeblich von meiner Mutter geplünderten Kleidungsstücke bei einer aus Schalke evakuierten Familie in Ostwestfalen befanden. Von unserem Wohnhaus Kaiserstraße 71 blieb lediglich ein Teil der Fassade stehen. Die gewaltige Öffnung in der Mitte der 1. Etage war zuvor ein Erker, in welchem bis zum Bombeneinschlag ein riesiges Aquarium stand, das mich täglich mit seiner Unterwasserwelt fasziniert hatte. Den einzigen Rest von Wert aus den Trümmern barg ich in Handarbeit 1946. Unsere Waschmaschine (Holzbottich mit Wassermotor) grub ich mit bloßen Händen aus einer Ecke der ehemaligen Waschküche, wozu ich die Trümmer beiseite schaffen mußte.

Wir Kinder waren in der Taxierung der Bomben und britischen Flugzeugtypen wahre Experten und konnten Flugzeuge beim Anflug an ihren Motorgeräuschen identifizieren, was sehr leicht bei den "Spitfire" gelang. So schätzte ich nach der Tiefe und Größe des Kraters "unsere" Bombe auf 20-Zentner. Sie war in die Waschküche geschlagen und der Luftdruck nach oben entwichen, so daß das Gerät - bedeckt von Ziegelsteinen und Mörtel - nicht gänzlich zerstört und vom Bombentrichter aus relativ schnell frei zu räumen war. Zwar war alles trostlos demoliert, aber es fand sich am früheren Alten Markt in Gelsenkirchen ein älterer Handwerker in einem provisorischen Schuppen, der die Dauben des Holzbottichs erneuerte (die metallenen Reifen hatte ich gleichfalls gerettet) und den Wassermotor reparierte, reinigte und ölte.

Epilog zum Schalker Lokalkolorit:

Vor dem 6. November 1944 war für solche Reparaturen (Löten und Schweißen von Haushaltsgeräten, Töpfen, Eimern u.a.) "Philipp Heinrich" als renommierter Betrieb zuständig, Schalker Straße, Ecke Grillostraße, schräg gegenüber dem Schuhgeschäft des jüdischen Kaufmanns Jampel, wo ich mit meiner Mutter die "Reichskristallnacht" 1938 hautnah erlebte, alle Gebäude bis auf die Grundmauern zerstört am 6. November 1944.

Autor: Joseph P. Krause, Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors

pito
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Beitrag von pito »

Danke an Gelsenzentrum für das Einstellen. So eindringliches über den Krieg liest man selten.

GELSENZENTRUM
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Beitrag von GELSENZENTRUM »

pito hat geschrieben:Danke an Gelsenzentrum für das Einstellen. So eindringliches über den Krieg liest man selten.
Erlebte Zeitgeschichte, dass ist hier, in Gelsenkirchen-Schalke, vor unserer Haustür geschehen. Der Autor ist Augenzeuge, Zeuge mit all' seinen Sinnen.

EDIT GELSENZENTRUM: Zur Person des Autors siehe hier: http://www.gelsenkirchener-geschichten. ... ph++krause
Zuletzt geändert von GELSENZENTRUM am 05.11.2008, 17:47, insgesamt 1-mal geändert.

4cholvski
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Beitrag von 4cholvski »

hier 2 fotoaufnahmen

aufnahme: irgendwo schalke - bulmke

BildBild

Troy
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Beitrag von Troy »

danke für diese seite.
und für das einstellen des letzten textes.
kinderaugen sehen genau hin.
wer 15 jahre nach dem kriegsende in GE geboren ist, kann sich NICHT vorstellen, dass das die wirklichkeit war.

tiborplanet_de
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Beitrag von tiborplanet_de »

BildLaut Bildunterschrift eine Straße Gelsenkirchens nach einem Angriff mit Phosphorbomben.Wo das genau ist weiß ich nicht..

4cholvski
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Beitrag von 4cholvski »

hier mal die seite 4

antrag auf feststellung von kriegssachschäden (auf grund des feststellungsgesetzes vom 21.april 1952 - bgbl. Is. 237)

d. angaben über hausratschäden ge., walzerstr. 15 b schadentag: 06.november 1944

antragsstellung: 30.märz 1958







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4cholvski
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Beitrag von 4cholvski »

und hier der bescheid v. 07.januar 1959 s. 2

für die ehegattin (ehemals wohnhaft, walzerstr. 15b)

hausratentschädigung DM 400,-- abzgl. DM 200,-- für den nicht dauernd getrennt lebenden ehegatten ( vgl. akte K9405)




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