Roman Dell

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zuzu
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Roman Dell

Beitrag von zuzu »

Roman Dell schreibt Geschichten und er hat sie uns für eine Veröffentlichung zur Verfügung gestellt. Ich würde gern ca. einmal im Monat eine Geschichte mit einem kleinen Vorwort hier einstellen.
Hier also die erste:


Vorwort zu der Geschichte "Deutsche Sprache".

Vor zwei Jahren unternahmen meine Frau und ich einen kurzen Ausflug zum Schloss Herrenchiemsee, das der bayrischer König Ludwig II zum Ehren seines Vorbildes und Namenvetters- des französischen Sonnenkönigs Ludwig XIV originaltreu nachbauen ließ. Die Hitze des Sommers machte uns schnell müde und durstig. Wir beschlossen einstimmig uns in einen Biergarten zu begeben. Daran mangelt es auf der Insel bekanntlich nicht. Der ältere Gastwirt wies uns im Schatten einen Tisch zu und brachte kurze Zeit später Gerichte und Getränke. Die leckere Schweinshaxe und ein kühles Bier taten schon bald ihre magische Wirkung. Man verlor augenblicklich jedes Gespür für die Zeit.
Irgendwann Mal, so gegen Abend, wurde es im Lokal allmählich leer und der Gastwirt setzte sich erschöpft an den Nachbartisch. Er unterhielt sich gemütlich mit seinem Gehilfen. Da die Beiden jetzt praktisch „unter sich“ waren, (kein Gast mehr außer uns) sprachen sie bayrisch und kein Hochdeutsch. Nach fast 16 Jahren in Deutschland, in denen ich mir langsam eingeredet habe, die deutsche Sprache fließend und gut zu beherrschen, erlebte ich plötzlich einen Kulturschock und stellte fest, dass ich kein einziges Wort aus ihrem Gespräch verstehe. Das war erschütternd und niederschlagend.
Als wir dann irgendwann Mal wieder auf der Fähre saßen, ging jeder von uns den heutigen Tag noch einmal im Kopf durch. Und während meine Frau das Abendrot in der Ferne genoss, waren meine Gedanken immer noch bei diesen Männern im Garten. Was haben die beiden da miteinander besprochen? Dies war die Geburtsstunde der Deutschen Sprache.

Roman Dell
für Gelsenkirchener Geschichten

[center]Deutsche Sprache

(Kurzgeschichte)

XXX[/center]

Der erste Satz, den ich immer wieder von den Einheimischen zu hören bekam, als meine Familie nach Deutschland zog, lautete- Deutsche Sprache – ist schwere Sprache. Zugegeben, die ersten anderthalb Jahre konnte ich diesem Spruch nichts entgegen setzen. Es war einfach so. Damals bildete ich mir ein, dieses Problem in nur einem Jahr vollständig zu beheben. Das ist das Schönste an der Jugend. Man kennt noch keine Angst und keine Zweifel. Dafür wandte ich die berühmte Methode von Heinrich Schliemann an, die daraus bestand, einen und denselben Text, der dem Schüler in seiner Muttersprache vorher schon bekannt war (in Schliemanns Fall – Die Abenteuer des Telemachos ) in der jeweils erlernten Sprache laut zu lesen und mit dem daraus gewonnenen Wortschatz, seine eigene Texte mit freiem Inhalt zu schreiben.
Gesagt- getan. Ich ersetzte Die Abenteuer des Telemachos durch Römische Geschichte von Theodor Mommsen und machte mich an das Werk. Am Anfang erschien es mir kinderleicht und ich protzte mit den ersten Erfolgen. Während meine ausländischen Schulkameraden gerade mit dem Kinderbuch Der kleine Vampir zu kämpfen hatten und Worte wie Blut oder Geheimnis fleißig lernten, beschäftigte ich mich mit den exotischen Begriffen des Altertums, wie etwa Schildkrötenformation, Phalanx, Kampfwagen, Streitaxt, Belagerungsmaschinen oder monumentalen Sätzen im Sinne von Cesars Legionen haben das Rubikon überschritten oder Du auch, Brutus!
Schon bald erkannte ich auch die deutlichen Schwächen dieser Methode. Die Sprache, die ich dadurch zu lernen glaubte, brachte mich in der Alltagswelt nicht weiter. In einem Metzgerladen wären solche Worte absolut nutzlos. Zu wissen, was hinter dem Wort Blutwurst steckt, jedoch schon. Also musste ich wieder von vorne anfangen. Ein deutscher Freund empfahl mir etwas leichteren Leserstoff dafür zu wählen, der mich aber mit der Sprache der Massen, also des Volkes, besser vertraut machen würde. Und so landete ich bei der Bild-Zeitung und Bravo. Damit lernte ich Alltagsdeutsch und viele neue und nützliche Worte: darunter Kanone, Überfall, Kohle, Mord, Sex haben, Scheidung, Jungfrau, Schulden, Blut aber auch nette und angenehme Worte wie Schnitzel, Sommerschlussverkauf, Geschlechtsreife, reduziert und Angebot. Die Worte aus dem wahren Leben.
Mit jedem neunen Wort erschien mir die Deutsche Sprache wie eine fremde Galaxis. Sie war unüberschaubar und grenzenlos. Und mein anfänglicher Mut schwand dahin. Ja, Deutsch verdanke ich mein erstes graues Haar. Es ist aber auch mein einziges. Mit Deutsch erlebte ich auch einige komische Situationen, wie etwa die Geschichte mit den Brötchen oder das Missverständnis wegen Morgen. Beides bedarf einer kurzen Erklärung.
Damals ging ich auf ein Gymnasium im Hochsiegerland (nette Gegend aber komische Leute) und lebte während des ganzen Schuljahres in einem Jugendheim. Dieses Jugendheim gehörte der Katholischen Kirche und diese verlangte von uns Fleiß und Disziplin. Beides lernte man am besten beim Küchendienst, in dem man einmal im Monat die Tische decken und abräumen durfte und dafür stets im Kontakt mit der Küche blieb. Da haben Sie es: SPRACHTRAINING UND KOMMUNIKATION.
Unglücklicherweise war ich mit dem Dienst schneller dran, als mit meinen Deutschkenntnissen. Das Essen und Geschirr kamen bei uns gewöhnlich mit einem Essensaufzug an. Vorher klingelte aber immer das weiße Telefon. Da war die Köchin dran. Sie kündigte uns die Lieferung an, die sie uns jetzt rauf schicken wollte.
An diesem Morgen klingelte dieses Telefon gleich zwei Mal. Beim ersten Mal ging alles glatt. Sie sagte „Frühstück ist fertig. Ich schicke rauf“ und ich habe es problemlos verstanden. So weit konnte ich die Sprache schon. Normalerweise war das auch schon alles, mit der „Kommunikation“. Beim zweiten Anruf kam ich deshalb schnell durcheinander. Die Köchin wollte von mir wissen, ob wir schon Brötchen auf den Tisch hätten.
Brötchen? Ich sah mir den Speisesaal an und blickte dabei unschlüssig auf einen Plastikeimer mit Brotscheiben. Schwarzbrot, Weißbrot, Baguette…und meinte erleichtert: Wir haben es. Danke. Alles OK.
Zu meiner Verteidigung sage ich nur, dass wir gerade Verniedlichungsformen lein und chen in der Schule machten und ich mir der Antwort deshalb hundert Prozent sicher war. Brot war ein Brot und das chen- seine zärtliche Bezeichnung. Eigentlich hätte ich mir dabei ein Paar Gedanken um das plötzlich aufgetauchtes ö machen müssen, aber das tat ich nicht. Das machte für mich überhaupt keinen Sinn. Brot + chen erschien mir richtiger und logischer.
Als eine viertel Stunde später der erste Schüler in den Speisesaal kam, merkte ich, dass etwas nicht stimmte. Der Schüler, hungrig und verschlafen (er hatte am Vortag eine Mathe-Klausur geschrieben und folglich zu lange gefeiert) sah sich den Eimer mit dem Brot an und griff entschlossen zum Telefon. Er wirkte unzufrieden. Nachdem er vorher die Köchin als dumme Kuh beschimpft hatte, fragte der Junge höflich am Telefon, wo (hier bekam ich weiche Knie) unsere Brötchen verblieben.
Ich hörte, wie sie etwas heftig miteinander sprachen und mein Name dabei mehrmals fiel. Zwei Minuten später kam die Köchin höchstpersönlich nach oben. Ich will nicht sagen, dass der Ausdruck ihres Gesichts verärgert oder sauer war. Das Wort verarscht (ich liebe Deutsch für seine Präzision) wäre zutreffend. In einer Hand hielt sie eine Stange Brot. In der anderen Hand war etwas Kleines und rundes… Das war ein Brötchen. Seitdem kenne ich den Unterschied.
Mit dem Morgen war mir noch peinlicher. Beim Gang ins Badezimmer begegnete ich einem Erzieher, der mir grinsend „Moin“ unter die Nase murmelte, nachdem ich Guten Morgen zu ihm gesagt hatte. Ich zählte ganz bestimmt nicht zu seinen Lieblingen und dachte, der Typ machte sich über meinen Akzent lustig. Also ließ ich ihn freundlich wissen, dass ich trotz meines sechsmonatigen Aufenthaltes in Deutschland wusste, wie man den Satz „Guten Morgen“ korrekt ausspricht. Darauf sagte er mir, dass es ihm leid tue, er wollte mich auf keinen Fall beleidigen oder verletzen, denn Moin heißt auf ostfriesisch so etwas wie Guten Morgen oder Hallo. Was sagt man dazu? Ganz genau. Scheiße. Dumm gelaufen.
Nach zehn Jahren in Deutschland glaubte ich dann endlich Deutsch zu können. Da kauften meine Eltern ein Haus und eine Sat-Schüssel dazu. In unserer alten Wohnung gab es bis dahin nur ARD, ZDF und WDR. Da öffnete sich plötzlich eine Welt vor mir und so erfuhr ich von dem bayerischen, hessischen, böhmischen, westfälischen, mitteldeutschen, norddeutschen, süddeutschen, ostdeutschen, sächsischen, fränkischen, preußischen, Kölsch, Ruhr-Pott und Berliner Dialekt. Und als Krönung des ganzen Übels: Schweitzer Deutsch. Entschuldigt mich, wenn ich einen vergessen habe. Das war das Ende meines Traums. Für jede Sendung in dieser Sprache benötigte ich die Untertitel mit Transkription. Dabei sprachen sie alle gleiche Worte. Dieselben Worte, die ich von Bravo und Bild- Zeitung lernte.
Seitdem weiß ich, dass der Kampf mit dem Deutsch nicht zu gewinnen ist. Es gibt immer wieder ein Wort, das man nicht kennt, obwohl man inzwischen nicht selten meint, die deutsche Sprache wie seine Innen- und Außentasche zu kennen. Und wird dabei immer wieder eines Besseren gelehrt. Wie neulich in Österreich. Als ich das letzte Mal dort mit meiner Freundin und inzwischen Ehefrau war, kaufte ich mir eine Salzburger Ansichtskarte als Souvenir. Dabei wollte die nette und hilfsbereite Verkäuferin von mir wissen, ob ich einen Sackel dazu brauche.
Sie müssen sich vorstellen, was ein Nicht- Muttersprachler sich dabei bildlich denkt. Wie sollte ich mir Sackl richtig vorstellen. Der Sack? Also, ein Sack? Ein richtiger Sack? Aus Stoff und mit Fasern? Und dann…Haben die Österreicher etwa noch eine andere Form außer lein und chen?
Sie sah die Furcht in meinem Blick und packte die Karte …in die Tüte. Das war’s.
Neulich traf ich eine gute Freundin meiner Mutter auf der Seite des russischen Facebook. Nachdem sie mich zwei Stunden lang alles über meine Mutter ausgefragt hatte, erzählte sie mir stolz von ihrer einundzwanzigjährigen Tochter, die bereits zwei Hochstudiumsabschlüsse in Medizin und Psychologie besitzt und nebenbei noch Englisch, Französisch und Spanisch perfekt spricht.
Ich wollte mit der alten Dame auf keinen Fall streiten. Das mit dem perfekt, meine ich. Ich bin seit siebzehn Jahren in Deutschland und diese ist auch die Sprache meines Kulturkreises. Ich lebe und arbeite mit den Deutschen. Vor kurzem las ich Die Welt als Wille und Vorstellung von Schopenhauer auf Deutsch durch. Ohne Wörterbuch, versteht sich. Und dass ich diese Zeilen in eurer Sprache schreibe, spricht auch noch für sich. Trotzdem kann ich von mir nicht behaupten, dass ich die deutsche Sprache perfekt beherrsche. Schon deshalb nicht, weil ich kein einziges Wort von diesem lustigen Gedicht hier versteh…

Da Jackl, der Lackl, packts Fackl am Krogn,
duad as Fackl in a Sackl, mechts mim Hackl daschlogn;
doch des Fackl, so a Prackl, is koa Dackl im Frack,
beißt an Jackl, den Lackl, durchs Sackl ins Gnack! *

…und es auch niemals ohne fremde Hilfe schaffe. Aber darüber mach ich mir keinen Kopf. Nicht mehr. Ich sage mir einfach: Deutsche Sprache ist schwere Sprache. Und mir ist es kein bisschen peinlich. Das sagen die Deutschen nämlich selbst.

Ende

Roman Dell

08.01.2012

Quelle: http://www.bayrisches-woerterbuch.de/musikkabarett.html*


Fortsetzung folgt.
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Beitrag von zuzu »

Hier ist die nächste Geschichte:

Man sagt den Deutschen gerne viele Tugenden nach. Fleißig und pflichtbewusst sollen sie sein, sehr auf ihr Ordnungssinn und Gesetze fixiert und obendrein noch absolut zuverlässig und ziemlich sparsam, aber dafür genauso humorlos und steif, gefühlsarm, langweilig und unromantisch. Ein Volk der Pedanten. Gehorsam, gradlinig und diszipliniert. Das ist das Bild eines Musterdeutschen, der in den Köpfen der Menschen im Ausland steckt. Aber wie viel davon ist eigentlich wahr? Wie sind diese Deutschen wirklich drauf? Was macht aus ihrer Seele eine deutsche Seele aus? Ich habe mir ein paar Gedanken darüber gemacht. Lasst uns gemeinsam die deutsche Seele unter die Lupe nehmen.


Die Deutsche Seele

( eine Kurzgeschichte)

Ich habe die schreckliche Ahnung, dass die Deutschen immer noch nicht herausgefunden haben, wer sie eigentlich sind. Sie definieren sich meistens darüber, was sie nicht sind.

Arthur Miller.
(1915-2005.)
amerik. Schriftsteller.

XXX

Vor kurzem entdeckte ich in der Stadtbücherei ein neues Buch, das mich spontan nachdenklich und neugierig machte. Daran war allein sein Titel schuld: „Die deutsche Seele“. Eine rätselhafte Textsammlung von Richard Wagner und Thea Dorn... und ein fünfhundertsechzig Seiten schwerer Leseschinken!!!
Zugegeben, ein solches Buch hätte ich auch gern geschrieben, doch dieses Duo kam mir einfach zuvor. Der Namensvetter des berühmten Komponisten und eine erfolgreiche Krimiautorin. Welche ungewöhnliche Konstellation… und was für ein Pech für mich. Dabei hatte ich mir die Frage doch so oft gestellt!
Über die Seele wurde schon viel geschrieben. Tausende von Bänden, Romanen und Geschichten. Hauptsächlich über die russische, hin und wieder über die irische, aber kaum etwas über eine deutsche. An dieser Stelle kratzt sich der Leser im Ausland bestimmt den Kopf und meint erstaunt: Deutsche Seele. Nie etwas davon gehört! Gibt es sie überhaupt?
Natürlich gibt es sie, die deutsche Seele. Genauso wie es eine russische oder eine irische Seele gibt. Nur dass man sich bis heute nie die Mühe gab, diese Seele genauer unter die Lupe zu nehmen. Richard Wagner und Tea Dorn haben den Schritt bereits getan. Etwas, was ich jetzt auch machen werde.
Die Deutsche Seele tut mir seit langem leid. Sie wird von der Welt und der Literatur allgemein missachtet und ihre Träger stets als pedant und gefühlsarm angesehen. Zu Unrecht, finde ich. Dabei frage ich mich die ganze Zeit, wie viel von diesen archaischen Vorstellungen über Deutsche und Deutschland überhaupt noch stimmt. Was macht aus einer Seele eine deutsche Seele? Wie sieht diese deutsche Seele überhaupt aus?
Die Deutsche Seele beginnt für mich mit der Ordnung und der Disziplin. Das sind ihre Haupteigenschaften neben dem Fleiß und dem Pflichtgefühl, die man den Deutschen traditionell einräumt (oder besser zuordnet???). Immer noch, was auch immer noch stimmt. Diese berühmten Pedanterie und Ordnungssinn. Was für die meisten Völker dieser Erde fast einer Zwangsjacke und Bestrafung gleicht, gibt den Deutschen dagegen das angenehme Gefühl der Ruhe und Sicherheit, die sie für ihr Wohlbefinden und ihre Zufriedenheit immer brauchen. Das ist ihr natürlicher Lebensrhythmus, aber auch ein Begriff von Harmonie. Jegliche Störung und Abweichung von dem gewohnten Ablauf macht sie sehr schnell panisch und reizbar. Alles muss schnell und einwandfrei funktionieren. Eine deutsche Seele wartet eben ungern. Sie ist ständig ein Teil des Prozesses, der wie das Maschinenwerk einer Schweizeruhr ununterbrochen läuft und seine Arbeit stets pünktlich und reibungslos verrichtet. Das übt einen gewissen Druck auf die Menschen und die Belegschaft aus, ist jedoch gleichzeitig auch sehr praktisch und bequem. Sogar ansteckend. Selbst für eine russische Seele.
Dies bekam ich ein Mal in der Praxis bewiesen. Und zwar während unseres letzten Sommerurlaubs in Griechenland. Dort habe ich mit meiner Frau ein älteres russisches Pärchen beobachtet, das ursprünglich aus der Ukraine stammte, jedoch schon sehr lange Zeit in Deutschland gelebt hat, was man ihnen aber nicht ansah. Sie waren mit den deutschen Sitten alles andere als zufrieden und beklagten sich ständig über die Arroganz, Steifheit, Humorlosigkeit und kühle Art der Erzgermanen, allesamt grausame Menschen mit einer Blutpumpe an Stelle des Herzens, deren unmenschlicher Zwang nach Ordnung und Disziplin, eine chaotische russische Seele in Ketten legt und ihr auf Dauer jedes Gefühl von Leben und Freiheit raubt. Hier, in Griechenland fühlten sie sich von diesen Ketten und Zwängen endlich befreit und haben jeden Augenblick davon genossen….bis es an der Zeit war, von ihrem Stadtrundgang mit dem Bus ins Dorfhotel zurück zu fahren…
Nachdem der Bus auch nach einer halben Stunde immer noch nicht in Sicht war, bekam das Pärchen von den Einheimischen einen wertvollen Tipp, sich bei jedem einzelnen Busfahrer, nach seiner Route zu erkundigen. Wenn es für ein Reiseziel zurzeit nicht genügend Fahrgäste gab, konnte der Fahrer völlig bedenkenlos seine Route spontan ändern und eine andere Linie fahren, wenn die Zahl der Touristen für diesen Ort viel größer als beim anderen war….
An dieser Stelle bekam unser Pärchen einen richtigen Tobsuchtsanfall. Dabei erlebte ich, wie diese reife Dame im Strohhut und ihr sonst eher schweigsame und gehorsame Gatte, die noch vor kurzem so entsetzt über die schreckliche Pedanterie der Deutschen waren, sich plötzlich lautstark über die lebensfröhlichen Griechen beschwerten und einstimmig zum Schluss kamen - so eine Frechheit wäre ihnen in Deutschland nie passiert!!! Ups! Wie war das nochmal mit der pedanten, deutschen Seele?
Die Deutsche Seele ist außerdem eine sparsame Seele. Jedoch nicht aus Geiz. Sie ist einfach nur rational und effizient. Zu viel und zu wenig kennt sie nicht. Selbst in alltäglichen Dingen. Das durfte ich sogar am eigenen Leibe erfahren, als ich eines Tages, zusammen mit einer Arbeitskollegin, eine Postsendung nach Bayern verschicken wollte. Dabei habe ich den Boden und Deckel des Kartons nicht nur in der Mitte, sondern auch an den Ecken mit Klebeband verklebt.
-Wieso nimmst du so viel Klebeband dafür? - fragte die Kollegin plötzlich etwas stutzig.
-Na, damit das Päckchen unversehrt bei dem Empfänger ankommt - antwortete ich ein wenig unsicher. Ich verstand nicht, warum sie das wissen wollte, weil man meiner Ansicht nach, dabei eigentlich gar nichts falsch machen konnte. Ihre Frage hatte mich deshalb ziemlich irritiert. – Deutsche Gründlichkeit- sagte ich anschließend zu meiner Rechtfertigung und schmunzelte.
-Von wegen!- konterte sie ernst und empört zurück. - Nichts als Verschwendung. Ein Streifen hätte völlig ausgereicht. Hält doch! - und versetzte mir damit einen Schock. Dabei hatte ich mir die ganze Zeit ernsthaft eingebildet, nach einem guten Jahrzehnt in Deutschland die deutsche Seele inzwischen gut zu kennen. Und dann…Welche Enttäuschung!
Der Sinn für Gerechtigkeit ist für eine deutsche Seele ebenfalls von einer enormen Bedeutung wie ihr ständiger Drang nach Perfektion und Detail. Das entnimmt man allein schon dem laufenden TV-Programm. Vorsicht, Gerichtsfalle, Richter Barbara Salesch, Verklag mich doch usw.. Die Deutschen kennen ihre Gesetze. Genau so wie ihre Rechte und Pflichten.
Die erste Zeit in Deutschland war ich richtig überrascht festzustellen, wie penibel selbst die Bevölkerung auf ihre persönlichen Rechtsräume achtet und hatte den Eindruck, dass selbst ein einfacher Bürger, ständig ein halbes BGB im Kopf mit sich herum schleppt. Dabei bringt es der Deutsche wirklich auf den Punkt, in jedem Streit seine Emotionen und Fakten stets säuberlich und unparteiisch auseinander zu halten. Wie neulich in der Straßenbahn. Da erlebte ich eine Szene, die mir irgendwie heute noch vor Augen steht, weil sie das, was ich sage, noch einmal verdeutlicht. Mitten auf der Strecke begann eine junge Frau in der Bahn plötzlich zu singen. Ihrem Akzent und Äußeren nach, stammte sie mit Sicherheit aus dem ehemaligen Ostblock. Womöglich aus Rumänien, Polen oder Bulgarien. Die junge Dame war wie eine Konzertsopranistin gekleidet, langes schwarzes Kleid, total elegant, wirkte jedoch geistig ein wenig verwirrt und durcheinander. Sie ging durch die Bahn und trug den Fährgästen eine klassische Arie vor. Zugegeben: sie hatte tatsächlich eine fabelhafte Stimme. Sofort teilte sich die Bahnbesatzung in zwei Lagern auf. Die einen fanden die Frau toll und wollten der Sängerin weiter zuhören, die anderen fühlten sich von ihrem Gesang gestört und belästigt und verlangten laut nach einem Rausschmiss. Dabei lauschte ich einer Diskussion zu, die sich direkt in meiner Nähe zutrug.

- Was für eine Stimme! – sprach eine ältere Dame zu ihrer Freundin. – Als würde Maria Callas direkt vor mir stehen.
- In der Tat, auch wenn es sich hier nicht gehört- bestätigte die andere Dame nach einem kurzen Überlegen.Trotzdem singt sie sehr schön. Wunderschön!
- Egal, ob schön oder nicht schön, ihr Gesang hat in der Straßenbahn nichts zu suchen. Das ist ein Verstoß gegen die Regeln der Fahrgesellschaft. Laute Musik hören ist in der Bahn strikt verboten- meldete sich plötzlich ein mürrischer junger Mann von gegenüber, der so aussah, als würde er nach einer intensiven Coffeeshop-Tour in Amsterdam dringend etwas Schlaf und Ruhe benötigen und zeigte den beiden Damen mit dem Finger auf die eingeschweißte Plakette.
- Aber das gilt doch nur für Walkman oder Handy?- protestierte die erste Dame lautstark.- Die junge Frau singt live und das ohne Musik.
- Auch das ist nebensächlich.- konterte der junge Mann nicht weniger lautstark.- Es geht allein um die Lautstärke, nicht um die Art, wie sie entsteht. Ich muss auch für meine Musik die Kopfhörer aufsetzen, damit die öffentliche Ruhe nicht gestört wird. Ein Gesetz ist für alle da.
- Das schon, aber seine Interpretation ist bei Ihnen falsch. Das Mädchen hat kein Gesetz gebrochen. Das Gesetz verbietet nur Walkman und Handymusik. Das steht auch eindeutig auf dem Logo. Von dem Livegesang steht da übrigens überhaupt nichts.- mischte sich die zweite Dame ein.
- Damit wird jedoch allgemein vorausgesetzt, dass laute Klänge eine Ruhestörung sind, auch wenn die Frau niemanden persönlich belästigt.- der junge Mann schien seinen Standpunkt gut zu verteidigen.
- Die Ruhestörung im Sinne vom BGB muss nicht zwangsläufig die Ruhestörung im Sinne ÖPNV sein- begann die erste Dame…

Ich hätte gern erfahren, wie dieser Schlagabtausch weiter gehen würde, aber an der nächsten Haltestelle stieg der Ordnungsdienst in die Bahn ein und begleitete die junge Sängerin nach draußen. Inzwischen hatten sich die Gemüter in der Bahn ebenfalls ein wenig beruhigt. Auch mein Nachbartrio gegenüber.

-Schade! Eine solche Stimme gehört in einen Saal und nicht auf die Straße!- sagte die erste Dame zum Schluss.

Der junger Mann und ihre Freundin nickten ihr zu.

- Ich fand es auch schön.- sagte der junge Mann friedlich, aber mit einer spürbaren Note der Genugtuung.- Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich hatte nichts gegen den Gesang selbst. Aber das Gesetz. Man kann doch nicht das Gesetzt missachten, nur weil es schön ist. Es war schön, aber gegen das Gesetz.
- Leider junger Mann, leider. Sie haben Recht. Das Gesetz. Aber es war schön. Wunderschön.

Ist das nicht bewundernswert, diese Gabe der deutschen Seele, jeden Gegenstand in unserer Welt so geordnet und strukturiert zu betrachten, objektiv und nüchtern zu urteilen, genau unter die Lupe zu nehmen, unabhängig von dem Drang der menschlichen Regungen. Aber warum bringt man diese Objektivität sofort mit dem kalten Herzen und der Seelenlosigkeit zusammen? Ja, wir Deutsche haben schon immer mit den Vorurteilen zu kämpfen. Vor allem, dass wir ein nüchternes und sachliches, aber absolut gefühlloses und unromantisches Volk sind. Nicht einmal dazu fähig oder in der Lage. Das behaupten fast alle berühmten Menschen der Weltgeschichte. Vor allem die Künstler und Schriftsteller.
Völliger Unsinn, sage ich euch. Nichts als Unsinn. Wer den „kalten“ Deutschen gerne den Mangel an Gefühlen und Romantik vorwirft, muss jetzt unbedingt diese Zeilen von Erich-Maria Remarque lesen: „ Die Frau war schön. Ihr Knie zeichnete sich wundervoll ab in ihren Gewändern; denn sie trug Gewänder, keine Kleider. In der Kniekehle musste eine feine blaue Ader zittern: So weiß waren die Hände.- Mein Blut begann zu singen…“ Das habe ich in seinen Zeitungsessays entdeckt. So zärtlich und schön, diese, angeblich, absolut „unromantische“ deutsche Sprache.
Und wenn dies immer noch nicht ausreicht, greife ich immer wieder gern auf den guten und alten Goethe zurück. Denn waren wir - Mädchen und Jungen - nicht alle einst von dem Leiden und den Liebesschmerzen des jungen Werthers so erschüttert und mitgenommen, dass man im zarten Alter und selbstverliebt (selbstverliebt, also in sich selbst verliebt; oder selbst verliebt also zu der Zeit in irgendwen verliebt???), mit Tränen in den Augen, in seinem Romantikheft notierte „ Wie froh bin ich, dass ich weg bin! Bester Freund, was ist das Herz des Menschen. Dich zu verlassen, den ich so liebe, von dem ich unzertrennlich war und froh zu sein. Ich weiß du verzeihst mir´s.“, sobald man in einer Herzfalle steckte. Wie kann man nach solchen Zeilen und Worten… von einer „gefühlsarmen“, deutschen Seele sprechen??? Das ist ein Verbrechen und absolut ungerecht!
Genau so ungerecht, wie die Behauptung, dass Deutsche allesamt steif und langweilig sind und sich nicht freuen und feiern können. Wer dies sagt, war noch nie auf einem Oktoberfest und hat noch nie eine Gruppe deutscher Singlefrauen während einer Busfahrt auf Mallorca gesehen. Er wäre das alte Deutschland-Bild bestimmt aus dem Kopf los…
Wenn die deutsche Seele eines wirklich ist, dann ist sie ohne Zweifel eine musikalische Seele. Nach außen mag sie für andere streng und beherrscht erscheinen, aufgeräumt und schlicht wie eine preußische Besenkammer, im Inneren ist sie das aber nicht. Ein Deutscher lässt sich einfach nicht gerne den anderen öffnen (Ich würde sagen: öffnet sich den anderen nicht gern. Bei läßt sich öffnen, fragt man sich von wem???). Er vertraut sich lieber der Natur und der Musik an. Erst in der Natur und Musik erkennt man seine wahren Gefühle und Emotionen. Noch heute mag ich zwei Musikstücke, die für mich der Inbegriff einer reinen und ewigen Liebe sind. Das erste richtet sich an eine irdische Frau, das zweite ist einer Heiligen gewidmet. Das sind Zu Elise von Ludwig Van Beethoven und Ave Maria von Franz Schubert. Diese, für mein Ohr, sowohl damals als heute, eindeutig slawisch klingenden romantischen, traurigen Musikstücke… sind jedoch von „ kalten“ und „gefühllosen“ Deutschen geschrieben. Wenn ich als Kind diese beiden Melodien im Radio gehört habe, hörte die Welt für mich auf zu existieren. Ich lebte allein in diesem stumpfen Klang, voller weltlicher Sehnsucht, Einsamkeit, Zärtlichkeit und Melancholie, die bei mir jedes Mal Tränen der Begeisterung hervorriefen. (worauf bezieht sich das „die“ ? Auf die Sehnsucht, die Einsamkeit, die Zärtlichkeit oder geht es hier um den Klang?)
Die Behauptung, die deutsche Seele sei eine kalte und herzlose Seele ist für mich deshalb unbegreiflich. Eine Nachrede, die ich jederzeit mit Fakten und Zahlen widerlegen kann. Wie dieser zum Beispiel: Schon ein flüchtiger Blick in die Geschichte der klassischen Musik, macht es selbst einem Laien unmissverständlich klar: diese „höchstsensible“ Ebene der menschlichen Seele wird seit der Steinzeit überwiegend von den „gefühls- und herzlosen Erzgermanen“ dominiert. Schon die Namen sprechen für sich allein. Bach, Beethoven, Brahms, Schumann, Wagner. Und wenn man noch großzügig die Österreicher Mozart, Schubert und Strauß dazu nimmt, ist die Reihe vollständig und perfekt. Und das sind nur die bekanntesten Vertreter. Dabei stellt man sich irgendwannmal logisch die Frage: Wie kann es sein, dass es so viele großartige, deutsche Komponisten gibt, die die schönsten und zärtlichsten Melodien der Welt geschrieben haben, wenn man die Deutschen doch im Allgemeinem für kalt und herzlos hält? Das passt doch irgendwie nicht zusammen. Und… habe ich Sie jetzt endlich überzeugt?
Zu guter Letzt ist eine deutsche Seele eine Wanderseele. Sie kennt keine Ruhe und ist ständig auf Reisen. Das erklärt, warum man unsere Artgenossen selbst in solchen Ländern wie Russland oder Paraguay trifft (man trifft oder es gibt). Dieser Drang nach etwas Neuem und nach Abenteuer. Auch die Zahlen sprechen dafür. Jeder dritter US-Amerikaner hat deutsche Wurzeln und allein in Europa leben fast zwei Millionen Deutsche in den Ländern der EU. Auch Goethe, Dürer und Heine haben eine Weile im Ausland gelebt. Der letzte sogar bis zum seinem Lebensende. Ob eine Wanderschaft im Wald, Fahrradtour in das nächste Dorf oder die Schlange der Touristen am Flughafen nach Kreta. Ich fühle mich jedes Mal in dieser Aussage bestätigt. Die Deutsche Seele lebt in Bewegung.
In einem stimme ich dem Begriff der deutschen Seele jedoch niemals zu. Sie ist für mich keineswegs auf das Volk bezogen. Genauso so wenig, wie das eine russische ist. Der Roman Michail Lermontows Ein Held unserer Zeit, brachte mich auf diese verrückte Idee, nachdem ich diese Zeilen mehrmals gelesen habe und sie für mich neu interpretieren ließ (von wem?). Dort steht es schwarz auf weiß geschrieben: „ Heute Morgen bekam ich einen Doktorbesuch. Sein Name ist Werner, aber er ist ein Russe. Was gibt es daran Ungewöhnliches. Ich kannte einen Iwanov und er war ein Deutscher“.
Damit hat der große Dichter unbewusst meine eigene Vermutung bestätigt. Man muss nicht ein Deutscher sein, um „deutsch“ zu sein. Die Deutsche Seele ist kein deutsches Phänomen. Sie ist eine Reihe von Eigenschaften, bloß der Eigenschaften, die uns Menschen am Ende zu Pedanten oder Chaoten, Romantikern oder Zynikern, Träumern oder Realisten für andere Menschen machen. Und wenn diese verrückte Hypothese tatsächlich stimmt, werden Sie einer deutschen Seele überall auf der Welt begegnen...

Ende
Roman Dell
20.09.2013-

Quelle.
www.zitate.de
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Beitrag von zuzu »

Als Kind besaß ich eine Blechdose, die mein Vater mir nach einem Gastbesuch aus Gelsenkirchen mitgebracht hatte. Das war eine bunte Schachtel mit Nürnberger Lebkuchen. Die Süßigkeiten aus Deutschland haben mir sehr gut gefallen, genau wie die Schachtel selbst. Vor allem, die üppigen Damen und Herren in ihrer Landestracht da drauf. So stellte ich mir ein „echtes Deutschland und Deutsche“ vor. Danach sind Jahre geflossen. Inzwischen lebe ich selbst in diesem Land und weiß, dass die lustigen Männchen und Weibchen auf dem Bild – die Bayer sind und die Bundesrepublik Deutschland aus mehreren Bundesländern und nicht nur aus Bayern besteht. Dennoch hat dieses Kindererlebnis von damals mich bis heute geprägt. Denn jedes Mal, wenn ich das Wort Deutschland höre, stelle ich mir immer wieder nur dieses Bild vor. Die Menschen von der Blechdose. Das ist und bleibt mein „echtes“ Deutschland.

[center]„Echtes“ Deutschland


(Kurzgeschichte)
[/center]

Die Vorstellung, die ein Ausländer von Deutschland hat, ist, in den meisten Fällen, die Vorstellung von Bayern. Sehr zum Ärger der übrigen Deutschen, die sich nicht mit der Sonderstellung der Lederhosenträger abfinden wollen.
Bei mir war das auch nicht anders gewesen. Auch ich hielt Bayern für ganz Deutschland. Diesen Irrtum verdankte ich einem Geschenk aus der Bundesrepublik Deutschland.
Als Kind besaß ich eine wunderschöne Schatulle, die mein Vater eines Tages von einem Gastbesuch in Gelsenkirchen mitbrachte. Die Schatulle (heute weiß ich, dass dies keine richtige Schatulle, sondern nur eine buntbemalte Blechdose für Kekse war) enthielt zwanzig braune Lebkuchen, die ich mit meiner Familie innerhalb eines halben Jahres (und nur zur besonderen Anlässen) aß. Schließlich waren die Kekse aus Deutschland nicht irgendwelche Kekse, sondern etwas Besonderes. Damals gab es in ganz Russland (anders als heute) noch keine Lebensmittel aus dem Ausland und diese Lebkuchen galten als eine seltene Delikatesse.
Als der letzte Keks aufgegessen war, kam die Dose endlich in meinen Besitz. Ich bewahrte auch die Aufkleber und Verpackungen von den anderen Leckereien, die Deutsche meinem Vater geschenkt hatten. So konnte ich mir, selbst nach Jahren, die Erinnerung an den Geschmack und Geruch dieser Plätzchen bewahren.
Das Schmuckkästchen war mein Schatz, von dem ich mich nur ungern trennte. Seine Seiten und Deckel trugen ein malerisches Bild: ein hübsches Mädchen im Dirndl und fein gekleidete Herren mit Hut, Lederhose und kariertem Hemd auf dem Marktplatz vor einem Fachwerkhaus. Beide Geschlechter nahmen die Plätzchen genüsslich zu sich und sahen dabei überglücklich aus. Die Überschrift war in Altdeutsch und lautete: Originale Nürnberger Lebkuchen. Anno 1487.
Damals kannte ich mich nicht mit den geografischen Besonderheiten Deutschlands aus und wusste auch nicht genau, wo Nürnberg liegt. Ganz zu schweigen, dass Deutsche sich unter sich noch in Schwaben, Westfalen, Sachsen, Thüringer, Bayer, oder Berliner aufteilten. Auch Deutsch, mit allen seinen Facetten, war mir als Sprache noch nicht geläufig. Das Bild auf der Dose nahm mich jedoch voll in seinen Besitz. Ich holte die Dose mehrmals am Tag raus, atmete den Geruch der zartbitter schmeckenden Plätzchen ein und sagte träumerisch: Das ist Deutschland! Ein „echtes“ Deutschland!
Umso mehr war ich enttäuscht, als ich später nach Deutschland kam und keine Mädchen im Dirndl und lustige Männer mit Federhut im Ruhrgebiet sah. Auch keine Fachwerkhäuser; Burgen oder Schlösser, dafür aber jede Menge gleich aussehende Betonwohnblocks oder Zechenhäuser. Die Industriekultur hatte mich jedoch nur wenig fasziniert. Auch die Deutschen waren irgendwie andere Deutsche. Gar keine Ähnlichkeit mit den Menschen auf dem Bild.
Dagegen ist Bayern natürlich ein idealer Ort für Touristen. Vor allem für jene, die sich bereitwillig täuschen lassen. Hier bekommt man alle Klischees über Deutschland bestätigt… Und zwar sehr gern. Vielleicht ist das eine Art Rache, die Bayern an dem übrigen Deutschland nimmt, nach dem der Eiserne Kanzler (Bismarck) sie mit Gewalt zu dem Deutschen Bund zwang.
„Ich brauche Bayern, damit Deutschland endlich zu einer Nation wird“- sagte Bismarck damals und der Märchenkönig Ludwig II antwortete – „Aber Herr Kanzler! Ich bitte Sie! Bayern ist eine Nation!“
Seitdem hat sich an der leicht arroganten (so wird behauptet) Haltung der Bayer nicht viel geändert. Sie sind stolz als Aushängeschild des Landes zu gelten und es wird auch künftig so bleiben. Ob es einem passt oder nicht.
In Bayern erlebt ein Fremder die „ deutsche“ Kultur, so wie er sich das schon immer gewünscht und vorgestellt hat. Aus Büchern, Filmen oder Erzählungen. Sieh die Einführung oben! Man bekommt Haufenweise alte Fachwerkhäuser zu sehen (manche von ihnen zum Teil noch richtig bewohnt). Besucht bunt geschmückte Garküchen und Restaurants, die dem Fremden die Vorzüge von heimischem Sauerkraut mit Schweinshaxe anpreisen und dabei nicht in einem Meer von Dönerläden untergehen, was in dem Ruhrgebiet bereits eine Seltenheit ist. Und verfällt dem Charme der deutschen Mädchen (hochgewachsene Frauenzimmer, natürlich blond, sonst ist man gar kein Germane), die den ganzen Tag nichts Anderes zu tun haben, als mit Bierkrügen in ihrem Dirndl herum zu laufen und Gäste zu unterhalten, weil das ihnen ( wie sonst) einfach nur Spaß macht.
Nur so und nicht anders möchten die Ausländer Deutschland erleben. Alles Andere wird verdrängt.
Zugegeben: die Deutschen tragen ein wenig Schuld daran, dass ihre ganze Kultur jetzt im Schatten des Freistaates Bayerns steht. Einst ließen sie Bayern viel zu sehr in den Vordergrund rücken. So sehr, dass man heute sofort nur an Bayern denkt, sobald Deutschland im Gespräch ist. Allen Ruhm Deutschlands haben die „bösen“ Bayern an sich gerissen. Dabei ist das Ganze irgendwie ungerecht. Leipzig, Dresden, Berlin oder Potsdam sind die Schmucksteine der Deutschen Architekturkunst. In Thüringen erhebt sich stolz die alte Festung der Ritter - das mittelalterliche Schloss Wartburg. Hamburg und Lübeck gelten als Seestädte der Hansa. Im uralten Trier kann man selbst heute noch die Spuren der Römer sehen. Düsseldorf ist die Heimat von Heine, Goethe hat in Weimar gelebt und Köln besitzt die schönste Kathedrale der Welt. Und das ist nur ein Bruchteil der Schatzkiste Deutschlands. Fragt man dann einen Fremden, was er sich unter dem Wort Germania vorstellt, hört man sofort: Bier, Knödel, Weißwürstchen, Sauerkraut und Oktoberfest. Als hätte die deutsche Kultur sonst nichts mehr zu bieten.
Selbst bei dem Wetter scheinen die Lederhosen viel mehr Glück zu haben, als der Rest Deutschlands. „Drei Monate Winter und der Rest ist Herbst, das nennen Deutsche ihr Vaterland“- ließ der böse Napoleon einmal über Deutschland sagen. Das scheint für München nicht zu gelten. Hier gibt es viel öfter Sonne. Zumindest ist das so, wenn ich dort bin.
Was mich betrifft, so gebe ich zu, in Bayern aufrichtig verliebt zu sein. Ich finde die Lederhosenträger kein bisschen arrogant. Ich mag ihre Kultur, und dass sie ihre Kultur so rührend mögen: mit Würde und Stolz aber ohne Zwang.
Immer wieder wird von der Weltliteratur behauptet, dass der Deutsche ein todernstes und stocksteifes Volk ist, das zum Lachen in den Keller geht. Da waren sich auch die Russen Puschkin und Tolstoj darüber einig. Ich sage nur, wer daran glaubt, der irrt sich. Im bayerischen München wird man schnell eines Besseren belehrt. Hier sprudelt es nur vor Leben und guter Laune. Die ganze Stadt wirkt wie eine riesige Kulisse für einen Historienfilm, in dem man alle Bewohner mitspielen lässt. München ist wie eine junge Frau. Sie ist sehr schön und sie verführt.
Am Abend gingen wir wieder aus. Ich arbeitete mein Besucherprogramm ab. Im Hofbräuhaus spielte ein kleines Orchester. Fünf pummelige bayerische Musiker, eine etwas ältere Ausgabe der Kastelruther Spatzen, bliesen energisch in die Röhre. Natürlich in ihrer Bayern-Tracht. Sie spielten ein deutsches Volkslied, das sich sehr flott anhörte und hatten sichtlich Spaß bei der Arbeit.
Ich ließ mir eine Schweinshaxe mit Knödel bringen. Ein bayrisches XXXL- Liter Biermaß gehört traditionell dazu. Der Kellner hatte kein Problem, sich meine Bestellung zu merken. Die neunundneunzig Japaner in unserer Ecke wünschten sich ebenfalls dasselbe Menu. Wir sind eben gerne Bayer.
In München wagte ich mich in die Haut eines Deutschen. Buchstäblich. In einer Landesboutique probierte ich die bayerische Tracht an. Rotkariertes Hemd, grüne Federmütze, Weste und kurze Lederhose in derselben Farbe.

– „ Putzig“- sagte die Verkäuferin und lachte sich ins Fäustchen.

– „Heiß“- meinte meine Freundin und nahm mir die Sachen weg.

– „Gewöhnungsbedürftig“ –dachte ich und bestaunte mein Römerprofil im bayerischen Hut im Spiegel.

Im Schloss Neuschwanstein kam ich ebenfalls voll auf meine Kosten. Nicht nur ich. Die lange Warteschlange an der Kasse fing schon vor den Mauern des Schlosses an. Dabei waren die Bayern nicht immer so stolz darauf, dass ihr verrückter König so viel gebaut hat, obwohl er alles von seinem eigenen
Geld zahlte. Verschwendungshass. Das ist nun Mal allgemein deutsch.
Aus dem Wachturm schaute ich auf die Täler und Hügel und sah die Nibelungen-Welt vor mir. Drachen, Krieger, Schilder und Schwerte. Eine alte Legende, die hier tatsächlich lebt.
Auch der türkisblaue Chiemsee und das deutsche Versailles, eine Minikopie seines französischen Originals, den der bayerische Märchenkönig zu Ehren des Sonnenkönigs nachbauen ließ sind ein ausgesprochener Augenschmaus. Die breiten goldenen Säle des Palastes erinnerten mich spontan an den Zarenprunk des russischen Petershofs. Nur dass die deutschen Fürsten doch etwas sparsamer mit dem Geld waren.
In einem Inselcafé blickte ich auf die Seepromenade und stellte mir die Barke des Königs vor. Der Wasserspiegel reichte bis zum Horizont. Der blaue Himmel kuschelte mit der goldenen Sonne. Hochsommer pur und paradiesisch gut. Hier hatte der König mit Sicherheit seine platonische Liebe - Sissi bewundert. Tolle Natur und romantischer Ausblick. Der Platz ist wie geschaffen für Träume. Eins muss man sagen. Der Spinner Ludwig hatte einen ausgezeichneten Geschmack. Ich fühlte mich wieder in meine Kindheit zurück versetzt. Das ist mein Deutschland. Das Deutschland aus der Keksdose.
Zuhause, im regnerischen Gelsenkirchen, träumte ich noch Tage lang von diesen schönen Aussichten, von dem See, dem Schloss Linderhof, von Weißwurst, Bretzel und vom König Ludwig. Von all dem, was ich hier, in NRW, die ganze Zeit vermisse.
Eines Tages erzählte ich meiner Kollegin Petra von dieser Sehnsucht. Daraufhin fragte sie mich, was für mich Deutschland ist.
- Aber das ist doch kein echtes Deutschland - meinte sie erstaunt, nachdem ich ihr fleißig von allen Höhenpunkten meiner bayerischen Reise berichtet hatte. –Ja wirklich, Mensch! Ein echtes Deutschland ist es nicht!
Und schon schwärmte sie mir von der rauen Schönheit Norddeutschlands vor. Von den Stränden und Dünen. Das ist ihre Welt.
Meine Kollegen im Büro haben nur wenig Sympathie für Bayern übrig. Allein schon deshalb, weil sie Schalker sind. Und Schalke stehen nicht auf Lederhosen. Sie finden die Bayer höchstens nur peinlich… oder amüsant.
Werner- ein guter Freund meiner Eltern, kommt dagegen aus Ostdeutschland. Er liebt Sachsen und schwärmt von Dresden. Alles Andere ist für ihn einfach nur miserabel.
Mein bester Freund Viktor reist viel lieber nach Trier oder Köln. Dort gibt es Museen und sehr viel Geschichte. Und …er ist total verrückt nach Rom und seine Spuren in der deutschen Geschichte. Für ihn ist die Porta Negra die beste Ecke auf dem deutschen Boden.
Ich bleibe Bayern und München treu. Wahrscheinlich sind diese Nürnberger Kekse daran schuld. Und wenn ich allein zu Hause bin, ziehe ich meine Lederhose an, die ich mir dort in dem Laden gekauft habe. Dabei ist es mir in dieser Bayerntracht kein bisschen peinlich. Ob Hamburg, München, Berlin oder Dresden. Was spielt das am Ende für eine Rolle? Jeder von uns hat sein eigenes Deutschland. Und jedes davon ist verdammt echt!

Ende

Roman Dell

20.01.2012- 24.01.2012
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Beitrag von zuzu »

Vorwort zu der Geschichte „Jeder Tag wie eine Entdeckungsreise“.

Die erste Zeit in einem neuen Land ist oft von Frust und Nostalgie geprägt. Jeder Einwanderer weiß, wovon ich rede. Es ist nicht einfach, sich in der neuen Umgebung zu Recht zu finden. Nicht alles klappt sofort oder ist, wie man es sich daheim vorgestellt hat. Gute Sprachkenntnisse, das Gefühl dazu zu gehören, hier eine neue Heimat gefunden zu haben, all das braucht schon seine Zeit. Auch bei mir. Dennoch hat diese Zeit auch etwas Besonderes an sich. Sie ist ein Teil meines Lebens, ein Teil von mir. Eine Erinnerung daran, wie mir Deutschland damals erschienen ist, als jeder Tag hier noch eine „Entdeckungsreise“ war.



[center]Jeder Tag wie eine Entdeckungsreise.

(Erzählung)[/center]


Als ich vor vielen Jahren nach Deutschland kam, verbrachte ich die ersten Monate meines Lebens in einem Übergangswohnheim für Spätaussiedler. Meine Familie bekam dort ein Zimmer zugewiesen. Das Übergangswohnheim, ein großer Wohnkomplex mit rot-orangen Backsteinhäusern, die früher der britischen Armee gehörten, erinnerte mich an einen Riesenhafen für gestrandete Schiffe, an dem die Menschen sich von den Strapazen ihrer mühsamen Reise erholten, ohne zu wissen, wohin das Schicksal sie im nächsten Augenblick verschlagen würde. Bis dahin weilten sie wie Segelboote während der Flaute und warteten geduldig auf den frischen Wind, der einen neunen Kurs (und hoffentlich Glück) in ihr bisheriges Leben bringen sollte.

In der Zwischenzeit hatte jeder mit seinen eigenen Problemen zu kämpfen. Davon gab es jetzt schon mehr als genug. Nach einem kurzen Aufenthalt im ersten Aufnahmelager, Zuweisung in NRW und den ersten Behördengängen in der Stadt begann man jetzt langsam nicht nur von Deutschland zu träumen, sondern auch Deutschland zu spüren. Diese neue Welt, jeder für sich, persönlich zu erforschen. Keine einfache Sache, wenn man die meiste Zeit seines Lebens hinter dem Eisernen Vorhang im Ostblock verbracht hatte und sich die sagenumwobene Bundesrepublik Deutschland immer nur wie ein „Märchenland mit goldenen Flüssen“ vorgestellt hatte.

Jetzt wurde das Märchen zur Realität und diese Realität sorgte für Ernüchterung und Erwachen. Das Deutschland, das man hier täglich traf, war nicht nur ein schönes Foto aus dem OTTO-Katalog. Ein typisches Bild von der BRD in den Köpfen der meisten Sowjetmenschen. Zum Leben hier gehörte etwas mehr. Viel Geduld, Fleiß, Sprache und eigene Initiative, zum Beispiel. All die Dinge, ohne die ein erfolgreiches und glückliches Leben in Deutschland nicht möglich war. Nicht jeder kam damit klar. Die Meisten waren daran gewöhnt, „geführt“ zu werden und konnten mit Eigeninitiative, Individualismus und Freiheit der Wahl nichts anfangen. Vor allem Erwachsene fühlten sich in dieser neuen Weltordnung und Leistungsgesellschaft, frei von jeglicher sozialistischen Brüderlichkeit und vom Kollektivismus, auf einmal verloren und orientierungslos. Man konnte bereits jetzt schon sehen, wie sich die Spreu vom Weizen „trennte“.

Grundsätzlich ließen die Menschen im Heim sich grob in zwei Gruppen einteilen: Kämpfer und Versager. Die Ersten stürzten sich voller Tatendrang und Optimismus auf das neue Leben, wie ein wortkarges Oberhaupt einer sibirischen Familie, das jeden Morgen von einem deutschen Bauern zur „Schwarzarbeit“ auf dem Feld abgeholt wurde. Von dem Geld kaufte er sich einen gebrauchten Audi 80, auf den er so stolz war, dass die Karre praktisch auf jedem seiner Familienfotos mit dabei sein musste. Er schickte dutzende dieser Bilder an seine Verwandtschaft im fernen Russland, zusammen mit den restlichen Fotos seiner einst ziemlich schlanken Familie, die jetzt mit strahlenden Lächeln und üppigen Bäuchen ein aussagekräftiger Beweis für ein Wohlstandsleben im kapitalistischen Deutschland präsentierte. Dieser Mann galt als Beispiel für eine gelungene „Karriere“.

Die Zweiten gaben sich jetzt schon von den neuen Lebensumständen geschlagen und bereuten bereits die Ausreise. Schon allein wegen der neuen Sprache, die zu erlernen alles andere als einfach war. Ob mit sechzehn oder sechzig. Ich spreche wirklich aus Erfahrung. Nach den ersten Misserfolgen, holten sie sich schnell eine SAT-Schüssel mit russischen Kanälen und hockten tagelang enttäuscht vor der Glotze.

Ein Erfolgsrezept für eine schnelle und vor allem „schmerzlose“ Integration gab es nicht. Jeder ging seinen eigenen Weg. Manche Bewohner zeigten sich dabei ziemlich schlau und erfinderisch. Wie ein Senior aus dem Nachbarhaus.
Er lebte seit geraumer Zeit in dem Übergangsheim und zählte praktisch zum Mobiliar. Jeder hier kannte diesen Herrn. Seine Tochter und sein Schwiegersohn wohnten nicht mehr bei ihm. Sie lebten schon eine Weile in der eigenen Wohnung, in einem Wohnhaus in einem Viertel, in dem es nur Einheimische gab und fühlten sich dort allem Anschein nach pudelwohl und zufrieden.

Nur der Großvater hatte eine panische Angst vor dem Auszug und blieb weiterhin lieber unter „seinen Russen“. Dafür prahlte er gerne mit den Erfolgen seines Enkels, der mit fünf Jahren schon ziemlich flott Deutsch sprach und für den Großvater den Dolmetscher spielte. Obwohl der Senior der deutschen Sprache überhaupt nicht feindlich gesinnt war und sogar ein kleines deutsch-russisches Wörterbuch immer bei sich trug, waren seine Erfolge auf diesem Gebiet mehr als bescheiden. Bis jetzt schaffte der Alte nur „Guten Morgen“, „Danke“ „Nichts verstehen“ und „Ich rufe die Polizei“ für sich auf Deutsch zu behalten. Alles andere prallte von ihm ab. Wie die Erbsen von der Mauer. Er nannte den deutschen Pfennig- Kopeke und bezeichnete einen Gummischlauch als Schlang und ersetzte auch sonst alle anderen deutschen Begriffe gerne mit russischen Wörtern. Der Enkel war seine einzige Verbindung zu der „deutschen Welt.“

Dennoch war das ein profitables Geschäft. Zumindest für das Enkelkind. Er führte den Opa regelmäßig aus und ließ sich dafür wie ein Sultan verwöhnen. Dabei wurden seine unschätzbaren Übersetzer- und Begleitdienste stets mit einer soliden Doppelration Stracciatella-Eis belohnt, die der alte Mann, wie immer… in Rubeln bezahlen wollte. Er ließ die Proteste der Verkäufer mit völlig verdutzter Miene unbeachtet, weshalb ihn schon bald fast jeder Eismann in der Umgebung höflich mied.
Ich bezweifle, dass Deutschland jemals eine Heimat für ihn wird. Er kam allein wegen seiner Tochter und ihres deutschstämmigen Ehemanns hierher, und lebte und liebte in der Vergangenheit…
Der Opa mit dem Kind war nicht der einzige Mensch, der mir in dieser Phase meines Einwandererlebens in Deutschland damals begegnete. Das ganze Heim war eine einzige bodenlose Schatzkiste voller tragischer Schicksale, unfreiwillig kurioser Situationen und lustiger Geschichten, sowie schräger Persönlichkeiten jeder Art. Wie eine Bauerfamilie aus Kasachstan, die sich wegen der Kuh zerstritten hatte…


[center]XXX[/center]

Ich lernte die Drei bereits bei ihrem Einzug ins Heim kennen. Wir saßen zusammen auf dem Flur und wollten uns von dem Hausmeister die Schlüssel für unsere Zimmer geben lassen. Dieser Mann mit Glatze, ein Gigant wie der gemalte Kraftkerl aus der Waschpulverwerbung, führte einen verzweifelten Kampf mit unseren deutsch-slawischen Vor- und Nachnamen. Wir betraten gleichzeitig sein Büro.

Während die Mutter den Hausmeister auf Plattdeutsch ansprach, bei dem die Worte wie „Tür“ sich eher wie ein „Tier“ anhörten, hatten der Junge und der Vater dagegen nichts zu tun. Das Oberhaupt der Familie starrte Löcher in die Wand. Sein Sohn kämpfte ebenfalls mit der Langeweile und rutschte ständig hin und her auf dem alten Holzstuhl, womit er dauernd für ein starkes Quietschgeräusch und für Hektik im Raum sorgte. Zwischendurch wurde er von seiner Mutter dafür laut gerügt, die ihre deutsche Sprache geschickt mit russischen Kraftausdrücken mixte, von denen das harmloseste Wort hier die Bezeichnung als „Hurensohn“ war.

Als der Sohn, trotz der mehrmaligen Abmahnung, immer noch nicht zur Ruhe kam und sich zu guter Letzt noch die Karte vom Hausmeisterstisch schnappte, platzte der Mutter eindeutig der Kragen. Sie konnte ihr Elternversagen und einen weiteren „Gesichtsverlust „vor den „zivilisierten“ Deutschen nicht mehr zulassen und verpasste dem Kind eine klassische Recht-Links-Kombination, die beide Brüder Klitschko und Jean Claude Van Damme bestimmt grün vor Neid hätte werden lassen. Dabei machte der Kopf des Buben eine nahezu 180 Grad Wendung, bevor er seine ursprüngliche Ausgangsposition wieder einnahm.

Diese pädagogische „Aktion“, ließ den Hausmeister buchstäblich vom Sessel hochspringen. Dabei fielen dem Deutschen vor Schock fast die Augen aus dem Kopf. Er fing an, etwas heftig zu stottern, (ich nehme an, er verurteilte diese für ihn eindeutig sowjetische GULAG- Erziehungsmethode aufs Schärfste) und hörte mitten im Satz wieder auf, als er sah, dass der „Hurensohn“ plötzlich ruhig da saß und ihn still und artig anschaute, als wäre gar nichts passiert. Sein Gesicht strahlte wieder die übliche Langeweile und das Desinteresse von vorhin aus. Außer, dass der rote Fleck jetzt da war. Die Schläge selbst schienen ihn jedoch genauso wenig zu stören, wie eine Stechmücke auf dem dicken Rückenfell einer Kuh…Gewohnt ist gewohnt.

Damit war meine Bekanntschaft mit der Familie noch nicht zu Ende. Ich hatte „Glück“. Ihr Zimmer lag natürlich… ebenfalls auf unserer Etage, weshalb ich mehrere Wochen lang der unfreiwillige Zeuge eines täglichen Rituals war. Vater und Sohn legten sich vor jeder Mahlzeit mit der Mutter an. Dabei ging es wie immer um ihre Rückkehr nach Kasachstan.

Die Mutter, eine klassische sowjetische Kolchose- Arbeiterin, hochgewachsen, mit roten Wangen, Milchhaut und gigantischer Brust, forderte beide Männer auf, wieder zurück nach Hause zu fahren.- „Mir reicht’s hier langsam. Ich kann nicht mehr. Die Straßen, die Menschen, das Leben. Alles ist hier so fremd. Und ich vermisse meine Kuh“- brüllte sie
Dieser Vierbeiner verfolge die Kolchose-Arbeiterin sogar im Schlaf. Täglich sah die Mutter der Familie ihre rot-bunte Kuh im Traum zu ihr kommen und fing jedes Mal an zu weinen, sobald das Vieh sie mit seinen traurigen Augen anschaute.

Eigentlich brauchte sie sich keine Sorgen zu machen. Sie hatte für das Haus und die Kuh in Kasachstan gut gesorgt. Sie hatte beides in der Obhut ihrer jüngeren Schwester überlassen, die jedoch mit dem Tier nicht mehr zu Recht kam, da die Kuh sich nur von der Magd persönlich melken ließ und alles Fremde mit ihren Hörnern weg stieß. Das erfuhr die Frau aus ihren täglichen Telefonaten mit der Schwester, bei der sie sich zunächst nach der Kuh und erst dann nach dem Rest der Verwandtschaft erkundigte. Diese konnte ihr leider keine guten Nachrichten überbringen, außer dass der Vierbeiner mit vollen Eutern im Stall stand und laut und wehmütig in seiner Kuh-Sprache stöhnte. Das Tier vermisste ebenfalls seine Besitzerin.

Vater und Sohn zeigten kaum Verständnis für ihre Sorgen. Während die Mutter vor Unglück kaum etwas zu sich nehmen konnte, zeigten die beiden Herren der Schöpfung einen beneidenswerten Appetit und stopften das Essen nur in sich rein. Das wurde zu ihrem Lieblingshobby und ihrer Hauptbeschäftigung. Jeden Tag, sobald das Kind aus der Schule und sein Vater vom Sprachkurs zurück ins Übergangswohnheim kamen, machten die Beiden sich schnell für eine Entdeckungsreise fertig. Ihr Interesse und ihre Aufmerksamkeit galten allein der deutschen Gastronomie. Aldi, Lidl, Coop, Real, Tipp, Penny Markt, Rewe… In diesem Lebensmittel-Paradies gab es so viel zu „erforschen“. Abends kehrten sie mit vollen Tüten zurück, die sie in nur einem Tag nahezu vollständig leerten. Dann ging es wieder auf die „Forschungsjagd“.

An jedem Samstag wurde unser Heim sehr früh wach. Auf dem Parkplatzgelände fand ein wöchentlicher Trödelmarkt statt. Bereits um sechs Uhr Morgens schmiss uns die laute Stimme des türkischen Gemüsehändlers aus den Betten raus, der wie ein geübter Muezzin vom Minarett ununterbrochen: „Deutsche Bauernkartoffeln. Billig!“ schrie. Wobei er das Wort billig ewig zog, dass es sich fast wie ein endloses BILLIGAAAAAAAAAAAAAAAAAAA angehört hatte. Eine Minute später waren Vater und Sohn bereits unten bei dem Händler. Nicht einmal ein deutsches Sondereinsatzkommando konnte sich so schnell wie die Beiden fertig machen.
Sie kauften Obst und Gemüse auf Vorrat ein. Eine alte sowjetische Gewohnheit aus der hungrigen Perestroika- Zeit, die ihr Wohnzimmer im Heim schon bald in eine Speisekammer verwandelte. 50 Kilo Kartoffeln, 6 Laibe Brot, 2 Säcke Mehl, 1 Sack Zucker, 3 Paletten Milch…Alles für eine Woche. Es gab nichts, was es bei den Beiden nicht gab. Dafür zahlten sie einen stolzen Preis. Vater und Sohn sahen inzwischen wie zwei Kugelfische aus, die bald platzen würden…

Die verzweifelte Bitte der Mutter, dieses Traumland Deutschland…wegen einer blöden Kuh zu verlassen, kam für Beide überhaupt nicht in Frage.- „Lass uns doch erstmal satt fressen“- schrien Vater und Sohn wie auf Kommando im Duett und vertieften sich weiter unbeirrt und unnachgiebig in ihren Tellern, während die Mutter dabei laut heulte und mit den Töpfern und Pfannen auf dem Herd laut krachend hantierte. –„Ihr seid beide Ungeheuer und Deutschland ist verflucht“ –klagte sie.
Das Ganze endete ziemlich abrupt. Eines Tages klagte die Mutter nicht mehr. Ein Tag. Zwei Tage. Eine Woche. Es kam nichts. Überhaupt nichts. Kein Wort. Keine Beschwerde. Was war los?

Beim Kartenspielen erklärte das Oberhaupt der Familie sein Geheimnis. Es war einfacher, als man gedacht hatte. – „Ich habe meiner Gattin versprochen, dass wir Deutschland sofort verlassen werden, sobald ich alle Wurst und Biersorten hier ausprobiert habe. Ein Dummerchen! Sie weiß nicht, dass es in Deutschland 1500 Wurst- und über 5000 Biersorten gibt. Bis ich sie alle durch hab, findet sie sich schon damit ab!“ – teilte er uns stolz mit und legte lachend die Dame auf den Tisch…

[center]XXX[/center]

Ich machte ebenfalls meine Erfahrung mit dem Leben hier. Jeder Tag nach der Schule und auch als es Ferien gab, fand ich einen Zettel auf dem Tisch, in dem mein Vater mich mit der einen oder anderen Aufgabe beauftragte, während er selbst in dem Sprachunterricht beim DAK saß. Meistens Dinge des alltäglichen Bedarfs. Ein Brief bei der Post aufgeben und die Postleitzahl von Berlin erfahren, oder ein Mitgliedsformular von der Krankenkasse besorgen, mein Vater brauchte immer irgendetwas.

Ich nahm ihm diese „Botendienste“ ziemlich übel. Heute bin ich eher dankbar dafür. Aber damals. Ich hatte jedes Mal schreckliche Angst. In der Tat. Diese Aufgaben bedeuteten für mich eine wahre Tortur. Kein Wunder. Selbst harmlose Dinge wie Brotkauf, der Gang zur Bank oder ein Termin beim Arzt, alles was man in seinem alten Leben und seiner Muttersprache mühelos erledigt hatte, erwies sich auf Deutsch auf einmal wie eine komplizierte Mission, die schon ein Tag davor für Bauchschmerzen und schlaflose Nächte bei mir sorgte.

In dieser Zeit brachte ich es mir bei, mich für solche „Einsätze“ vorzubereiten. Ich schrieb mir schon vorher alle wichtigen Worte aus dem Wörterbuch raus, die mir bei dieser Mission womöglich nützlich sein konnten. Genau wie das Anliegen selbst, das ich der Empfangsdame bei der Post, im Amt oder bei der Krankenkasse in wenigen Sätzen mündlich verständlich machen sollte. Eine mehrfache Entschuldigung oder Tut mir Leid, die ich nach jedem dieser Sätze dazwischen packte, sollten die Damen milde stimmen, wenn mein Kauderwelsch ihnen noch zu unverständlich vorkam. Wenn die Dame mich immer noch nicht verstehen konnte, legte ich meistens den Zettel auf den Tisch, meine einzige Rettung in den Moment. Und das hat immer geholfen!!!!

Mit jedem neuen Gang verschwanden auch meine Berührungsängste, was die Kontakte zu den „echten“ Deutschen betraf. Die meisten Einheimischen fanden mein Fleiß und meine Bemühungen entweder lobend oder niedlich. Sie ärgerten sich nicht, wenn man ihre Sprache FALSCH sprach. Sie waren es eher, wenn man das GAR NICHT tat.

Mit dieser Methode hatte ich niemals schlechte Erfahrungen. Dennoch gab es Dinge, die mir noch schwerer fielen, als mit der deutschen Sprache fertig zu werden. Zum Beispiel, mich in einer deutschen Stadt nicht zu verlaufen. Obwohl bunt und gepflegt sahen die Straßen in Deutschland für mich in der ersten Zeit allesamt gleich aus. Ob Goethe-Straße oder Schiller-Allee. Ich merkte da gar keinen Unterschied. Damit stand ich nicht allein. Viele Bewohner in unserem Heim hatten mit demselben Problem zu kämpfen. Deutsche Häuser und Straßen sahen für uns alle gleich aus, was schon irgendwie lustig ist, weil jeder Westler dasselbe über unsere Chruschtschow-Plattenbausiedlungen behaupten könnte, die für das Auge eines Ausländers wie Zwillinge aussehen.

Eine alte Heimbewohnerin entwickelte dabei ihre persönliche Methode, wie sie in diesem bunten Haufen immer noch sicher ans Ziel kam.
Sie merkte sich auf jeder Strecke die Werbung an den Reklamesäulen.
Der Weg zum Übergangsheim sah nach ihrer Methode etwa so aus.
„30 Meter bis zum Mann auf dem Pferd gehen (Marlboro-Werbung). Dann mit dem Bus Nr.13 fünf Haltestellen fahren und aussteigen. Als Gedächtnisstütze sich ein Wandplakat mit dem nackten Mädchen merken (Männer, bitte aufpassen! Hier eine Sonnenstudio-Werbung). Von dort aus 100 Meter geradeaus laufen. Und zwar bis zum silbernen Auto mit vier Ringen. (Audi-Werbung). Anschließend links abbiegen und dem Straßenverlauf drei Minuten lang folgen, bis da irgendwann Mal eine große Reklamesäule mit dem schwarzen Stier auf dem gelbroten Hintergrund kommt. ( Spanische Osborne-Brandy Werbung) Bingo! Direkt daneben ist die Einfahrt zu unserem Heim.“
Die Methode war logisch und sie ließ sich auch sehr leicht merken. Die alte Dame war begeistert. Und wir machten es ihr eifrig nach. Die große Krise kam erst Ende des Monats, als der Stier plötzlich nicht mehr da war, wie die anderen Bilder übrigens auch. An ihrer Stelle klebte jetzt… neue Werbung.

Aber ein Russe ist und bleibt zäh und erfinderisch. Schon bald erfanden unsere Bewohner eine neue Orientierungsmethode. Dieses Mal benutzten sie die Schilder der großen Geschäfte wie Saturn, Schlecker, Karstadt oder Kaufhof, die ihnen jetzt als Gedächtnisstütze dienten. Diese Läden würden nicht so schnell wie die Werbung verschwinden. Lustig und traurig. Hauptsache man kam nach Hause.

Zu meinen sonstigen Aufgaben zählte ebenfalls die Abholung der Post aus dem Postfach, das für jede Familie im Heim, im Keller des Hausmeisters extra eingerichtet wurde. Ich machte mir immer ein Spiel daraus. Jeden Tag dachte ich mir einen neuen Satz auf Deutsch aus, mit dem ich mich nach der Post für uns und meinen Vater erkundigen sollte. Die deutsche Sprache bot mir dafür hunderte Kombinationen. Einmal machte ich es auf die feine Art und musste mir einen langen und komplizierten Satz wie „ Ist der gnädige Herr so gütig, sich nach der Korrespondenz für Familie so und so… umzuschauen? Haben Sie vielen Dank, Herr Hausmeister!“ im Kopf merken.

Ein anderes Mal fragte ich einfach nur plump: Post für Zimmer 127? Das ging auch. Ich wünschte mir alle Facetten der deutschen Sprache gleich gut zu beherrschen.
Dabei entging dem armen Hausmeister völlig dass er nur ein Teil meines Lernprozesses war und der „Weiße Riese“ schenkte mir jedes Mal einen bösen Blick voller Fragen und Verwirrung…Er betrachtete diese Spiele eindeutig als eine besonderes raffinierte Form …von Verarschung.


[center]XXX[/center]

Im Sommer zog unsere Familie in eine private Unterkunft um. Unser Vater bekam unerwartet einen Job. Anders als die Meisten hatte ich keine Probleme, das Übergangswohnheim zu verlassen. Keine Sehnsucht. Keine Traurigkeit. Nicht die Spur davon. Ich hatte schon damals das Gefühl, der längere Aufenthalt dort würde keinem von uns besonderes gut tun. Seitdem ist jede Menge Zeit vergangen.

Schule, Zivildienst, Ausbildung, Arbeit und Heirat. Inzwischen fällt es mir schwer, mich überhaupt in meinen damaligen Zustand zu versetzen. Deutsche Sprache, deutsche Sitten, deutscher Alltag. Alles ist wie eine zweite Haut geworden. Und diese Haut sitzt verdammt eng. Sie fühlt sich fast schon wie meine echte an. Unterwegs zur Arbeit blättere ich in der Bahn eine viertel Stunde in einem Buch aus der Bücherei. „Die Schriften von Agra“ von Paulo Coelho, um es genauer zu sagen. In der Pause lass ich mich auf einen kurzen Small-Talk mit meiner Arbeitskollegin Petra ein. Wir diskutieren gerade über die letzte Anne Will-Sendung und tauschen unsere Meinung zur Großen Koalition aus. Das Leben in Deutschland, die Menschen, die Straßen. Alles ist so gewöhnlich, so selbstverständlich, fast zu einer Routine geworden. Ich brauche nicht mehr, mir jeden einzelnen Satz auf Deutsch ins Russische zu übersetzen. Ich kann jetzt nicht sagen, in welcher Sprache ich dabei überhaupt denke. Es ist der Gedanke, allein der Gedanke, der mich erreicht und bewegt.

Dieser junge Einwanderer in mir ist mir ebenfalls fremd geworden. Ich würde den jungen Mann mit sensibler Seele von damals gerne komplett aus meinem Leben und aus meinem Gedächtnis streichen und tun als wäre ich schon immer so gewesen. Ich erinnere mich ungerne an diese Zeit. Jene Zeit der eigenen Schwäche und Unsicherheit, der Angst und der Überwindung, des Frusts und der Nostalgie. Die Zeit, in der das Wörterbuch und nicht ein Mensch mein bester Freund war und ich vor jedem Gang zur Schule oder zur Behörde Magenschmerzen hatte…
All das würde ich liebend gerne verdrängen und vergessen. Dennoch ist auch dieses Leben ein Teil von mir. Etwas Gutes und Schönes hatte das Leben im Heim jedoch schon. Damals erschien mir Deutschland noch so fremd und so bunt, (anders als heute) und jeder Tag hier war wie eine Entdeckungsreise…

[center]Ende[/center]

Roman Dell
20.12.2013-05.01.2014
Zuletzt geändert von zuzu am 01.05.2014, 08:52, insgesamt 1-mal geändert.
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Pedder vonne Emscher
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Beitrag von Pedder vonne Emscher »

Mal eine kurze Anmerkung. Ich lese das mit Interesse, kenne ähnliche Auswanderer-Geschichten.

Aber diese endlosen Passagen sind schwer zu lesen. Man findet nicht so schnell wo eine neue Zeile beginnt. Mehr Absätze in diese ellenlangen Berichte einfügen würde es lesbarer machen.

Danke.
Viele verlieren ihren Verstand deshalb nicht, weil sie keinen haben.
Arthur Schopenhauer

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Beitrag von zuzu »

Es gibt viele Dinge, die man mit dem Land Deutschland heute verbindet. Für die einen sind das deutsche Zuverlässigkeit und Qualität, für die anderen deutsche Straßen und technisches Know- How. Auch der Rennfahrer Michael Schumacher, die Modells Claudia Schiffer und Heidi Klum, der Filmstar Diana Krüger, Bands wie Rammstein, Tokio Hotel, Modern Talking und Skorpions stellen Deutschland international in Person dar. Für viele in meiner Generation bedeutet Deutschland jedoch in erste Linie: deutsche Autos. Darum geht es auch in dieser Geschichte .


[center]Das Auto aus Deutschland
(Kurzgeschichte)[/center]
XXX
Anfang der neunziger Jahre galten Inomarken- ausländische Automarken in der Sowjetunion als etwas Exotisches und Außergewöhnliches. Vor allem die Autos aus Deutschland. Jeder Bürger begeisterte sich dafür. Auch wir Kinder. Obwohl wir sonst nie besonders gut in Fremdsprachen waren, (bedauerlich aber verständlich,- wozu braucht man eine, wenn man doch eher nie ins Ausland kommt), kannte trotzdem fast jedes Kind in unserer Stadt, wie man die magischen Worte wie Mercedes oder BMW fehlerfrei auf Deutsch schreibt.

Auch fand man diese regelmäßig auf Wänden, Zäunen, Garagen und auf dem Asphalt der Stadt, direkt neben dem berühmten russischen Schimpfwort aus drei Buchstaben, mit Kreide oder mit dem Messer gekritzelt, was ein eindeutiges Zeichen für ihre Beliebtheit beim Volk war. Selbst in der Schule hörte diese Automanie nicht auf. Ähnlich wie Pokémon-Karten in Haupt- und Realschulen Europas, zählte der amerikanische Kaugummisticker Turbo damals zu den gefragten Tauschmitteln auf den sowjetischen Schulhöfen und der Handel damit blühte.

Die kleinen Kaugummis, die bunte Sticker und Abbildungen ausländischer Autos enthielten, hatten wir dem Generalsekretär der Sowjetunion Mikhail Gorbatschow und seiner Perestroika zu verdanken. Genauer gesagt seinen Kooperativen - kleinen privaten Werkbetrieben -, die neben der Güterproduktion auch noch Handel mit dem Ausland trieben und das Land über Nacht mit den billigen (und daher meist gefälschten) Produkten aus Polen, China oder der Türkei überfluteten. Unter anderem auch mit ausländischen Kaugummis.
Diese Kaugummis gab es fast an jeder Ecke. Mit Mickey Maus, Autos, Playboy-Models und Hollywoodstars. Ihre Berge schmückten die obersten Plätze und Regale aller Marktstände und Kioske und kosteten 3 Rubel pro Stück, bei einem Durchschnittverdienst von ca.120 Rubel im Monat. Schrill, teuer und dennoch gefragt.

Die Meisten von uns besaßen ganze Bildersammlungen von fremden Autos, waren immer auf der Suche nach neuen Stickern und tauschten alles, was man bereits doppelt und dreifach hatte, gegen andere Kaugummis oder schwarzweiße Fotos von Arnold Schwarzenegger und Sylvester Stallone. Diese Bilder zeigten uns, dass es (zumindest was die Autos betraf), noch eine andere Welt außer der Sowjetunion im Universum gab. Eine andere Welt mit anderen Farben und anderen Worten. So traten Opel, Honda, Alpha Romeo und Ford nach und nach in unseren Wortschatz und unser Provinzleben. Der Traum, ein ausländisches Auto irgendwann mal auf den Straßen unserer Bergbaustadt live zu sehen, blieb für uns jedoch nach wie vor unerreichbar. Das Ganze änderte sich augenblicklich, als die Sowjetunion im August 1991 plötzlich zusammenbrach…

[center]XXX[/center]

Eines Tages sahen die Anwohner unserer Plattenbausiedlung einen blauen Wagen vor unserem Hochhaus stehen. Obwohl der Wagen nicht besonders groß war, fiel er dennoch sofort auf. Seine Form, seine Farbe, seine fremde Herkunft und seine daher ungewöhnliche Ausstrahlung, alles an diesem Auto wirkte irgendwie anders: erhaben, majestätisch und imposant. Die Haube des Autos krönte ein rundes Abzeichen mit dem Markenlogo des Herstellers.

- BMW - las jemand von uns laut vor.
Somit stand für uns fest. Das ungewöhnliche Auto stammte aus Deutschland. Wir - Kinder und Erwachsene -, sammelten uns um das Auto herum und rätselten lautstark, zu wem dieser fremde Eindringling gehören konnte. Auf unserem Hof parkten sehr viele Autos: Grüne Ladas, blaue Nivas, knallrote Schigulis, orangefarbene Saporoschetz oder gelbe Moskwitschs. Manche gehörten den Bewohnern selbst, von denen es in unserem Hochhaus nur eine Handvoll Autobesitzer gab. Manche wurden nur zum Besuch abgestellt. Wie etwa ein weißer Wolga - der bisher unumstrittene König auf unserem Parkplatz und unerreichbarer Traum aller sowjetischer Automobilisten.

Der weiße Wolga gehörte einem jungen Mann, (ich glaube mich schwach zu erinnern, dass er Kaukasier war, also zu jener Volksgruppe gehörte, der man in Russland traditionell großen Reichtum und Geld zuschreibt), der hier regelmäßig eine seiner zahlreichen Geliebten besuchte. Für Sowjetbürger bedeutete der Besitz eines Wolga-Wagens damals dasselbe, wie ein Mercedes für einen Mittelständler in Deutschland.

Der Wolga oder auch GAZ 24 (seine offizielle Bezeichnung) - war teuer, extrem schön und neben dem Tschaika - dem staatlichen Luxusstraßenkreuzer der sowjetischen Generalsekretäre und Minister, auch der einzige Wagen der Limousine-Klasse, den man als Normalbürger in der UdSSR kaufen konnte oder durfte.

Da der Preis des Elite-Wagens und sein Spritverbrauch zu hoch waren, blieb der Wolga meistens ein Taxi oder ein Auto der Behörden. Nur wenige Privatpersonen konnten sich ein Auto dieser Klasse überhaupt erlauben oder leisten.

In nur einem Bruchteil einer Sekunde vertrieb der blaue BMW des geheimnisvollen Unbekannten das Auto des Kaukasiers von unserer Top-Liste der Traumwünsche. Vor allem, wenn beide Wagen wie jetzt, dicht nebeneinander geparkt standen, trat die optische Überlegenheit des „Deutschen“ deutlich hervor. Der Wolga, den wir bis jetzt für das eleganteste Auto der russisch-sowjetischen Autoindustrie hielten, wirkte bei einem direkten Vergleich mit dem BMW irgendwie schwerer, primitiver und unbeweglicher. Erstaunlicherweise löste das, bei sonst so aggressiv patriotischen Russen, dieses Mal keinen Groll aus. Alle bewunderten das Auto aus Deutschland und warteten, bis sein Besitzer sich endlich zeigen würde.

Schon bald stand der Name des Glücklichen ebenfalls fest. Dank der Gerüchteküche und neugierigen Omas. Das Wunderauto gehörte Grischka, einem jungen Mann aus unserem Viertel, der hier ebenfalls eine Freundin hatte. Grischka, eigentlich Grigori, wohnte einige Häuser weiter. Er hatte das Glück, mit Anfang zwanzig eine eigene und dazu noch meist sturmfreie Bude zu haben, die er seiner kurz vorher verstorbenen Großmutter und Veteranin des Großen Vaterländischen Krieges zu verdanken hatte, die ihre Wohnung dem einzigen Enkel vor ihrem Ableben vermacht hat.

Offiziell war Grischka nirgendwo beschäftigt. Auch wusste niemand, was er eigentlich ursprünglich von Beruf war. Jemand aus seiner Sippe musste einmal ein Techtelmechtel mit einem Wanderzigeuner oder einer Zigeunerin gehabt haben, was sich in der vierten Generation bei ihm optisch bemerkbar machte. Trotz seiner beiden russischen Eltern sah er sehr dunkel und südländisch aus. Meistens erschien er mit einer Zigarette im Mund vor unserem Haus und wartete in seiner schwarzen Adidas-Sporthose und seinem kurzarmigen Telnjaschka- (einem gestreiften T-Shirt der russischen Marine, wobei niemand von uns sich sicher war, ob Grischka überhaupt in der Armee oder bei der Flotte gedient hatte), bis seine derzeitige Freundin rauskam.

Alles was man von ihm wusste, war nur, dass er regelmäßig nach Polen fuhr, wo er sein Auto mit billiger Kosmetik, Damenstrümpfen, Parfüms, Büstenhaltern, Reizwäsche, Kleidung und Damenschuhen bis oben vollstopfte, um sie später auf dem örtlichen Markt zu Wucherpreisen weiter „an den Mann“ zu bringen. Zu Zeiten des Sozialismus fand man seine Tätigkeit im „Strafkodes der Sowjetunion“ unter dem Artikel Spekulation wieder. So etwas galt als verächtlich und höchst strafbar.

In den Wirren der neunen Zeit bekam seine Arbeit einen anderen Namen, der jetzt viel würdiger und seriöser als früher klang: Er war ein Geschäftsmann und machte Business. Nun wurde er von niemandem mehr verachtet. Eher im Gegenteil. Ganz Russland war hungrig und durstig nach ausländischen Artikeln und Produkten. Unsere Stadt blieb dabei keine Ausnahme.
Es war sowieso eine Zeit des Umbruchs. Das alte Leben wurde zerstört. Das neue noch gar nicht aufgebaut. Und wie es künftig in Russland aussehen sollte, wusste auch niemand im Land. Dazwischen schwammen die Schicksale der einzelnen Menschen. Einige wurden dabei mächtig und reich. Aber genau so viele arm oder noch schlimmer, sie kamen um. Erst später, als ich bereits in Deutschland lebte, wurde mir bewusst, dass ich damals Zeuge eines Prozesses gewesen war, den man in den Geschichtsbüchern sonst unter dem Begriff Revolution findet. Nur dass sie damals ohne Kanonenschuss und Kreuzer Aurora stattfand. Alles was man uns damals in der Schule beibrachte, verlor plötzlich seine Gültigkeit. Alte Werte galten als unpopulär und rückständig. Materialismus dagegen als modern und angesagt.

Eine Oma über die Straße zu bringen, für sie einzukaufen oder im Haushalt zu helfen, war doof und zeitverschwenderisch. Eine Pflegefirma zu gründen, die sich um die Alten für einen dicken Batzen Geld kümmern würde, das sie meistens nicht hatten, dagegen klug und modern.
Unsere Lehrer, die zu Sowjetzeiten für schwache Schüler nach Schulschluss kostenlose Nachhilfe gaben und dabei auf ihre Freizeit für uns verzichteten, wollten plötzlich dafür in Dollars und Deutscher Mark bezahlt werden und streikten wochenlang vor den Fenstern der Stadtverwaltung, während wir Kinder uns über die schulfreie Zeit und den Unterrichtausfall freuten.

Ich erinnere mich heute noch an die naiven und euphorischen Gesichter der Jugendlichen und Kinder (von fünf bis sechzehn, alles dabei), die in Scharen auf dem Prospekt des Sieges der Revolution mit Wasserflaschen, Shampoo und Schwämmen bereit standen, während ihr Land kollabierte und zusammenbrach. Sobald die Ampeln auf Rot standen, wuschen sie eifrig die Scheiben der Autos, wofür man ihnen zwei oder dreihundert Rubel als Bezahlung gab. Sie fühlten sich stolz, erwachsen und wie kleine Kapitalisten. Der Wunsch nach dem großen Geld machte alle verrückt. Wir ließen unsere berühmte russische Seele mit ihren Idealen und moralischen Werten für ein bisschen Kleingeld kaufen und vergewaltigen. Die ausländischen Waren, grell und bunt, machten uns alle blind und stumm, geldgierig und marktwirtschaftbegeistert. Wir lösten uns bedenkenlos von allem Alten, (ob gut oder schlecht) ab, ohne zu merken, dass wir uns dabei innerlich zerstörten. Wir waren dabei, ein Stück slawischer Identität, etwas was unsere Nation von allen anderen Völkern der Welt hervorhob, für einen dessen nicht würdigen Preis zu verlieren und aufzugeben. Aber die Anziehungskraft dieser neunen Welt und des Geldes und all dessen, was man damit kaufen konnte, war stärker als alles andere, was man uns bis jetzt an der Schule gelehrt hatte. Wir fühlten uns von allem westlichen angezogen und begeistert. Genau wie jetzt, von dem Auto aus Deutschland.

[center]XXX[/center]

Für die nächsten fünf Tage wurden Grischka und sein kleiner BMW zu dem wichtigsten Ereignis im Leben unseres Viertels. Er wurde auf Schritt und Tritt von einer Schlange von Bewunderern begleitet.

Alte Herren luden ihn auf ein Domino oder Kartenspiel ein, was bis jetzt nur das Privileg aller erwachsenen Männer ab fünfzig war, die auf Grund ihres Alters und ihrer Lebenserfahrung es verdienten, ihre Ansichten und Meinungen über das Leben am Spieltisch zu äußern und darüber zu diskutieren. Anders als ein Grünschnabel, der gerade knapp zwanzig war.
Frauen verließen kaum die Plätze vor ihren Fenstern und Balkons und blickten das Auto vor dem Eingang mit unverhülltem Neid und Groll an. Dabei schwärmten sie einstimmig, was für ein toller und fürsorglicher Ehemann Grischka künftig abgeben würde und welches Glück seine Angebetete hatte, jemanden wie ihn als Freund zu haben. Für sie stand fest: Ein Mann wie er lässt seiner Familie an nichts fehlen. Anders als ihre elenden Nichtsnutze mit Bierbauch zu Hause.

Dabei vergaßen sie allesamt, dass sie noch vor kurzem selbst alle über den Teufel Grischka gelästert hatten, weil er ein unverbesserlicher Schürzenjäger war und nach seinen Affären eine lange Reihe von schwangeren Mädchen und Frauen hinterließ, die die Früchte ihrer Schwäche und ihrer Leidenschaft für ihn, bei einem stadtbekannten Gynäkologen heimlich abtrieben, was trotzdem ein offenes Geheimnis war. Unvermeidbar, wenn man bedenkt, dass man es hier mit der Provinz und einer ziemlich kleinen Stadt zu tun hat.

Trotzdem fand der Lüstling immer noch genug Opfer in der Stadt, wenn er leicht angetrunken, den Mädchen die mit ihm ausgehen würden, taiwanische Lippenstifte und Strümpfe aus Polen als Geschenk versprach. All das ließ das Wunderauto aus Deutschland augenblicklich vergessen.
Die Männer behandelten Grischka mit einem gemischten Gefühl aus verletztem Stolz, starker Neugier, leichter Kränkung und kühler, beherrschter Bewunderung, die letztendlich ihren Neid und Frust auf den „Glückspilz“ nur noch verstärkten. Ansonsten rauchten sie eine nach der anderen und führten mit ihm lange Gespräche, deren Inhalt fast immer derselbe blieb. Sie äußerten begeistert (und meist mit nicht druckreifen Worten), was für tolle Autos doch der Fritzchen macht, fragten Grischka nach der PS-Stärke und dem Spritverbrauch des Wagens und konnten dabei niemals auslassen, dass man den Deutschen nicht destotrotz 1945 in Berlin mächtig den Auspuff versohlt hatte.

Wir Kinder hatten ebenfalls Spaß und Gefallen an dem Auto. Das Auto aus Deutschland hatte eine Besonderheit, die wir bei den meisten sowjetischen Wagen in der Regel vermissten. Seine Farbe war glänzend und nicht matt, wie die vom Schiguli oder vom Wolga. Man konnte darin deutlich sein eigenes Spiegelbild sehen. Auch die Farbe des Autos stach ins Auge. Ein angenehmes Dunkelblau. So schön, wie eine griechische Nacht auf dem offenen Meer. Auch war Grischka gütig genug, uns Kinder ein paar Minuten im Innenraum am Steuer sitzen zu lassen. Die Autositze waren aus Leder und trugen ungewöhnliche und fremde Gerüche eines Landes, das uns bis jetzt nur als ein dunkler Fleck mitten im Europa, auf der geografischen Weltkarte bekannt war. Der deutsche Wagen besaß noch andere Vorteile außer der Optik. Wenn Grischka das Auto gestartet hatte, blieb die gewöhnliche schwarze Wolke im Auspuff aus. Der deutsche BMW hatte ein werkseingebauter Katalysator. Erstaunlich war auch wie geräuschlos sein Motor und sein Antrieb arbeiteten. Dagegen stank und klang ein russischer Wagen schon wie ein Panzer beim Militär.

Sein BMW war uns eine willkommene Attraktion. Wir standen vor dem Auto und konnten nicht genug von unseren Minen und Gesichtern in seiner spiegelglatten Fläche bekommen. Jemand schnitt Grimassen. Jemand betrachtete seine Nase oder winkte mit der Hand. Worauf der Grischka aber immer darauf achtete, dass niemand sein Auto mit den Fingern anfasste. Er wollte nicht, dass sein Schätzchen auch nur etwas von seinem ungewöhnlichen Glanz verliere.
– Macht mir die Karre nicht dreckig, ihr Strolche! - schimpfte er dabei.
Aber ansonsten hatte er nichts dagegen, wenn man sein Auto bewunderte und anstarrte.
Wir verdanken es nur seinem jungen Alter und vielleicht seinem noch etwas mangelndem Geschäftssinn, dass er fürs Gaffen und Gucken damals keine Bezahlung verlangte. Wäre das doch der Fall gewesen, hätte er mit Sicherheit die Anschaffungskosten für sein Auto binnen kürzester Zeit wieder zusammen gehabt. Aber Grischka wollte kein Geld. Er wollte Ruhm und gesellschaftliche Anerkennung.

Wenn er aus seinem BMW ausstieg und zu der Geliebten die Treppenstufen raufging, stets mit einer dunklen Sonnenbrille auf der Nase und einer goldenen Kette über dem schwarzen Hemd sah er dabei fast wie ein italienischer Mafioso oder ein indischer Bollywood- Star aus. Jedenfalls sehr cool und sehr schön. Er konnte jetzt jedes Mädchen in der Stadt haben. Man bewunderte und beneidete ihn. Aber noch mehr sein Auto aus der BRD. Er genoss seine plötzliche Popularität und erzählte jedem, der Zeit hatte und bereit war, ihm zu hören von seinen Reiseerlebnissen durch Deutschland, die sich in Kurzform wie folgt beschreiben ließen: Strenge Gesetzte, farblose Frauen, aber sehr gutes Essen, Autos und Straßen.

Später, als es in Deutschland und weltweit das Internet gab, habe ich gezielt nach Grischas Auto von damals im Netz gesucht…und es auch gefunden. Inzwischen lebte ich schon eine Weile in Deutschland und wusste dass die geheimnisvolle Abkürzung BMW offiziell für Bayerische Motoren Werke steht und unter Deutschen aus Spaß auch liebevoll „Bringt mich zur Werkstatt“ genannt wird. Auch habe ich höchstpersönlich das Autowerk im bayerischen München bestaunt, wobei ich von dem meterhohen Turm der Konzernverwaltung viel mehr angetan war. Das Auto selbst erschien mir nicht so toll. Das Modell, das uns damals die Ruhe und die Sinne raubte, war eine Sportausführung, der Zwei-Türer BMW E30. Verglichen mit den Autos von heute wirkte der Wagen nun ziemlich alt und überholt. Aber für mein Auge und jetzt, nicht damals in Russland.

Das Leben ging weiter. Wir kriegten uns langsam ein. Nach einer Woche verlor selbst das Auto aus Deutschland irgendwann mal seine Frische und seinen Reiz. Wir fingen plötzlich an, an andere Dinge als an BMW zu denken. Zum Beispiel daran, dass unsere einfallslose Regierung wieder eine neue Währungsreform plante. Wir hielten den Wagen von Grischka bereits für abgeschrieben, da schaffte es das Auto aus Deutschland, uns doch noch ein zweites Mal zu überraschen…

[center]XXX[/center]

Als wir, Kinder und Erwachsene, abends nach Hause kamen, sahen wir plötzlich einen anderen Wagen vor unserem Haus stehen. Es war dieselbe Marke, dieselbe Farbe, aber trotzdem nicht derselbe Wagen. Dieser da sah irgendwie anders aus, auch wenn er optisch seinem Vorgänger wie ein Zwilling glich. Trotzdem war es viel greller und saftiger, als Grischkas erstes Auto.
Dass es sein Auto war, daran hatte niemand von uns einen Zweifel. Auch die anderen Bewohner des Hauses staunten nicht schlecht. Ein zweites Auto, dazu neu, dazu innerhalb nur einer Woche. So viel Glück und Erfolg wollte und konnte doch keiner von uns, sozialistisch geprägten Bürgern (bettelarm aber dafür alle gleich) dem frischgebackenen Geschäftsmann Grischka gönnen. Das neue Auto sorgte für Ärger und Zoff in fast jeder Familie. Nur meine Mutter blieb von dem Auto aus Deutschland unbeeindruckt. Andere Frauen warfen ihren Männern böse Blicke voller Vorwürfe und Verachtung. Ihre Männer rauchten nervös und schimpften deutlich öfter als sonst, wobei sonst, schon zu oft und zu viel war. Wir Kinder hielten uns still. Nun traute sich keiner mehr zu, Grischkas Auto offen zu loben oder zu bewundern.

Die Lage spitzte sich noch mehr zu und drohte langsam zu eskalieren. Man beschloss daher das Geheimnis zu lüften und Grischka selbst zur Rede zu stellen. Die Gelegenheit bot sich, als Grischka, wie immer gegen Abend, die Wohnung seiner Frau verließ und zum Auto ging. Man lud ihn ein, eine Runde Dummkopf zu spielen, (ein russisches Kartenspiel das dem deutschen Skat sehr ähnlich ist), bevor es draußen dunkel wurde. Grischka hatte nichts dagegen und willigte ein.

Während er, vertieft ins Spiel, seine Karten betrachtete, stellte einer der Ältesten ihm diese spannende Fall-Frage:
- Hast du im Moment eine Glückssträhne Söhnchen oder was? Das erste Auto war schon ein echter Hingucker. Und dieser da…Hier sind einige Menschen neidisch und platt. Wie kommst du eigentlich zu so viel Geld? Verkaufst du Drogen oder bringst du Menschen um?
Der Möchte-Gern-Geschäftsmann hob den Kopf . Es war nicht die Karte, die Grischka gleich danach, mit einem Triumph in den Augen, auf den Tisch schmiss und damit das Spiel für sich gewann, sondern das, was er in dem Moment nebenbei fallen ließ, was mich bis heute wundert und auch damals sprachlos machte.
- Aber ich habe kein neues Auto, Leute! Wer verbreitet nur diesen Unsinn? Mein Wagen war nach der Rückkehr aus Deutschland noch etwas staubig und dreckig. Eure Kinder haben es nur gewaschen….

Ende
Roman Dell
21.02.2013- 02.03.2013
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Beitrag von zuzu »

Hier eine neue Geschichte:

In der Hauswerkstatt meines Vaters hängt ein großes Kutschenrad. Es ist alt aber keineswegs wert- oder bedeutungslos. Dieses Rad ist ein besonderes Rad. Vor dreihundert Jahren wanderten meine Vorfahren nach Russland aus und dieses Kutschenrad hatte sie damals dahin gebracht. Als bereits fest stand, dass unsere Familie nach Deutschland auswandert, nahm mein Vater dieses Rad auch mit. Er wollte sich auf keinen Fall von ihm trennen. Erst später wurde mir bewusst, warum dieses alte Rad ihm so viel bedeutet hatte. Dieser Gegenstand hat etwas Symbolisches und Monumentales. Er ist ein Teil und Zeitzeuge der deutschen Geschichte. Etwas, das den Weg und das Schicksal der Russlanddeutschen bildlich zeigt. Ein Rad der Zeit, mit dem der Kreis der Geschichte sich wieder schließt.


[center]Das Rad der Zeit


(Erzählung)[/center]

Zwei Mal im Jahr holte unser Vater sein hellblaues Schiguli aus der Garage und machte sich für ein paar Tage auf den Weg. Seine Reise führte ihn in die sonnige Kalmykien - eine Teilrepublik in der ehemaligen Sowjetunion. Dort besuchte er seine Eltern, die in einem kleinen Dorf lebten und einen großen Bauernhof zu versorgen hatten. Er traf da alte Freunde oder ging zur Jagd und kehrte Ende der Woche ausgeruht und mit einem voll beladenem Wagen nach Schachty zurück.

Zu Hause wurde er von uns Kindern schon sehnsüchtig erwartet, denn Papa brachte immer tolle Geschenke mit. Vor allem jene, die man essen konnte. Sein Auto erinnerte mich an eine träge, orientalische Karawane, die in unserem Haus Halt machte und ihre sagenumwobenen Schätze mit uns teilte. Mit Speichel im Mund sah ich mir die schmackhaften Geschenke aus dem Dorf an: dicke Gläser mit eingelegten Tomaten und Wassermelonen, geräucherten Fisch und Saiga-Fleisch, frische Eier, hausgemachten Schmand, Butter, Quark und noch viele andere Leckereien, die man in den Regalen der sowjetischen Läden schon seit Jahren vermisste und jetzt, hier, in dem Kofferraum unseres Vaters, liebevoll übereinander gestapelt sah.
Insbesondere freute ich mich über die dickflüssigen, sowjetischen Karamellbonbons und die großen Brotlaibe, aus der örtlichen Backwarenfabrik, in der (das bildete ich mir damals ein) ausschließlich Frauen gearbeitet haben mussten, weil dieses Brot immer nach Damenparfüm roch. Alle Vorräte kamen dann in die strenge Obhut meiner Mutter, die für ihre sparsame Aufteilung sorgte und zwar so lange, bis unser Vater wieder nach Kalmykien fuhr.
In diesem Herbst kam der Wagen des Vaters jedoch halbvoll nach Hause. Da, wo sonst immer die Säcke und die Wickeltücher mit dem Fleisch, den Kartoffeln oder den Äpfeln lagen, sah ich nun ein staubiges Kutschenrad. Das Rad sah sehr alt und abgenutzt aus und war so groß, wie das Handrad eines Flussdampfschiffs.

Meine Mutter war von dieser sperrigen „Überraschung“ alles andere als begeistert. Völlig zu Recht, wie ich damals fand. Das Rad nahm viel zu viel Platz im Auto weg. Platz, den ihr Gatte viel sinnvoller hätte nutzen können. Warum unser Vater, der schon immer der bodenständigste Mensch von uns allen war, bei diesem Gegenstand plötzlich so sentimental geworden war, dass er ein Teil der Vorräte zu Gunsten eines schrottreifen Kutschenrads geopfert hatte, das blieb mir damals ein Rätsel. Was hatte er mit diesem Schrott überhaupt vor?

Uns wären die Vorräte auch lieber gewesen. Noch mehr Fleisch, Eier, Tomaten oder Brot. So viele Lebensmittel wie es nur ging. Die Sowjetunion erlebte ihre letzten Jahre. Das ganze Land steckte in Warteschlangen vor den Kaufhäusern, in denen es ab und zu etwas gab, egal was gerade im Angebot war. Die sowjetischen Bürger brauchten alles und kauften alles auf Vorrat.
Alle Frauen träumten von Chanel-Parfüm, einem Nerzmantel oder österreichischen Stiefeln. Die Männer tranken Wodka und schimpften auf den Buckligen, - das war der Spitzname von Gorbatschow denn ein Teil in seinem Namen bedeutet auf Russisch tatsächlich Buckel - den sie für diesen erbärmlichen Zustand in der Sowjetunion verantwortlich machten. Auch wenn die Lebensmittelmarken, Talons, inzwischen wieder abgeschafft worden waren, blieben die Regale der Läden trotzdem leer. Ob Essen, Kleidung oder Hygieneartikel, die meisten Waren gab’s nur auf dem Schwarzmarkt und dieser war teuer. Sehr, sehr teuer.

Ein Kilo Tomaten kostete damals 3 -5 Rubel, bei einem Arbeitslohn von 120 Rubeln im Monat, der in der Sowjetunion überall als Maß galt. Aber eine Familie lebte doch nicht nur von Tomaten allein. Sie brauchte Fleisch, Butter oder Zucker. All diese Dinge, die jetzt an der Stelle des Rades im Kofferraum hätten liegen können. Unsere Mutter brachte ihren Unmut deutlich zum Ausdruck. Sie wollte das „Überraschungsgeschenk“ keine Sekunde länger in ihrem Haus dulden.

Wir erlebten einen klassischen Fall von „ Kinder, geht spielen, Mama muss mit Papa etwas besprechen“, in dem sie ihn aufforderte, diesen Mist sofort in den Müll zu schmeißen. Was danach folgte, bekamen meine Schwester und ich nicht mehr mit, aber am Ende setzte unser Vater sich wie immer durch. Er behielt das Rad und brachte es sogar mit ins Haus.
Damit war der Ärger mit dem Kutschenrad noch nicht vorbei. An einem Sonntag wurden wir alle von einem aufdringlichen Geräusch aus unserem Mittagsschlaf gerissen, der allem Anschein nach aus dem Schlafzimmer unserer Eltern kam. Es hörte sich wie eine schwere Industriebohrmaschine an, die durch die Wände unserer Wohnung durchzudringen versuchte. Mutter, Schwester und ich rannten sofort ins Zimmer. Dort sahen wir Papa auf einem Stuhl. Er war gerade dabei einen riesigen Eisenhaken in die Wand zu schlagen…

-Nun sag mir, Sascha, wozu das gut ist?- wollte unsere Mutter bestürzt von ihm wissen.
- Na für das Rad, wozu denn sonst - antwortete Vater widerwillig. Er witterte bereits einen großen Streit.
- Für das Rad?- fragte Mutter leicht verwirrt zurück.
- Für das Rad!- sagte Vater etwas vorsichtig
- Bist du verrückt? Das meinst du doch nicht ernst? Dieser Schrott, mitten auf der Wand, in unserem Schlafzimmer? - Mama kochte vor Wut.
- Genau das habe ich vor - antworte Papa seelenruhig.
- Das ist geschmacklos! - sagte Mama.- Absolut geschmacklos! Du machst aus dem Schlafzimmer einen Pferdestall!

Ihre Stimme klang richtig verzweifelt.

- Erzähl keinen Quatsch! Das ist Kunst- erwiderte Papa leise und ebenfalls leicht aufbrausend.- Ich habe bei unserer Dienstreise nach Westdeutschland im letzten Jahr schon viele Kutschenräder in den Häusern der Deutschen gesehen. Auch Spaten, Hacken und andere Arbeitsgeräte und Gegenstände.
Das gilt als modern und ist dortzulande völlig normal.
- Hierzulande aber nicht! Ganz schön schräg, dieser Geschmack der Deutschen, finde ich.- sagte sie.- Musst du denn alles von ihnen bei uns nachahmen?- ihr Ton machte Papa deutlich, dass sie an dieser Stelle einen Kompromiss von ihm erwartete.
- Geschmäcker sind nun mal verschieden. -Der Vater ging nicht darauf ein.- Jetzt mach keinen Streit und finde dich einfach damit ab!
- Niemals!- griff Mutter zu ihrem Lieblingskampfmittel.- Eines sage ich dir jetzt schon! Dieses Rad geht nur über meine Leiche!
- Das höre ich von dir nicht zum ersten Mal!- meinte Vater unbeeindruckt… und versenkte den Eisenhaken noch tiefer in die Wand.

Daraufhin schloss Mutter die Tür hinter sich laut zu. Unsere Eltern hatten wieder Streit…

XXX


Wenn Papa und Mama Streit miteinander hatten, gingen sie sehr unterschiedlich damit um. Meine Mutter beruhigte sich am liebsten mit dem Lesen von Romanen. Unser Vater blieb dagegen seinem Handwerk treu. Dann schloss er sich für ein paar Stunden in seiner Garage ein und bastelte dort an seinem Auto. Wir Kinder hassten diesen Kriegszustand.
Spontan war ich immer auf der Seite meiner Mutter. Und auch heute fand ich, dass Papa dieses Mal ziemlich über die Stränge schlug. Ein staubiges Kutschenrad hatte im Schlafzimmer meiner Eltern nun wirklich nichts zu suchen. Es war einfach hässlich und geschmacklos. Dass man in Deutschland solche Dinge an die Wand im Wohnzimmer hängte und diese sogar für Kunst hielt, war für mich damals unbegreiflich. Die Russen besitzen einen anderen Sinn für Schönheit. Sie mögen keine schlichten und farblosen Sachen und lieben alles was ihren Augen gut tut und die Seele erfreut. Auch meine Mutter.

Sie hätte sicher nichts gegen ein klassisches Renaissance-Bild, eine vergoldete Barockuhr oder eine antike Statue im Schlafzimmer einzuwenden gehabt, solche günstige Kunstkopien gab es im Handel mehr als genug, aber ein schrottreifes Kutschenrad entsprach nicht der russischen Vorstellung von Schönheit. Weder damals noch heute. In keinster Weise. Mamas Standpunkt war gut zu verstehen.

An diesem Abend fand ich Papa in seinem Schlafzimmer und nicht in der Garage, wo er sonst immer seinen Frust in Arbeit erstickte. Er blätterte gerade in einer Zeitung, der frischen Ausgabe von „Neues Leben“- einem Wochenblatt der Russlanddeutschen, das er seit dem Beginn der Perestroika in der Sowjetunion abonniert hatte.
Ich setzte mich zu ihm und sah, dass er immer noch gekränkt war. Das war Mama übrigens auch. Dieser Streit musste beendet werden.

- Du hängst ziemlich stark an diesem Rad, nicht wahr, Papa?- fragte ich einfach so dahin.

Er nickte stumm.

- Wo hast du dieses Ding überhaupt her?- fragte ich erneut, um ihn in ein Gespräch zu verwickeln.

- Ich habe es auf dem Dachboden in Großvaters Haus gefunden - sagte er still.- Nicht in dem Haus, wo er jetzt wohnt. Es war ein anderes Haus. Ein ganz anderes Haus.
- Was ist das für ein Haus?- stellte ich neugierig eine weitere Frage.
- Eine Mühle in einem anderen Dorf. Es hat einmal unserer Familie gehört.
- Und dann?

Die Sache mit dem Rad wurde langsam interessanter.

- Dann kam die Oktoberrevolution und jetzt gehört sie dem Volk.- antwortete Vater und schwieg wieder.
- Und dieses Rad? Was ist so besonders daran?- Ich wurde aus seiner Erzählung immer noch nicht schlau.
- Mit diesem Rad kamen unsere Vorfahren damals nach Russland, erklärte er und vertiefte sich wieder in die Zeitung.
- Tatsächlich? Wann war das?- ich traute meinen Ohren nicht.
- Im 17. Jahrhundert, als Katharina die Große, eine deutsche Prinzessin auf dem russischen Thron, tausende Ausländer ins russische Reich holte. So kamen die Deutschen damals auch nach Russland.
- Warum? Hatten sie zu Hause nichts Besseres zu tun?- fragte ich etwas misstrauisch.
- Weil es den Deutschen in Deutschland damals sehr schlecht ging. So ähnlich, wie uns jetzt, erklärte Vater ziemlich geduldig. Es gab Krieg und zahlreiche Hungersnöte. Russland dagegen war ein mächtiges Imperium und sehr, sehr reich. Aber sie brauchten damals dringend fremde Fachleute, damit ihr Reich weiterhin stark und mächtig blieb. Dafür versprach die Zarin uns, Deutschen, viel Geld, Religionsfreiheit und Steuernachlässe für hundert Jahre. All das, was es damals in Deutschland nicht gab. Ein gutes Angebot, das unsere Vorfahren nicht ausschlagen konnten. Sie gingen nach Russland und ließen sich hier nieder, heiraten und lebten unter sich. Generation für Generation. Und eines Tages war ich ebenfalls auf der Welt, traf deine russische Mama, verliebte mich und gründete meine eigene Familie. Du hast das Blut zwei großer Nationen in dir. – beendete er voller Pathos seine Geschichte.
- Woher stammten sie, meine deutschen Vorfahren?- fragte ich ziemlich verwirrt. Mein Kopf war voll und nicht fähig noch mehr aufzunehmen. Es waren zu viele „Enthüllungen“ auf ein Mal.
- Ich glaube, sie kamen aus dem Schwarzwald.- stillte er meine Neugier. –Das ist irgendwo in Baden-Württemberg, in Westdeutschland.
- Dann ist dieses dreckige Kutschenrad fast dreihundert Jahre alt?- fragte ich erstaunt. Es war das Rad mit dem sie nach Deutschland kamen???

Mein Vater schenkte mir ein müdes Lächeln.

- Das versuche ich euch doch die ganze Zeit zu erklären.

Sein Gesicht hellte sich langsam auf. Es war nicht mehr böse oder trübsinnig.



XXX

Von nun an betrachtete ich die Sache mit dem Rad aus einer ganz anderen Perspektive. Dieses Rad war kein Schrott mehr, sondern ein Gegenstand von einem unschätzbaren Wert, von seinem historischen Wert ganz abgesehen. Ich war stolz darauf, eine dermaßen wertvolle Reliquie zu Hause zu besitzen, die man sonst nur in der Glasvitrine eines Heimatmuseums und unter der strengen Aufsicht eines Wächters sah.

Ich war bereits schon einmal in einem solchen Museum in Schachty gewesen und hatte dort ein Dutzend Exponate aus dem Alltag der Don-Kosaken bewundert: die krummen Säbel, rote Leinenhemden, Geschirr und Arbeitsgeräte. Die meisten Sachen stammten aus dem Jahr 1905. Unser Rad war deutlich älter. Viel, viel älter.

Die ganze Woche darauf beschäftigte ich mich täglich mit dem alten Rad und konnte nicht fassen, dass dieser „Schrott“, den ich am Anfang für eine nutzlose Last gehalten hatte, fast drei hundert Jahre alt war und hier, in unserer Wohnung, in greifbarer Nähe lag, anstatt unter einer Glaskuppel in einem Museum zu ruhen.

Ich fasste seine schroffe und dunkle Oberfläche mit den Fingerspitzen an und stellte mir jedes Mal vor, wie die raue Hand eines Handwerkers dasselbe Rad vor drei hundert Jahren berührt hatte. Damals in Deutschland, bevor meine Vorfahren ihre Reise nach Russland antraten. Hochgewachsene Männer in kurzen Kniehosen und grünen Lederwesten und ihre üppigen Frauen in einem klassischen Dirndl mit goldblonden Haaren und blasser Haut. So stellte man sich doch die Deutschen vor. Das war unglaublich und faszinierend.

Dieses Kutschenrad brachte sie ihrem Traumziel Russland näher. Ich stellte mir einen vierrädrigen Pferdewagen vor, der über die Straßen der deutschen Fürstentümer rollte. Eine Odyssee, die in Katharinas Kaiserreich, eines Tages, ihr Ende fand. Der Anblick der vergoldeten Kuppeln der orthodoxen Kirchen muss bei meinen Ahnen damals ähnliche Begeisterung ausgelöst haben, wie die Umrisse der Freiheitsstaute bei einem irischen Immigranten. Und unser Rad da, war stummer Zeuge dieses Momentes gewesen.
Inzwischen wurde das Rad im Schlafzimmer von allen Familienmitgliedern akzeptiert, auch wenn es unseren ästhetischen Sinn weiterhin störte. Man gab sich einfach damit ab und gönnte dem Vater seinen seltsamen Willen.

Dafür, dass unser Vater so besessen und fasziniert von der historischen Bedeutung des Rades war, ging er mit dem Rad selbst wenig zimperlich um. Er nahm unsere Kritik an dessen Optik wörtlich und löste dieses Problem auf seine Art… Er ließ das Rad…schleifen und lackieren.
Nachdem ich stundenlang Zeuge dieses barbarischen Aktes gewesen war und zugesehen hatte, wie die Geschichte von mehreren Generationen unter den Fingern meines Vaters buchstäblich verschwand, gewann sein Äußeres deutlich, aber seine Einzigartigkeit war dahin. Jetzt war das nur ein schönes, lackiertes Stück Holz im Schlafzimmer meiner Eltern. Drei hundert Jahre Geschichte ließen sich da weder spüren noch erkennen…


XXX

Als bereits fest stand, dass unsere Familie nach Deutschland auswandern würde, begann mein Vater einige wichtige Erinnerungsstücke durch seine Bekannten nach Deutschland zu verschicken. Das Kutschenrad gehörte ebenfalls dazu. Mein Vater wollte sich auf keinen Fall von ihm trennen. Er sah darin etwas Symbolisches und Monumentales. Etwas, das das Schicksal des deutschen Volkes in Russland am besten zeigte und darstellte. Dafür nahm er sämtliche Hürden in Kauf.

Das Kutschenrad musste deshalb drei tausend Kilometer in einem Bus der neuapostolischen Kirche zurücklegen, die sich damals auf einer Missionsreise in Russland befand, ehe es eines Tages in Hannover eintraf. Dort wurde es nach Gummersbach verfrachtet und ein halbes Jahr lang dort aufbewahrt, ehe wir selbst nach Deutschland kamen. Drei Monate später holte mein Vater es bei seinen Freunden ab. Glücklich und froh über das Wiedersehen.
Mit den Jahren, begann ich die Geschichte des Kutschenrads ebenfalls philosophisch zu sehen. Auch kann ich die Beweggründe meines Vaters damals jetzt sehr gut verstehen und nachvollziehen. Mir liegt genau so viel an diesem Rad. Es ist das Rad der Geschichte, ein Rad der Zeit und ein symbolischer Kreis der Russlanddeutschen.
Vor dreihundert Jahren wanderten meine Vorfahren nach Russland aus und dieses Kutschenrad hatte sie dahin gebracht.

Vor siebzehn Jahren haben ihre Nachfahren dasselbe gewagt und sind wieder zurück nach Deutschland gekommen. Und dieses Rad ist jetzt auch da. Die Geschichte hat sich wiederholt. Die Geschichte wiederholt sich immer. Wir sind nur Statisten in ihrer Laufbahn.
Heute hängt dieses Kutschenrad im Hause meines Vaters und sein Anblick erfüllt mich mit Schwermut und Nostalgie. Es kann nicht sprechen und dennoch hat es uns Menschen so viel zu sagen. Ein stummer Zeuge und ein treuer Kamerad. Es ist mein Bindeglied zwischen Vergangenheit und Zukunft. Meine persönliche Brücke zwischen heute und damals. Ein Stück wandelndes Leben und inzwischen… auch meine Geschichte.

Ende
Roman Dell

25.07.2013-31.07.2013
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Beitrag von Anthro »

Jetzt fehlt noch ein Foto von dem Kutschrad! :dafür:
Spontanität will gut überlegt sein.


www.liegeradfreunde-ruhr-lippe.de

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Beitrag von zuzu »

Etwas verspätet zwar, aber hier ist es:

[center]Bild[/center]
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Beitrag von zuzu »

Und hier eine neue Geschichte!

Eine Zeit lang glaubte ich naiv, dass Deutsche besondere Wünsche und Träume als andere Menschen, (zum Beispiel im Osten), haben. Daran war meine erste Begegnung mit Deutschen schuld. Die Bilder, die diese Menschen mir in Russland gezeigt haben, stellten ihre Heimat wie ein wahres Märchenland dar. Ein reiches Land in dem Kleidung und Essen im Überschuss gab und solche Dinge wie ein Auto, eigenes Haus und diverse Haushalts und Elektronikgeräte kein Luxus, sondern ein Alltag und Standard für alle und demnach auch nichts besonders war. Deswegen sollten die Deutschen bei mir nur vom etwas träumen, das jenseits ihres Alltagslebens existiert hat. Was das denn sein sollte, davon hatte ich keine Ahnung. Selbst als ich schon ein halbes Jahr im Schülerwohnheim gelebt hat. Erst die Weihnachtszeit sorgte bei mir endlich für Aufklärung. Ich saß im Heimleitungsbüro, trank Tee mit unserer Erzieherin und sie erzählte mir von ihrem deutschen Traum…


Ein deutscher Traum

Für M.E, die wir niemals vergessen werden, auch wenn sie nicht mehr unter uns ist.

( Erzählung)


Meine ersten Jahre in Deutschland verbrachte ich in einem kleinen Schülerwohnheim, im tiefsten Siegerland. Ich besuchte dort ein Fördergymnasium, das sich seit geraumer Zeit auf die Schüler mit Migrationshintergrund spezialisiert hatte und sogar Russisch und Polnisch als erste Fremdsprache im Abi anbot. Eine solche Einrichtung existierte im NRW kein zweites Mal. Es war unsere Chance. Damals gab es im Fernsehen noch keine heißen Debatten über erfolgreiche Integration, oder ob man als Einwanderer überhaupt Deutsch lernen sollte. Das verstand sich von allein. Schließlich waren wir alle hier und wollten auch hier bleiben. Ohne Sprache wäre unser Leben von Anfang an verpfuscht. Kein Beruf. Keine Zukunft. Keine Perspektive. Und wer lebt schon gerne in einem sozialen Ghetto und vom Hartz IV? Wir alle schmiedeten große Pläne. Deutschland sollte unsere besten Träume wahr werden und erfüllen. Also lernten wir Deutsch. Und wir waren sehr fleißig.

An guten Vorbildern mangelte es uns dabei auch nicht. Die anderen Internatsschüler, die bereits kurz vor dem Abi standen und vier oder fünf Jahre in Deutschland lebten, erschienen mir damals wie Olympische Götter. Erhaben und unerreichbar. Ihr Deutsch war fließend. Ihre Ausdrucksweise sicher. Jedes einzelne Wort korrekt und akzentfrei. Davon konnte ich bestenfalls nur träumen.

Auch optisch unterschieden sie sich kaum von ihren einheimischen Kollegen. Sie trugen dieselben Klamotten, liebten dieselben Filme und dieselbe Musik, wirkten und benahmen sich wie echte Deutsche. Vor allem Igor - der Liebling aller Lehrer und Mädchenschwarm innerhalb und außerhalb unseres Heimes und Gymnasiums.

Igor wurde von allen gefeiert. Auch wir Jungs mochten ihn, weil er mit jedem zurechtkam, gerne half und immer einen coolen Spruch auf Lager hatte. Egal was er tat, er blieb immer der Beste. Seine Nähe förderte meinen Ehrgeiz. Ich wollte genau so gut Deutsch sprechen wie er und die Bewunderung der Mädchen genießen.

Es war eine schöne und sehr schwere Zeit. Um Deutsch zu lernen, brauchte man im Prinzip nur Lust. Alles andere stand uns ohnehin zur Verfügung. Die Heimleitung unterstützte dieses Unternehmen mit allen Kräften. Für Schüler der zehnten Klasse waren die Hausaufgabenhilfe und ein zusätzlicher Sprachkurs Deutsch sogar eine vertragliche Pflicht. Alle anderen, Klasse elf bis dreizehn, durften freiwillig zum Hilfsunterricht kommen. Ein Dutzend Schüler nahm dieses Angebot regelmäßig wahr. Vor allem in der Prüfungs- oder Klausurzeit wurden die Hauspädagogen plötzlich sehr geachtet und begehrt. Es waren vier. Drei Männer und eine Frau. Zwei davon waren täglich da und teilten sich Früh- und Spätschichten, halfen uns mit der Schule und sahen zu, dass kein Unfug passierte.

Mit Unfug meinte man Alkohol trinken und Weibergeschichten, weshalb täglich um Mitternacht ein Kontrollrundgang auf der Etage stattfand. Weiber und Flaschen, die dabei auf dem Zimmer erwischt wurden, mussten den Raum auf der Stelle verlassen, was jedoch nicht hieß, dass sonst nicht geschmuggelt wurde. Wir waren jung. In diesem Alter sind die Gesetze nur dafür da, dass man sie so gut es geht übergeht.

Ansonsten ließ uns die Heimleitung in fast allen Bereichen freie Hand. Jeder gestaltete seine Freizeit nach eigenem Wunsch. Manch einer ging dafür in den Fitnessraum. Die Billardspieler und Leseratten (wie ich) bekamen auch einen Extraraum zugeteilt. Vor dem Heim gab es einen großen Sportplatz, der gleichzeitig auch als Schülerparkplatz genutzt wurde. Abends wurde dort Basketball gespielt. Am Wochenende fuhren zwei Oberstufenschüler nach Kreuztal, um 5 Filme aus der dortigen Videothek zu holen, die wir abends gemeinsam im Gruppenraum anschauten. Der erste Film, den ich damals sah, hieß Legenden der Leidenschaft mit Brad Pitt. Einige Musikinteressierte spielten abends auf dem Klavier im Keller. Computerfreaks hingen im PC –Raum rum. Hin und wieder veranstaltete einer von den Erziehern einen kleinen Discoabend. In unserem Heim gab es alles und es ging auch fast alles, was nicht ausdrücklich verboten war.

Wenn ich heute an diese Zeit denke, stelle ich jedes Mal mit Bewunderung fest, dass diesen Menschen damals ein wahres Kunststück gelungen war, nämlich uns dieses Land durch ihre Augen und ihre Herzen lieben und entdecken zu lassen.
Während die Schule selbst nur ganz wenig Platz für Warmherzigkeit bot, (meistens nur Konkurrenz oder Prüfungsangst) blieb unser Internat für mich stets ein vertrauter Ort und die Deutschen, die dort arbeiteten, „unsere“ und somit andere, nicht diese kalten Deutsche von der Schule. Für den größten Teil der Lehrer auf dem Gymnasium war unser Schicksal und unser bisheriges Leben eher gleichgültig und uninteressant. Sie kamen in die Klasse, spulten gefühllos ihren Stoff herunter, verteilten die Noten und verschwanden bis zum nächsten Termin. Wer sich mit dem Lernen zwar Mühe gab, mit dem Stoff jedoch nicht vorankam, durfte bei ihnen nicht auf Milde und Verständnis hoffen. Nur das Ergebnis allein zählte. Die Art und Weise, wie dort mit uns gearbeitet wurde, war von kalter Distanz und höfflicher Gleichgültigkeit bestimmt. Ich kannte nur zwei oder drei Pädagogen, bei denen es absolut anders war.

In unserem Heim fühlten wir uns dagegen als lebendige Menschen wahrgenommen. Als Menschen, die vorher ein anderes Leben gehabt hatten und an deren neuem Leben und künftigem Schicksal unseren Erziehern etwas lag. Vielleicht lag es aber auch daran, dass „unsere Deutschen“, schon so lange mit Einwanderern arbeiteten, dass sie irgendwann mal den Umgang mit ihren eigenen „Blutsbrüdern“ verlernt hatten und unbewusst einen Teil unserer Mentalität und Denkweise übernommen hatten. Und uns allein schon deshalb so nah standen und viel besser verstanden.

Jeder von uns hatte einen Lieblingserzieher. Der stämmige Harry war ein Mathe-Gott. Benni, dürr wie ein Hering, genoss den Ruf eines wandelnden Lexikons. Für Schüler, die handwerklich geschickt waren und dabei gerne eine Zigarette rauchten, war Jörgi-der Hippie, der beste Mann. Er bekam diesen Spitznamen für sein wildes Aussehen. Bunte und scheinbar chaotisch ausgewählte Kleidung, die nach Tabak und Räucherstäbchen roch und überhaupt nicht zueinander passte. Die einzige Frau in diesem Team hieß Mara. Dies ist nicht ihr richtiger Name. Wie auch bei allen anderen, aber ich bleibe dabei. Dies wäre sicher auch der Wunsch ihrer Familien.

Ähnlich wie Jörgi fiel Mara optisch ungewollt auf. Die heutigen Kids würden eine wie sie einstimmig als Öko-Tante bezeichnen. Wir sagten damals die „Grüne“, (was zumindest politisch überhaupt nicht stimmte), weil sie überwiegend Sachen aus Wolle oder Naturstoff trug. Sachen, die sie außerdem eigenhändig kreiert hatte.

Wenn Benni und Harry mit ihrem fundierten Wissen punkteten, so war Maras Stärke ihre sozialgesellschaftliche und pädagogische Ader. Sie konnte gut zuhören und für eine gemütliche Atmosphäre sorgen. Wenn sie Spät- oder Nachtschicht hatte, schmückte sie den Dienstraum, verteilte kleine Teelichter auf dem Tisch und setzte frischen Kaffee und Tee auf. Immer drei oder vier Sorten, wobei sie selbst immer nur Kamillentee trank. Na ja, eine Öko- Tante eben.
Wenn wir mittags aus der Schule zurückkamen, (unser Heim lag am Rande einer abgelegenen Landstraße) war ihr Stammplatz direkt vor dem großen Fenster im halbleeren Speisesaal, wo sie nachdenklich wie ein Kranich auf einem Bein stand und auf unsere Rückkehr wartete. Die Zigarette stets nach oben gerichtet. Das Gesicht unbeweglich und regungslos. Fast wie ein Thai-Chi- Schüler, der sich in Meditation und Gleichgewicht übt.

Auch wenn unsere Interessen (damals und auch heute) völlig verschieden waren, (wenn man danach ging, hätte ich eher bei Benni landen müssen) unterhielt ich mich sehr gerne mit ihr. Mara strahlte die Wärme und die Gemütlichkeit eines gutherzigen Menschen aus. Jene Wärme und Gemütlichkeit einer innigen Christenseele, die dich von Anfang an und ohne jeglichen Grund lieb hat, und zwar noch bevor du auch nur etwas getan oder ein Wort gesagt hast. Einfach weil ihr Herz es nicht anders kennt. Mara gab einem das Gefühl, verstanden und erhört zu werden, auch wenn sie nicht immer und nicht alles aus unserem Kauderwelsch verstand. Sie selbst sprach nicht viel. Dafür war sie eine verdammt gute Zuhörerin. Ich wusste das gut auszunutzen.

Mein Deutsch war damals einfach nur erbärmlich. Eigentlich eine Katastrophe. Vor allem der Satzbau und die Aussprache hinkten sehr. An Letzterem hat sich bis heute nicht viel geändert. Dennoch hatte ich nur wenig Probleme und Scheu damit, mich mit einem Wortschatz von gerade mal ein Tausend Wörter an alle Fassetten des Lebens sprachlich heranzuwagen. Und sie hörte mir stundenlang zu. Als ich zehn Jahre später selbst mit Einwanderern zu arbeiten begann und auf Serben, Bosnier, Kurden, Afrikaner oder Zigeuner traf, wurde mir unbewusst klar, wie viel Taktgefühl, Kraft und Ausdauer es Mara damals gekostet haben musste, dem Geschwätz eines Fremden (dessen Ansichten und Interessen sie nicht unbedingt teilte) höfflich zu folgen, ihm mit solcher Geduld und Aufmerksamkeit zuzuhören, während er die gute deutsche Sprache, ihre Muttersprache, in jedem Satz vergewaltigte. Aber auch welche Genugtuung und Stolz sie empfunden haben musste, wenn dieselben Menschen, nur vier Jahre später, am selben Tisch saßen und mit ihr plauderten. Aber diesmal in gutem und sehr gepflegtem Deutsch. Das war ihre Belohnung und Ich kenne keinen Schüler im Heim, bei dem es auch nur einmal anders kam.

Mara war sich dieser Opferrolle absolut bewusst. Jedes Jahr stellte sie sich freiwillig zur Verfügung als „Versuchskaninchen“ für jeden Jahrgang, der danach Tag für Tag (und das fünf Jahre lang), mit ihr üben und lernen durfte. Dass wir alle am Ende einigermaßen gut Deutsch sprachen, lag nicht zuletzt auch an der ungezwungenen Atmosphäre ihrer Abende und dem leckeren Früchtetee, den sie uns jedes Mal privat spendiert hat.

Mit ihr lernte ich neben der Sprache auch etwas über Deutschland. Über Gedanken und Sitten dieser neuen Welt. Ich brauche nicht zu sagen, wie neugierig ich war, alles über diese Welt aus erster Hand (in diesem Fall von ihr) zu erfahren und dass ich schon bald zur „Stammkundschaft“ von Mara zählte. Wir verbrachten unzählige Stunden am kleinen Teetisch bei Früchtetee und Diskussion. Meistens erzählte ich ihr von meiner sowjetischen Kindheit. An ein Gespräch erinnere ich mich heute noch. Es war mein erstes Weihnachten in Deutschland.
Nach einer alten Tradition wurde im Heim jedes Jahr eine Tombola veranstaltet. Damals schwärmte ich für ein Mädchen, das eine Vorliebe für schöne und traurige Gedichte hatte und auch selbst schöne und traurige Gedichte schrieb. Der Los, den ich bei der Tombola zog, trug den Namen eines Jungen aus ihrer Abiturklasse. Zufällig hatte er den Los meiner „Göttin“ bekommen. Wir tauschten unsere Zettel und ich fragte mich die ganze Zeit, was ich ihr zu Weihnachten schenken sollte. Mir fiel nichts mehr dazu ein, also ging ich zu Mara und wollte von ihr einen Tipp haben. Weil sie schließlich auch eine Frau war und Frauen es besser wissen, was sie denken oder wollen. Ich fand sie im Mitarbeiterbüro, mit einer Tasse Kamillentee und einer glühenden Zigarette in der Hand. Ihre Nase lief und war brennendrot. Sie hatte sich eine dicke Erkältung zugezogen und bekämpfte sie jetzt mit den üblichen Hausmitteln: Himbeermarmelade und Waldhonig. Obwohl sie alles andere als gesund aussah, schenkte sie mir wie immer etwas von ihrer Zeit.

Mara empfahl mir, die Dame meines Herzens mit einem Plüschtier zu beschenken, da Mädchen und Frauen so etwas im Allgemeinen süß finden, Gedichte hin, Gedichte her. Es dauerte nicht lange, da saß ich schon in dem warmen Sessel fest, knabberte an dem Weihnachtsgebäck, nahm einen Schluck Tee dazu und ging meiner Lieblingsbeschäftigung nach: Ich erzählte Mara von meinem Leben in der Sowjetunion.

Sowjetische Realität hörte sich für sie bestimmt wie ein böses Märchen an. Als Kind des Westens, das (sowieso) nur das Beste aus der Welt der Kapitalismus kannte, konnte und durfte Mara nichts vom harten Alltag und vom schlechten Leben der Sowjetmenschen in Russland wissen. Davon war ich damals fest überzeugt. Und genau das wollte ich unbedingt ändern. Ihr die Augen öffnen. Ihr klar machen in welch wunderschönem und sorglosem Land und Paradise sie lebte, auch wenn Deutsche sich ab und zu sehr gerne über klägliche Missstände hier äußerten. Also leistete ich Missionsarbeit.

Ich erzählte Mara von den Lebensmittelmarken, die am Ende der achtziger für fast alle Lebensmittel in der Sowjetunion galten. Zucker, Milch, Wodka, Weizen. Für alles brauchte man ein Talon. Auch Kleidung, Toilettenartikel, Kosmetik, Schuhe waren im Handel kaum vorhanden. Im Prinzip beschaffte man sich jede Mangelware durch eine andere Mangelware. Es herrschte ein ständiger Warentausch und die Schwarzmarkthändler rieben sich die Hände. Selbst die Schuluniform zu kaufen war ein großes Problem. Meine Eltern mussten einmal sogar in eine andere Stadt fahren, um mir eine Uniform zu besorgen. Mein Vater kannte den dortigen Kaufhausleiter und arrangierte einen „Deal“. Pünktlich zum Schulanfang, der im heutigen Russland, (genauso wie damals in der UdSSR) immer am 1. September beginnt, war ich der stolzer Besitzer eine nagelneuen azurblauen Uniform mit Nickelknöpfen, die in der Sonne glänzten.

Es war der Preis, den die Sowjetunion für den Rüstungswettlauf mit den USA und die Treue ihrer zahlreichen Satellitenstaaten bezahlen musste, die nach der Wende schnell eine andere Ideologie und auch eine neue Melkkuh gefunden hatten. Mit zwölf besaß ich nur 3 Hosen, wobei eine davon die Schuluniformhose und die andere eine Jogginghose aus Wolle für den Sport war, die ich notgedrungen sogar im Sommer tragen musste. Etwas Anderes hatte ich nicht. Meine letzte Hose war eine Festzeithose, die ich nur zu besonderen Anlässen oder an Feiertagen anzog. Mit Schuhen war es ähnlich. Warme Stiefel für den Winter, Sportschuhe, die beim Unwetter gleichzeitig auch als Wechselschuhe beim Betreten der Schule dienten, während die Straßenschuhe während des Unterrichtes in einer Tüte weg gepackt wurden und normale Schuhe für jeden Tag. Mehr hatte und brauchte ein Sowjetmensch damals nicht. Ausgediente Schuhe schmiss man nicht weg, sondern man zog sie bei der Arbeit im Garten oder im Haushalt an. Entsorgt wurde nur, wenn es gar nicht mehr ginge. Die ersten westlichen Jeans bekam ich erst dank der deutschen humanitären Hilfe aus Gelsenkirchen, die in den 90gern Jahren unsere Stadt erreichte. Dabei hatte ich mich damals kaum benachteiligt gefühlt. Das ganze Land lebte so. Als Sohn eines Kommunaldirektors zählte ich mit 3 Hosen sogar zu den „Wohlhabenden“ und durfte mich gar nicht beschweren. Andere Kinder hatten noch weniger und klagten nie. Das war mein sowjetisches Leben.

Mara hörte mir aufmerksam zu. Dabei blieb ihr Gesicht die ganze Zeit ruhig und regungslos. – Es war bestimmt sehr hart für euch. - sagte sie danach und zerdrückte ihre selbstgedrehte Zigarette im Aschenbecher. – So etwas hatten wir nur nach dem Krieg. Also ich nicht. Aber meine Eltern.

Obwohl sie ziemlich gelassen wirkte, sah ich dass ihre Augen leichte Röte bekamen und jetzt im Kerzenlicht verdächtig glänzten. Aber es war mir nicht genug. Ihre Reaktion war zu kühl. Ich wünschte mir mehr Bestätigung und Teilnahme. Ich wollte, dass sie mir einfach sagte, wie schwer es uns damals ging. Also setzte ich noch einen drauf und erzählte ihr, was ein sowjetisches Kind jedes Jahr zu Silvester (Die russisch-orthodoxen Weihnachten wurden erst nach der offiziellen Auflösung der Sowjetunion in November 1991 eingeführt) vom Vater Staat als Geschenk bekam. Es war eine mittelgroße braune Papiertüte mit einem verwischten Bild von Väterchen Frost, die ein paar Süßigkeiten und Leckereien enthielt. Meistens ein Dutzend sowjetische Schoko- und Lutschbonbons wie etwa „ Bärchen am Nordpol“ „ Alyonka“ oder „ Burewestnik“, sowie eine Handvoll steinharte Waldnüsse, ein roter Apfel und zwei, drei duftende Mandarinen, die es in der Sowjetunion sonst nur zur Silvesterzeit im Handel gab. Ein wahres Highlight. Dieses Aroma vergisst kein Kind.

„Ein westliches Kind wäre bestimmt nicht so billig glücklich und zufrieden zu bekommen“- dachte ich triumphierend. Wenigstens das muss sie zugeben.“
Ich wusste zwar nicht, was deutsche Kinder üblicherweise zu Weihnachten von ihren Eltern bekamen, war mir jedoch absolut sicher, dass es etwas Besonderes war, auf jeden Fall besonderer als eine Tüte Süßigkeiten.
Als ich mit meiner Geschichte fertig war und auf den gewünschten Effekt wartete, verlor die Erzieherin zunächst kein Wort. Stattdessen holte sie ein Blatt Tabakpapier aus dem blauen Etui. Ihre kräftigen Handwerkerfinger zeigten langjährige Übung. Sie fing an, sich eine neue Zigarette zu drehen. Ihr Gesicht zeigte höchste Konzentration. Danach steckte sie die Zigarette in den Mund und zündete sie an.

- So, so - sagte sie leicht nachdenklich. – Echt sparsam, euer Staat. Und was wünschst du dir von deinen Eltern zu Weihnachten?- stellte mir Mara die nächste Frage. Jetzt seid ihr doch hier. Hier ist vieles möglich.
- Das kann man nicht mit Geld kaufen- erklärte ich ihr. – Meine Mutter lebt noch in Russland. Sie konnte nicht mit uns kommen, weil sie unsere Großmutter dort pflegen muss. Ich wäre glücklich, sie und die Oma bei mir zu haben. Das wäre ein Geschenk.
- Und warum soll das nicht möglich sein?- Mara hob die Augenbrauen hoch.
- Weil meine Großmutter keine Deutsche ist. Wir können für sie keinen Antrag stellen. Und wenn schon, der würde früher oder später abgelehnt.

Ich las ein großes Fragezeichen in ihrem Blick, also erklärte ich Mara, soweit es mir damals bekannt war, wie kompliziert das System der Aufnahmeprozedur ist, wonach nur die Volksdeutschen, deren Eltern nach § 4 BVFG (Bundesvertriebenengesetz) zu 100% deutscher Abstammung waren und ihre direkten Nachkommen aus einer Mischehe, also meine Schwester und ich nach § 7 BVFG in der BRD aufgenommen werden konnten. Meine Mutter würde nach dieser Regelung §8 BVFG unterliegen, weil sie die ausländische Gattin eines Deutschen war. Deshalb könnte sie erst später eingebürgert werden. Nur diese Personen durften einreisen. Alle anderen mussten zu Hause bleiben. Das bestimmte das Bundesvertriebenengesetz.

- Verstehe- antworte sie und verstummte mit ihrer Zigarette. Ich sah, dass ihre Augen noch mehr glänzten.

Plötzlich fühlte ich mich unwohl. Mir war meine Taktlosigkeit peinlich. Auch wenn das, was ich sagte der reinsten Wahrheit entsprach und aufrichtig gemeint war, war es trotzdem unfair, Mara so etwas zu sagen. Sie besaß ein großes Herz und wenn es nach ihr gegangen wäre, so hätte BVFG bestimmt keine Beschränkungen mehr gehabt. Sie würde jede leidende Seele aufnehmen und beköstigen. Mit meiner Erzählung machte ich ihr indirekt einen Vorwurf für etwas, wofür sie gar nichts konnte. Ich machte zwischen Deutschland als Staat und ihrer Person keine Trennung, keinen Unterschied. Und das hatte sie nicht verdient.
Die Stille im Raum betonte mein Missgeschick.

Ich musste meinen Fehler schnell wiedergutmachen. Und da fiel mir nichts Anderes ein als sie zu fragen: - Was wünschest du dir zu Weihnachten von deinem Mann? Was ist dein Traum?
Es war eine banale Frage, aber Mara blieb für einen Augenblick still. Ihre Antwort überraschte mich.

- Ich wünsche mir einen Videorekorder- sagte sie danach und lächelte. – Einen neunen Videorekorder. – Dann könnten wir mit den Kindern unsere Lieblingsfilme zu Hause jederzeit ansehen. Pippi Langstrumpf zum Beispiel.

Ihr Traum machte mich für eine Sekunde sprachlos. Ich hätte alles Mögliche von ihr erwartet, nur nicht das. Der Traum von einem Videorekorder passte überhaupt nicht in meine Vorstellung von den Deutschen und von Deutschland. Obwohl ich schon fast ein Jahr in der BRD lebte, hatte ich immer noch kein authentisches Bild von diesem Land. Meine Vorstellung von Deutschland wurde immer noch von dem falschen Traumbild eines Osteuropäers geprägt. Ich betrachtete Deutschland wie jemand, der nach etlichen Jahren hinter dem eisernen Vorgang zum ersten Mal einen OTTO -Warenkatalog aufschlägt und stumm vor Begeisterung wird. Und Deutschland war dieser OTTO- Katalog.

Es war natürlich, dass ihr Traum mich überrascht hatte. Ein Videorekorder war in meinen Augen etwas viel zu Alltägliches für einen Westeuropäer, um sich das als Weihnachtsgeschenk zu wünschen, überhaupt davon zu träumen. Bei einem Osteuropäer konnte ich das noch verstehen. In der UdSSR bedeutete ein Videorekorder einen richtigen Reichtum. Ein Gerät aus dem Westen kostete auf dem Schwarzmarkt fast die Hälfte von einem gebrauchten Schiguli Auto. Die Videorekorder waren selten und sehr begehrt. Mein Vater brachte eines aus Deutschland mit. Es war ein Geschenk von einer deutschen Delegation. Es gab nur wenige Menschen in unserer Stadt, die einen Videorekorder besaßen. Ich durfte deshalb auch niemals mit meinen Schulkameraden darüber reden, um keinen Neid zu erzeugen. Am Ende erwies sich der Videorekorder als ein teurer aber völlig nutzloser Gegenstand zu Hause. Ich hatte zwar ein Gerät aber kaum Filme, die ich abspielen konnte. Private Videosalons, die nach der Perestroika wie Pilze aus dem Boden schossen, boten welche zur Ausleihe an, aber es war nicht ratsam, ihr Angebot anzunehmen. Alle verlangten dafür eine Kopie von dem Pass und die Abschrift von der Hausadresse. Nicht selten steckten die Leute von dem Verleih mit kleinen Kriminellen unter einem Hut. Sie gaben die Adresse an diese Verbrecher weiter und kurze Zeit später wurde die Wohnung leer geräumt und der Videorekorder war pfusch.

Trotzdem änderte es nichts an dem Kultstatus von Videorekordern. Sie standen hoch im Kurs. Aber das war im Osten. In der BRD stellte ich mir alles anders vor. Es musste auch anders sein als bei uns. Schließlich war die BRD Ausland. Und Ausland war automatisch schön.
Außerdem erzählte mir mein Vater dass ein Videorekorder in Deutschland 500 DM kostete. Aber der durchschnittliche Brutto-Lohn eines Angestellten oder Arbeiters betrug ca. 2500-3000 Mark. Demnach schloss ich für mich daraus, dass jeder Deutsche in der Lage wäre, sich einen Videorekorder schon von seinem regulären Monatsgehalt zu kaufen, ohne dafür extra lange sparen zu müssen und dass dieser Kauf eine etwas größere aber immer noch alltägliche Anschaffung darstellte.

Natürlich wusste ich damals nicht, wie hoch die Lebenskosten im Westen waren, dass man hier viele Steuern zahlte und jede Menge Geld fürs Auto, für Lebensmittel, Versicherungen und Miete abgeben musste. Ich übertrug sowjetische Preise auf das prächtige Warenparadies dieses Landes und dachte mir nichts dabei. Ich hatte mir auch nie die Frage gestellt, wie unsere Pädagogen außerhalb ihres Lebens im Heim waren. Wie Deutsche in Deutschland überhaupt lebten. Warum auch? Ich hatte nie Zweifel, dass ihr Leben nicht anders als das aus dem Katalog sein konnte. Für mich war die Sache klar. In meiner Vorstellung trugen alle Deutschen nur Markenklamotten aus dem Katalog, fuhren Luxusautos wie BMW oder Mercedes und besaßen ein eigenes Haus mit Garten oder Swimmingpool. Nur Ausländer wohnten zu Miete. Nur Ausländer führten ein bescheidenes Leben. Nur Ausländer konnten von Geschenken wie etwa einem Videorekorder träumen. Deutsche mussten andere, besondere, Träume haben.
Der Traum von Mara war irdisch genug um mich aus dem Himmel des Paradieses wieder auf die sündige Erde zu holen. Schon zum zweiten Mal an diesem Tag empfand ich ein Gefühl von Verlegenheit und brennender Scham. Obwohl sie kein einziges Wort sagte, mir die ganze Zeit nur zugehört hatte und sogar mit dem, was ich ihr erzählt hatte, scheinbar einverstanden war, wusste ich, dass das Leben mir gerade die wichtigste Lektion in Sachen Fehleinschätzung und Überheblichkeit erteilte. Eine verdiente Lektion.

- Aber warum ein Videorekorder? – fragte ich leicht verdutzt. Ich wollte es immer noch nicht aufgeben. - Das ist doch etwas Gewöhnliches.
- Für uns nicht. – sie schüttelte die Asche in den Aschenbecher ab. Unser altes Gerät macht nicht mehr lange mit und für ein neues fehlt uns das Geld. Mein Mann verdient nicht so viel, weißt du. Wir haben zwei Autos und zwei kleine Kinder. Rechne Mal durch. Da muss musst du schon entscheiden, was Priorität hat – folgte eine kurze Erklärung.

Danach zündete sie sich eine neue Zigarette an. Ihre Erklärung war so einfach und gleichzeitig so aussagekräftig. Ich wurde rot im Gesicht.
Kurz vor zwölf jagte Mara mich aus dem Büro und machte sich für den mitternächtlichen Rundgang bereit. Ich weiß noch, dass ich Maras Büros ziemlich gekränkt und in mieser Stimmung verließ. Mir waren meine Dummheit und meine Arroganz einfach nur peinlich. Grünschnabel. Rotznase. Ein Ei, das die Henne das Leben lehren wollte. Lächerlich! Pfui!
Den Rest der Woche und die Woche darauf ließ ich alle unsere Treffs platzen. Erst als die dritte Woche verstrichen war, traute ich mich endlich wieder ins Büro. Aber ich habe mich nie wieder an irgendeiner Diskussion beteiligt. Meistens saß ich nur stumm da, trank Maras Tee und hörte den anderen Schülern zu. Irgendwann erinnerte sich keiner von uns mehr an dieses Gespräch.

Vier Jahre später verließ ich unser Schülerwohnheim, und kehrte zu meinen Eltern nach Gelsenkirchen zurück. Meine Mutter war inzwischen auch schon da. Kaum ein Schüler ging mit einer schlechten Erinnerung aus dem Heim. Auch ich hing sehr an diesem Haus, das für mich mein erstes richtiges Zuhause in einem neuen Land, einer neuen Wahlheimat geworden war. Die Meisten von uns traf ich irgendwann Mal in ihren eigenen vier Wänden wieder. Wir kamen zu Besuch, ließen die Erinnerungen hoch kommen, quatschten mit dem einen oder anderen Erzieher. Sie gehörten zu unserem Leben genauso wie wir zu ihrem. Es war eine Verbindung, die Nichteingeweihten etwas seltsam vorkam, für uns jedoch völlig normal und natürlich war. Das Schülerwohnheim war wie ein geheimer Bund. Ein Schwur, den man für den Rest seines Lebens leistete. Diese Zeit vergaß man niemals. Heute wenn die Diskussion über eine erfolgreiche Integration in aller Munde ist, ist dies besonders wichtig. Wir alle haben unsere Hausaufgaben damals richtig gemacht. Wir haben unsere alte Heimat im Herzen nicht aufgegeben, aber Deutschland ist für uns auch keine Fremde mehr. Schon lange nicht. Also, wenn das nicht der Sinn einer Integration ist, dann weiß ich auch nicht.

Irgendwann mal war es aber trotzdem vorbei mit den sentimentalen Erinnerungen. Wir gingen zum Bund, auf die Uni oder begannen eine Lehre. Die Zeit und der Alltag rissen uns auseinander. Als zehn Jahre später das Internet und Soziale Netzwerke wie Facebook, Mein VZ oder Wer-kennt-wenn Deutschland eroberten, fand ich Maras Profil eines Tages auch im Netz. Wir schrieben uns ein Paar Emails voller Nostalgie und alter Erinnerungen. Natürlich erinnerte sie sich bestens an mich. Ich war der Junge mit der Zwillingsschwester, der so gerne in falschem Deutsch schwätzte. Mara arbeitete nicht mehr im Heim. Sie war aufs Land gegangen und betrieb ein kleines Geschäft mit selbstgemachten Produkten aus Schafswolle. Zum Beispiel Hüte. Ihre Frisur hatte sich geändert, aber gealtert war sie nicht. Nach zwei drei E-Mails war unsere Neugier gestillt und der Alltag trieb uns wieder auseinander. Im letzten Jahr ging ich wieder auf ihre Seite und hinterließ einen Geburtstagsgruß. Einen Tag später erhielt ich eine E-Mail von einem mir unbekannten Mann. Er bat mich, meine Grüße aus Maras Gästebuch zu entfernen, weil sie seit einem Jahr …tot war. Sie hatte Brustkrebs gehabt…
Obwohl sie nicht meine enge Verwandte war, ließ ihr Tod mich mehrere Tage nicht los. Ich wollte und konnte nicht an ihren Tod glauben. Auf einmal waren alle Erinnerungen aus dem Heim da und in den Meisten von ihnen - Mara. Sie war der Zeuge und die Stütze meiner ersten Jahre in Deutschland. In gewissem Sinne stand sie mir viel näher als manch ein Verwandter in meiner Familie, den ich nur drei Mal im Leben zu Gesicht bekommen hatte. Maras Tod stürzte mich in ein Loch aus Frust und Traurigkeit. Ich schrieb einer Freundin, die in Maras Nähe gewohnt hatte. Sie erzählte mir, dass unser Heim vor Jahren abgerissen worden war und dass an dieser Stelle zurzeit ein Waldsanatorium gebaut wurde. Maras Tod löste auch bei ihr einen Schock aus.

Nun ist das schon bestimmt ein Jahr her, als ich von ihrem Tod aus der Email des Unbekannten erfuhr. Die Zeit vergeht, aber sie heilt nicht. Nicht, obwohl sie es tun sollte. Manchmal, wenn ich in den alten Fotoalben blättere, denke ich plötzlich an diese Zeit damals und sehe mir die alten Fotos von unseren Erziehern an. Benni, Jörgi, Harry…Mara. Sie sind da, jung und lächelnd, als wären das Alter und die Jahre machtlos gegen sie. Dabei habe ich stets ein und dasselbe Bild vor Augen. Mara in ihrer Kranich-Pose, mit der Zigarette, vor dem Fenster des Speisesaals. Sie schaut in die Ferne und freut sich wie ein Kind, lächelt und winkt uns von oben zu. Und auch wenn weder sie, noch das Schülerwohnheim, mehr da ist, weiß ich dass Mara für immer in meiner Erinnerung bleiben wird. Genauso, wie ihr deutscher Traum…

ENDE

Roman Dell
01.03.-24.03.2012
Zuletzt geändert von zuzu am 02.09.2014, 19:09, insgesamt 1-mal geändert.
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Josel
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Beitrag von Josel »

Sehr interessante Texte. Was macht Herr Dell heute?

J.
Vertrödeln Sie keine Zeit mit dem Lesen von Signaturen!

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zuzu
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Beitrag von zuzu »

Ich glaube, das steht in einer seiner Geschichten. Ich weiß ja nicht, ob ich das hier einfach so schreiben kann...
Zuzu

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Beitrag von zuzu »

Noch eine Geschichte:


Ein oder zwei Mal in der Woche gehe ich an der größten Buchhandlung unserer Stadt vorbei und schaue mir dort die aktuellen Sonderangebote an. Eines Tages fiel mein Blick auf einen Doppelband Goethe, der neben den anderen Titeln am Wühltisch lag. Solider Leserschinken, an die 1200 Seiten, gebunden und für nur 4,99 Euro zu haben. Ein Buch, bei dem fast jeder Schüler in Deutschland gerne einen großen Bogen macht, löste in mir sofort nostalgische Gefühle aus. Ich musste dabei an jene Zeit in meinem Leben denken, in der ein solcher Doppelband wie dieser das schönste Geschenk und mein begehrter Wunsch war, für den ich alles gegeben hätte. Und nicht nur Geld… sondern auch ein Glas Schmand.


Ein Glas Schmand für einmal Goethe.


(Kurzgeschichte)


Für meine liebe Mutter Natalia, die mir die Liebe zu Büchern und Lesen brachte und meine Schwester Viktoria, die für mich gerne vorgelesen hat


Ich bin eine Leseratte. Das steht fest. Dabei hatte ich es als Kind überhaupt nicht so mit dem Lesen. Na ja. Stimmt auch nicht ganz. Die Geschichten und Bilder hatten mich schon interessiert, nur war ich zu faul, den Text selbst zu lesen. Wozu auch, wenn meine Familie diese Arbeit für mich übernahm. Bis zu meinem siebten Lebensjahr hatte ich dann also nichts Anderes zu tun, als wie ein persischer Schah auf dem Plüschsofa meiner Großeltern zu ruhen und mir die Märchen und Sagen aus aller Welt, von meiner Familie, Mutter oder Schwester, vortragen zu lassen. Das war sehr angenehm und bequem.

Als dann irgendwann Mal die Grundschule kam, war ich immer noch nicht bereit, die Kunst des Lesens selbst zu erlernen. Anders als meine Schwester, die schon mit vier sehr gerne las. Aber das interessierte mich überhaupt nicht. Lesen war nichts für mich. Im dritten Schuljahr zeigte ich eine ernste Tendenz, der einzige „Ungebildete“ in unserer „belesenen“ Sippe zu bleiben, weil ich die Bücher zutiefst verabscheute. Sehr zum Bedauern meiner Mutter und meines Großvaters, die einen großen Wert auf Bildung und Kultur legten. Eines Tages, ich glaube es war im Sommer, hatte meine Mutter es einfach satt. Sie machte mir ein letztes Angebot. Ich sollte, die von ihr ausgewählte Lektüre lesen und wenn ich danach immer noch kein Interesse am Lesen zeigte, würde sie mich in Ruhe lassen. Und zwar für immer. Ich dachte mir nur, es sei dumm von ihr und sah mich bereits als Sieger aus diesem Kampf hervorgehen.

Das Buch, das meine Mutter mir damals völlig hoffnungslos zum Lesen gab, war ein Nomadenvolksepos Jangar, der von dem kalmykischen Recken Namens Jangar handelte und die Schlachten und Großtaten des mutigen Steppenfürsten beschrieb. Die Steppenritter, ihre glänzenden Krummschwerte und die gefährlichen Zweikämpfe zu Pferd wirkten auf mich wie ein magisches Elixier. Ich konnte nicht genug von ihren Waffen, Schlachten und Abenteuern bekommen. Meine Mutter hatte Recht behalten. Von diesem Tag an musste sie mich nie wieder zum Lesen zwingen. Eher umgekehrt. Jetzt machte sie sich Sorgen, weil ich nichts Anderes mehr tat.

Meine Gier nach Büchern war unersättlich. Gewöhnlich verschluckte ich bis zu vier Lektüren in der Woche, meistens historische Romane oder Sachbücher, was eindeutig Jangars „Schuld“ war. Durch seine Abenteuer entdeckte ich meine fanatische Liebe zur Geschichte, die ich seitdem regelmäßig pflege. Von nun an war das Buch mein ständiger Begleiter. Ich hatte ein Jahresabonnement in der örtlichen Schulbücherei, ließ mich gleichzeitig bei der Stadtbücherei anmelden und lieh mir das eine oder andere Buch von der besten Freundin meiner Mumm, die eine Sammlung von seltenen und teuren Titeln besaß. Meine Eltern hatten allen Grund zufrieden zu sein. Ich las, also doch kein „Ungebildeter“. Die Ehre unserer Sippe war gerettet.

Mit dem Lesen kam auch ein neues Problem auf mich zu. Weder die örtliche Schulbücherei, noch die Jugend- und Kinderstadtbibliothek konnten mir auf Dauer genügend Lesestoff anbieten. Da ich mich nur für bestimmte Sachgebiete wie Geschichte oder Geographie interessierte, hatte ich irgendwann mal alle Bücher dort einfach durch: Historische Sachbücher, Klassik, fremdsprachige Weltliteratur, geografische Berichte, Sagen und Mythen, Memoiren und Autobiographien. Alles mehrfach ausgeliehen und gelesen. Ich brauchte neue Bücher, Bücher, die ich noch nicht kannte und solche zu finden, war alles andere als einfach.
Wie die meisten Waren in der sozialistischen Marktwirtschaft (wie etwa Wurst, Käse, Kinderkleidung, Damenstiefel oder Toilettenpapier) zählte auch das gedruckte Wort zur Mangelware die im Handel permanent fehlte und an die man in der Sowjetunion nur sehr schwer kam. Nur meinem Vater, der in der Position war, (ein Satz mit dem man in Russland meint, dass man über gewisse Beziehungen verfügt, die einem den Zugang zu solchen Warengütern ermöglichen) und den örtlichen Leiter des Schachtyner Buchhandels Sojuspezat kannte, verdanke ich das Glück, die Sammelbände von Sir Walter Scott, James F. Cooper, W. Jan, Robert. L. Stevenson, D. Mereschkovsky, Leo Tolstoy, F. M. Dostojewski und W. Leskov gelesen zu haben und zu besitzen. Ansonsten bekam man diese Titel nur auf dem Schwarzmarkt. Ich brauche nicht zu sagen, dass der Handel damit florierte.

Der literaturbegeisterte Sowjetbürger nahm für ein gutes Buch jede Form von Opfer in Kauf. Als Ende der Achtziger Doktor Schiwago in der UdSSR Furore machte, bekam meine Mutter von ihrer Freundin einen Literaturalmanach für eine Woche ausgeliehen, weil dort dieser Roman abgedruckt war. Meine Mutter schwärmte für Pasternak und tat etwas, was sie schon einmal bei einem anderen Buch und Autor - Dunkle Macht von W. Pikul - bereits gemacht hatte. Sie hatte einfach das komplette Buch für sich… abgetippt. Dass nenne ich LIEBE ZUR LITERATUR.
Aber auch die fremdsprachigen Bücher waren sehr schwer zu bekommen. Hemingway, Remarque, London oder Shaw. Besonders gefragt und deshalb unmöglich zu finden, waren damals fast alle Werke von Alexandre Dumas und „Angélique“ von Anne und Serge Gollon. Als Buchfan brauchte man sehr viel Glück und Geduld. So stand ich zum Beispiel ein halbes Jahr auf der Warteliste der Stadtbücherei, bevor ich endlich Die 3 Musketiere in der Hand hielt und etwa noch mal so viel, um auch Robinson Crusoe von Daniel Defoe zu lesen. Was selbst nach all diesem Warten und den Strapazen immer noch ein richtiger Glücksfall war, da ich die Titel im Handel sonst niemals bekommen hätte. Meine Lieblingsautoren in dieser Zeit waren Sir Henry Rider Haggard und Captain Thomas Mayne Reid, da ich mich sehr für die Indianerwelt und die Zeit der Reconquista interessierte.

Noch schwieriger war es Büchern über Deutschland und deutsche Geschichte und Kultur zu finden. Die Kinder- und Jugendbücherei besaß zwar ein Extraregal für deutsche und deutschsprachige Literatur, hatte aber kaum Bücher um dieses Bereich ausreichend zu füllen. Ihre einzigen Besitztümer- Das Leiden des Jungen Werthers, Deutsche Volksmärchen und die Geschichte der Hansa - hatte ich bereits gelesen. Ich sehnte mich nach neuem Lesestoff.
Eines Tages machte die Mutter mir ein Geschenk. Sie ging mit mir zur Buchhandlung, einer langen Glasshalle, die ich bisher nur von weitem gesichtet und über deren Besuch ich mich sehr gefreut hatte. Die Buchhandlung erschien mir riesig und ich verlor mich sofort in dem Meer von Regalen und Lektüren.

Leider war die Auswahl an historischen Büchern nicht besonders groß. Keine griechischen Sagen, Bücher über Asien oder Kiewer Rus, historische Romane über Skythen, Assyrer, Spartaner, Römer oder Gladiatoren. Thematisch drehten sich fast alle Titel hier um die Oktoberrevolution, den Zweiten Weltkrieg oder die Helden der Arbeit. Ich wollte jedoch Antike und Mittelalter haben. Dieser Laden hatte absolut nichts für mich.

Ich nahm mir enttäuscht ein Buch über die sowjetische Luftfahrt in die Hand und begann darin zu blättern. Das Buch hatte farbige Illustrationen. Das hatte man nicht alle Tage. In puncto Gestaltung entschied sich der sowjetische Verleger damals für eine schlichte aber solide Seriosität. Die sowjetischen Buchcovers, waren meistens schwarz oder grau (mit Ausnahme von Kinder- und Jugendbüchern) und trugen oft eine in Gold gedruckte Titelüberschrift. Die Farbbilder waren eher selten.

Jedem Buch folgte ein Vorwort der Redaktion, das meistens mit dem traditionellen Satz „ Werter Buchfreund“ begann und daher etwas väterlich und gemütlich klang. Bei diesem Buch kam ich mit dem Lesen jedoch nicht weiter.
- Ich glaube da habe ich etwas Besseres für dich. - hörte ich eine melodische Stimme direkt an meinem Ohr und ich hob den Kopf.

Vor mir stand eine Frau. Heute erinnere ich mich nur vage an ihre Gestalt. Auch weiß ich nicht mehr wie alt sie war, wie sie hieß und warum sie meine Mutter kannte. Die Dame legte vor mir ein großes Buch. Eigentlich war das ein richtiger Bildband. Der Titel des Buches lautete Sie wurden vom Horizont gerufen. Der Autor des Werkes war der berühmte russischer Reiseberichterstatter und Abenteurer Juri Senkewitsch, der im sowjetischen Fernsehen die geographischen TV-Magazine Klub der Reisenden und Rund um die Welt moderierte. Das Buch hatte viele schwarzweiße Illustrationen und erzählte die Lebensgeschichten der großen Seefahrer und Abenteurer Christopher Columbus, James Cook, Miklucho Maklai und Michail Przschwalsky. Auf einem der Bilder sah ich einen Eingeborenen, der sich mit einer Axt auf einen Engländer in blauer Uniform stürzte und ihn töten wollte. Der Engländer war James Cook. Andere Berichte waren nicht weniger interessant. Es gefiel mir sehr und ich wollte das Buch nicht mehr aus der Hand legen.

- Deine Mama sagte mir, dass du gerne Geschichtsbücher liest. Stimmt das, mein werter Freund? Was sagst du denn dazu?- sagte die Dame und gab mir ein weiteres Buch, das sie die ganze Zeit hinter ihrem Rücken versteckt gehalten hatte.
- Haben Sie etwas über das Alte Griechenland oder Kiewer Rus?- erkundigte ich mich begeistert bei der Dame, die solche Schätze, wie etwas Alltägliches und Selbstverständliches, vor mir auf die Theke legte.
- Ein Moment!
Sie ging weg und erschien kurze Zeit später mit einem weiteren Buch in der Hand.
- Mit den Griechen ist das momentan etwas schwer, aber zu Kiewer Rus habe ich doch etwas gefunden - sagte sie und reichte mir das Buch weiter. Eine in dunklem Leder gebundene Ausgabe.
Slovo o polku Igorevom- las ich auf dem Titelblatt. Das Buch war eine alte slawische Chronik - Das Igorlied -, die von dem missglückten Feldzug des russischen Fürsten Igor Swjatoslawitsch handelte, der durch die Hand der Polowzer in der Schlacht mit den Steppennomaden fiel. Dieses Buch kannte ich nicht. Ich hatte nur davon gehört. Der Inhalt versprach viele Schlachten und eine interessante Geschichte, aber meine Vorfreude auf die Abenteuer des Fürsten war sehr kurz.
Das Buch hatte eine sehr entscheidende Macke. Es war in Altrussisch verfasst. Damit konnte ich zunächst nichts anfangen, also gab ich schweren Herzens das Igorlied an die Dame zurück.
- Na ja. - sie zuckte nur mit den Schultern. – Beim nächsten Mal haben wir bestimmt mehr Glück. Ich werde für dich etwas über die Griechen finden. Und nun schaue dich weiter um. Ich gehe jetzt vorn zu deiner Mutter. Sie wird das Buch an der Kasse bezahlen müssen.
Ich verließ das Geschäft in einem euphorischen Zustand. Glücklich über den neuen Schatz in meiner Hand und halbverliebt in diese nette Verkäuferin, die mich wie einen Erwachsenen behandelte und werter Freund zu mir sagte. Als ich mit meiner Mutter darüber sprach, und von der „netten Tante“ aus dem Laden schwärmte, holte sich mich schnell vom Himmel zurück auf die Erde.
- Diese Tante war nett und hilfsbereit, weil ich ein großes Glas Bauernschmand auf dem Markt für sie gekauft habe. Im Geschäft gibt es doch nur das verdünnte Zeug. Ich fragte sie, was sie dafür haben will, wenn sie dir ein paar Sachen zeigt, die man nicht an der Theke bekommt. Sie wünschte sich ein Glas guten Schmand, weil es den zurzeit nur auf dem Bazar gibt, und auch da sehr teuer. Also habe ich es für sie geholt. Das Buch war übrigens auch nicht umsonst. Ich musste es ganz normal bezahlen. So einfach ist das - sagte Mama während wir nach Hause gingen.

Ein westlicher Leser würde an dieser Stelle womöglich nur den Kopf schütteln und verwirrt fragen: Hä? Ein Glas Schmand? Aber warum? Gehört das etwa nicht zu den Pflichten und Aufgaben dieser Frau, Bücher an die Kunden zu verkaufen. Warum forderte sie ein Geschenk, für das, was ohnehin ihre berufliche Pflicht war? In der Tat. Das war ihre Pflicht. Theoretisch schon, aber in der russischen Realität war das etwas ganz Natürliches. Man beschaffte sich eine Mangelware durch eine andere, und da in diesem Land fast alles als solches galt, sorgte diese Versorgungslücke permanent dafür, dass es unter dem Mantel des offiziellen Handels ein Schwarzmarkt für solche Dinge entstand. Und dieser Markt lebte nach seinen eigenen Gesetzen. Sie hatten mit der traditionellen (und auch sowjetischen) Marktwirtschaft nichts zu tun. Jemand der an der „Quelle“ saß, in diesem Fall die Verkäuferin, war eben nicht einfach zu haben. Ihre „Dienste“ kosteten eine Kleinigkeit. Und weil es diese Ware nirgendwo anders als bei ihr gab, waren die Menschen, die einem etwas beschaffen konnten, sehr gefragt und begehrt. Man riss sich buchstäblich um eine Bekanntschaft mit ihnen. Daher benahmen sich die Mitarbeiter des Sowjethandels wie Götter oder Könige. Man musste sich gut mit ihnen stellen, sie schmieren und beschenken, damit man den Zugang zur gewünschten Ware (oder zu den gewünschten Waren) bekam. Ware, die man hinterher auch ganz normal an der Kasse bezahlen musste. Natürlich sagte das Gesetz etwas ganz Anderes darüber. Aber auf die Gesetze gibt man in Russland traditionell nur wenig acht. Sie sind ein Teil der abstrakten und meistens nutzlosen Theorie. Das hier war dagegen unsere Realität.

Die Realität meiner sowjetischen Kindheit sah daher folgendermaßen aus: Ende der 80-ziger waren die Lebensmittel nur gegen die Vorlage eines Talons, beziehungsweise eine Wertmarke zu haben. Zucker, Buchweizen, Reis, Mehl, Brot und auch Milchprodukte. Einfach alles. Die Lebensmittel waren sehr knapp und streng rationiert. So und so viel Gramm pro Familie. Selbst für Wodka gab es Abgabebeschränkungen und Wertmarken. Von der Leistung und Qualität war gar ganz zu schweigen. Man nahm einfach das, was da war und freute sich. Kilometerlange Warteschlangen waren an der Tagesordnung. Egal um welche Ware es dabei ging. Ein sowjetischer Bürger kaufte alles auf „Vorrat“.

Der Handel wusste das sehr gut auszunutzen. Auch die Lebensmittelbranche. Der Schmand, den man dort bekam, war nicht der Schmand, der er in seiner natürlichen Art sein sollte, sondern eine Meisterkombination aus russischem Erfindungsgeist und dreistem Betrug. Der Schmand, die Milch, der Käse oder andere Lebensmittel wurden verdünnt, falsch abgezählt oder falsch abgewogen, um die Differenz an Verwandte oder Freunde zu verteilen, oder auch schwarz unter der Hand zu verkaufen. Einen verhältnismäßig guten Schmand bekam man nur auf dem Markt, wo er das Fünffache von seinem Wert in dem staatlichen Laden kostete. Aber was hatte man da schon für eine Wahl.

Ein Glas unverdünnter Schmand war also eine Menge wert und galt als perfektes Geschenk oder Tauschmittel. Dank diesem Glas Schmand wurde Sie hat der Horizont gerufen zu meinem ersten Buch. Es steht heute in dem Haus meiner Eltern und erinnert mich an mein sowjetisches Leben, das mir inzwischen wie ein vergessener Kinofilm vorkommt. Hinterher machten meine Mutter und ihre Bekannte noch öfter solche Geschäfte miteinander und die Gläser mit Schmand holten noch viele weitere Bücher in unser Haus. Darunter auch ein Doppelband von Goethes Faust. Das exotischste Exemplar in meiner gesamten Büchersammlung.

Als ich nach Deutschland und später auch nach Gelsenkirchen kam, erlebte ich zunächst einen kleinen Kulturschock. Die Autoren, die ich in der Sowjetunion gelesen und naiv für führende Schriftsteller der ausländischen Literatur gehalten hatte, waren dem deutschen Leser teils oder sogar völlig unbekannt. Alexandre Dumas, James Cooper und Walther Scott fand ich zwar noch bei der Mayerschen in dem Regal Weltklassik, gut versteckt unter Charlotte Brontë und Jane Austin. Thomas Mayne Reid und Henry Rider Haggard kannte dagegen noch nicht einmal mein Deutschlehrer.

Dasselbe galt auch für Spartacus von Raffaello Giovagnoli und Pharao von Boleslaw Prus. Zwei große historische Romane, die jeder Erwachsene und Jugendliche in der Sowjetunion gelesen oder gekannt hatte.

Die deutsche Literatur verband ich mit Namen wie Johan Wolfgang Goethe, Friedrich Schiller, Erich Maria Remarque, Leon Feuchtwanger und Hans Fallada. Schriftsteller wie Heinrich Böll, Max Frisch, Günther Grass waren mir dagegen absolut unbekannt. Geschweige denn moderne Bestsellerautoren. Im Vergleich zu den sowjetischen Preisen kosteten die Bücher in Deutschland richtig viel Geld. Ich weiß noch heute, wie sehr ich damals schockiert war, als ich in der Minerva Buchhandlung ein Bilderbuch über alte Griechen aufschlug und damit zur Kasse rannte, ehe mein Blick auf das Preisschild auf der Rückseite fiel: 39,99 DM. Niederschmetternd. Abgesehen davon konnte ich damals sowieso noch nichts lesen. Deutsch lesen, meine ich. Jedes Mal, wenn ich ein Buch aufschlug, verloren sich die Worte, die ich da kannte, wie ein Dutzend funkelnde Sterne in einem Ozean pechschwarzer Nacht. In dieser Zeit war ich sehr neidisch auf die echten Deutschen. Ihre Läden waren voll von exzellenten Büchern. Geschichte, Romane, Klassik. Alles dabei. Teuer, aber dennoch zu haben. Sie konnten sich jederzeit eins daraus wählen und alles verstehen. Nur ich nicht. Noch nicht. Trotzdem erwarb ich hin und wieder ein neues Buch und legte es dann an die Seite, in Erwartung besserer Zeiten. Das heißt, wenn mein Deutsch irgendwann Mal endlich so weit wäre.
Als ich fünf Jahre später endlich zu meiner Sammlung griff, erlebte ich eine angenehme Überraschung. Die Worte, die ich damals nur als chinesische Hieroglyphen in Erinnerung behielt, waren auf ein Mal keine tote Sprache mehr. Sie hatten einen Sinn, sie lebten und sie sprachen mich an.

An eines werde ich mich jedoch nie richtig gewöhnen. Die Liebe zum Buch. Das Gefühl für den Wert eines Romans, nicht seinen Preis. Etwas, was ich im Westen sehr oft vermisse. Für uns war das Buch viel mehr als nur ein Stück Papier. Es war das Leben. Ein notwendiger Teil des Lebens. Etwas was uns berührte und bewegte. Im Westen dient ein Buch eher Animationszwecken. Man wünscht sich abzuschalten und einfach nur Spaß zu haben. Es hat einfach eine ganz andere Wertung. Ich bezweifele, dass ein Bürger im Westen das Lesen so liebt, dass er dafür einen Teil seiner Lebensmittel abgeben würde. Vor allem dann, wenn diese Lebensmittel so knapp sind und überall fehlen. So wie meine Mutter damals, als sie die Geschäfte mit der Verkäuferin aus dem Laden trieb und sie mit Essbarem bezahlte. Ein Glas Schmand für einmal Goethe. So etwas hört sich in Deutschland nur lustig an. Niemand würde es hier verstehen. Niemand außer uns.

Oder dass jemand die ganze Nacht hinter der Schreibmaschine verbringt, obwohl er morgens zur Arbeit muss. Alle diese Opfer nur um Pasternak zu besitzen und zu lesen. Im Westen ist das Buch in erster Linie ein Verkaufsartikel. Ein Medium. Ein Gut, mit dem man Geschäfte macht. Vorausgesetzt, man trifft den Geschmack der Masse. Dan Brown hat es geschafft. Dabei ist die Auswahl ziemlich riesig und der Büchermarkt übersättigt und voll. Der Lesehunger der Sowjetzeit kennt man hier nicht mehr. Aber ich schon.

Ich muss mich immer noch regelrecht beherrschen, wenn ich die Bücher auf der Regalen stehen sehe. Ich kann es bis heute nicht nachvollziehen, warum der hiesige Käufer, dabei so ruhig bleibt. Bei allen diesen Schätzen, die vor ihm liegen. Er geht an den Ständen vorbei oder bleibt nur ganz kurz stehen. Nimmt ein Buch aus dem Regal raus und stellt es schnell weg. Meistens sind das Krimis, Thriller, Ratgeber oder Kochbücher, die dann auf die Reise gehen. Der westliche Leser ist und war schon immer ein wenig verwöhnt. Er fühlt sich gelangweilt und möchte einfach nur gut unterhalten werden. Eine Geschichte bekommen, die schlicht und dabei immer noch interessant ist. Sein Interesse und sein Geld sind nur sehr schwer zu gewinnen. Es gibt kaum noch etwas, was ihn aus der Fassung bringt.

Die Mädchen am Tresen wissen das. Und sie geben sich deshalb richtig Mühe. Schließlich schläft die Konkurrenz gegenüber auch nicht. Die Ware muss weg. Je schneller desto besser. Hier haben allein die Gesetze der Marktwirtschaft das Sagen. So etwas kannten die Sowjets damals nicht. Sie machten quasi ihre persönlichen Geschäfte. Verkäuferin im Westen ist dagegen ein ziemlich anstrengender Job. Die Mädels müssen jede Menge tun und leisten. Sie gehen täglich auf die Kunden zu und bieten ihnen die Neuerscheinungen an, werben für andere Bücher und sind höflich und supergeduldig. Sie wollen verkaufen, mir alle Romane und Sachbücher der Welt anbieten und keine von ihnen wünscht sich ein Glas Schmand dafür…

Ende

Roman Dell

15.02.2012-04.03.2012
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Beitrag von zuzu »

Die Deutschen schätzen gutes Essen. Das merkt man besonderes an ihrem Fernsehprogramm. Ob ARD, Vox, RTL-2 oder Pro-7, überall wird gekocht und geschlemmt. Inzwischen hat fast jeder Sender in Deutschland eine eigene Star-Kochsendung, in der die Feinschmeckergerichte aus aller Welt zubereitet und von den Experten und Publikum kritisch begutachtet werden. Ich kann mit der Vielfalt und hohen Ansprüchen in diesen Sendungen nicht viel anfangen. Im Ostblock hatte man ein anderes Verhältnis zu den Lebensmitteln. Man aß alles und beklagte sich nicht. Der sowjetische Bürger freute sich überhaupt irgendeine Wurst oder Produkt im Laden zu bekommen. Qualität und der Anspruch interessierten ihn nicht. Das ist eine Gewohnheit, die auch ich nicht mehr ablegen kann, egal wie lange ich schon in Deutschland lebe. Als ich auf irgendeinem Kanal erneut die kauenden Experten streiten sah, Männer und Frauen, die über den Weichheit- Grad des zubereiteten Krustenbratens philosophierten, wusste ich dass ich diese Geschichte unbedingt schreiben muss. Eine Geschichte über Essen und Deutsche.

[center]Krieg ist Krieg, aber gegessen wird pünktlich.[/center]
[center](Erzählung)[/center]


Das Messer blitzt, die Schweine schrein,
Man muß sie halt benutzen,
Denn jeder denkt: »Wozu das Schwein,
Wenn wir es nicht verputzen?«

Und jeder schmunzelt, jeder nagt
Nach Art der Kannibalen,
Bis man dereinst »Pfui Teufel!« sagt
Zum Schinken aus Westfalen.*

Wilhelm Busch (1832 - 1908), deutscher Schriftsteller


Seit Kurzem wird die Bundesrepublik Deutschland durch eine Lawine von Koch-Shows überrollt. Sie beherrschen fast alle Fernsehkanäle unseres Landes. Im Ersten meistert der Starkoch Tim Mälzer seine Minestrone mit Tafelspitz. Im Zweiten streiten sich Küchenschlacht und Lafer!Lichter!Lecker! um die Gunst der deutschen Zuschauer. Für ein gutes Rezept reist Sarah Wieners bei ARTE sogar rund um die Welt und führt dem einheimischen Publikum seltene und exotische Kreationen vor. VOX schickt gleich drei Kochsendungen in den Quotenkampf: Küchenchefs, Paprika und Tomate und das Perfekte Promi-Dinner. Man will es der Konkurrenz schließlich nicht so leicht machen. Die Kochprofis und Rachs Restaurantschule von RTL II und RTL sind auch mit von der Party. Unser WDR-Team darf natürlich auch nicht fehlen…
Diese Liste ist ziemlich lang. Inzwischen hat fast jeder Sender, der etwas auf sich hält, seine eigene Star-Kochsendung anzubieten. Und das Publikum bekommt immer noch nicht genug davon. Die Deutschen schätzen gutes Essen, egal ob fremdes oder eigenes. Ihr Magen macht da keinen Unterschied. Ob bayrische Leberknödelsuppe, chinesische Pekingente, indisches Chicken Tikka Massala oder italienische Spagetti Carbonara. Sie lassen sich alles schmecken und probieren.

Überhaupt ist das Essen einer der beliebtesten Gesprächsthemen in Deutschland. Nach Fußball,Tatort und Urlaub, versteht sich. Auch in den Medien jeder Art. Dort gibt es dauernd irgendwelche Test-Sendungen oder Leserkolumnen, die sich mit der Qualität und Beschaffenheit von diversen Speisen und Lebensmitteln beschäftigen. Dabei wird von den Experten und jenen, die sich gerne für solche halten, akribisch gemessen, gewogen, geprüft und diskutiert, ob das Produkt oder Gericht tatsächlich allen Anforderungen des Koches, Herstellers oder Kunden entspricht.

Dabei nimmt man den einen oder anderen Artikel (natürlich) genauer unter die Lupe. Wie etwa ein Leibnitz Butterkeks zum Beispiel, bei dem ein neugieriges Kamera-Team zuletzt geprüft hat, ob sein Gewicht doch nicht von dem auf der Verpackung angegebenen Gewicht pro Stück abweiche…Nein, tut er nicht. Aber schon allein auf die Idee zu kommen!!! Das können nur wir – Deutsche!

Entschuldigt mich für ein wenig Sarkasmus. Ich gebe zu, ich kann mit solchen Tests, Vergleichen und Fachgesprächen nichts anfangen. Ob der zubereitete Schweinebraten beim Rachs schön knusprig und saftig geworden ist, oder eher trocken und zäh, oder welche Erdbeeren frischer und fruchtiger sind, die vom Bauern oder welche aus dem Discountladen, spielt für mich überhaupt keine Rolle. Obwohl ich seit Jahren in Deutschland lebe, sind diese Gourmetansprüche immer noch fremd für mich. Ich bin ein Perestroika- Kind und habe ein anderes Verhältnis zu Lebensmitteln. Ich esse alles… und beklage mich nicht. Das ist einfach eine Gewohnheit, die man nicht mehr ablegen kann. Wie vieles anderes aus meinem früheren Leben im Osten.

XXX

Hin und wieder werde ich in meinem Bekanntenkreis nach dem Handel und der Versorgungslage in der Sowjetunion gefragt. Welche Lebensmittelgeschäfte und Märkte gab es in Russland? Wie viel Geld gab man durchschnittlich für das Essen und die Lebensmittel aus? Welche Marken und Speisen waren besonderes gefragt? Eine nicht ganz leichte Frage. Denn ich war damals nur ein Kind. Meine Bilder von damals sind oft brüchig und verschwommen. Nichtsdestotrotz prägen, selbst zwanzig Jahre später, die halbleeren Regale und die langen Warteschlangen vor den sowjetischen Läden immer noch meine Erinnerung. Dabei muss ich sofort an einen DDR-Witz denken, der auf jedes sozialistische Land von damals genau zutrifft: Warum hängt in jedem Metzgerladen im Osten mindestens eine Wurst im Schaufenster?- Na, damit man es nicht mit einem Fliesengeschäft verwechselt.

Da ist viel Wahres dran. Natürlich heißt es nicht, dass das Sortiment in den sowjetischen Geschäften immer nur aus zwei Artikeln oder einer Sorte bestand. So schlimm war es nun auch nicht. Es gab drei, vier Sorten Brot, zwei Sorten Baguette, zwei bis vier Arten von Süßbrötchen, zwei, drei Sorten Wurst, jedoch nur eine davon im Laden zu kaufen. Und so ähnlich in allen anderen Handelsbereichen: Kleidung, Haushaltswaren, Elektronik. Aber das war es dann auch schon, mit der Vielfalt und Auswahl des Sortiments im Osten. Das Angebot war bescheiden und überschaubar.

Das Einkaufen in den sowjetischen Lebensmittelläden, sofern es dort überhaupt etwas zu kaufen gab, (zumindest in den 80-ger Jahren) zählte für mich als Kind zu den unvergesslichen Erlebnissen. Es war ein anderes Einkaufen, als in den westlichen Geschäften, wie Aldi oder Rewe. So etwas wie Bäckerei im westlichen Sinne gab es nicht. Dafür aber große Brotgeschäfte mit riesen Buchstaben B R O T auf der Fassade. Alle Brotgeschäfte in unserer Stadt hießen B R O T und unterschieden sich nur durch die vergebenen Nummern. Es gab einige Fachgeschäfte für Brot, Fisch und Fleischwaren, aber auch gemischte Geschäfte, wie ein Gastronom, zum Beispiel.

Ein traditioneller sowjetischer Gastronomie-Laden bestand aus mehreren gekachelten Sälen, bzw. Verkaufsbereichen, die sich nach Warengattung, wie etwa Fleisch, Wurst, Obst, Milchprodukte, und etc. aufteilten. Wollte man sich zum Beispiel ein Stück Butter aus der Abteilung Milchprodukte besorgen, musste der Kunde sich zuerst in die Schlange anstellen und der entsprechenden Verkäuferin die gewünschte Menge ansagen. Diese ermittelte den Preis mit einem Abacus- Rechenbrett aus Holz und gab dem Kunden einen Waren-Bon, mit dem man an der Kasse bezahlen musste, für die es, wie anders zu erwarten …natürlich eine weitere, separate Schlange gab. Warum so einfach, wenn es auch schwer geht.

Dort wurden die Waren bezahlt. Anschließend kehrte man mit dem entwerteten Check oder Kassenbon zu der Verkäuferin zurück. Sie nahm den Zettel entgegen und spießte ihn auf eine lange Eisenspitze auf. Erst dann gab es die Ware auf die Hand. Also nichts mit Strichkode und ein Mal drüber ziehen an der Kasse, wie in Deutschland.

Die Butter wurde in riesen Blöcken aufgetragen und verkauft. Wenn man Glück hatte, wurde sie gerade ausgepackt und war noch sehr frisch. Dann wurde die Ware entsprechend der Menge auf dem Bon von der Verkäuferin aufgeschnitten. Die Verkäuferin, meistens ein vollbusiges und wohlernährtes Weib mit loser Zunge und enormem Durchsetzungsvermögen, agierte mit einem schwertförmigen Langmesser in der Hand, wie eine Göttin auf dem Olymp, die auf die Menschen argwöhnisch herabschaute. Von ihrer Laune und Gunst hing ab, welche Stücke vom Block man als Kunde abgeschnitten bekam.

Hoch begehrt waren natürlich die frischen Stücke von der Mitte. Dafür gehasst die alten Stücke vom Rand, die man auch meistens in die Hand gedrückt kriegte. Dafür gab es eine einfache Erklärung. Dort war die Butter bereits zu oft in der Sonne geschmolzen und sah ranzig und unappetitlich aus. Die Butter wurde in ein braunes Packpapier eingepackt und dem Kunden mit den Worten „Der Nächste!“ über die Theke gereicht. Bitte und Danke - Fehlanzeige.
Dass man dabei selbst stets darauf zu achten hatte, ob das Rückgeld wirklich stimmte und die Butter von der Verkäuferin auch korrekt abgewogen und berechnet wurde, brauche ich hier nicht zu erwähnen. Das gehörte zu der sowjetischen Realität und verstand sich von alleine.
Meine Großmutter, mit der ich meistens einkaufen war, lieferte sich heftige Kämpfe mit der Verkäuferin. Sie wollte lieber die Stücke aus der Mitte haben, womit meine Oma immer den Zorn und den Unmut der Verkäuferin auf sich zog. Denn ein Sowjetbürger hatte nicht wählerisch zu sein. Das passte nicht in das Konzept der allgemeinen Gleichheit. Mit ihrem Wunsch nach den Stücken aus der Mitte tanzte meine Großmutter eindeutig aus der Reihe und zeigte westlichen Egoismus und fehlende Solidarität mit der wunschlos glücklichen und völlig anspruchslosen Arbeiterklasse.

Abgesehen davon, war die Mitte bereits für die Bekannten und Familienangehörigen der Verkäuferin reserviert, was die Chance, diese Butter als Nicht-Auserwählte zu bekommen, zusätzlich erschwerte.
-Jeder will die Butter aus der Mitte haben, Bürgerin! -brüllte die Verkäuferin mit Befehlsstimme in der Halle.- Jetzt stellen Sie sich nicht so an und nehmen Sie die Randstücke, wie jeder hier.
- Aber ich bekomme die Butter doch nicht umsonst! Ich zahle Geld dafür. Dafür kann ich mir meine Stücke auch selber auswählen. Bitte! Jetzt kommen Sie schon! Geben Sie mir bitte doch ein Stückchen aus der Mitte, junge Dame, versuchte meine Oma es auf der diplomatischen Ebene.

Das Wort „junge Dame“ wirkte bei manch einer Verkäuferin wie ein wahres Wunder. Obwohl viele von ihnen, schon längst keine jungen Damen, sondern oft selber Omas waren, konnten sie der Ansprache „junge Dame“ nicht widerstehen und meine Oma bekam am Ende doch ihre frischen Stücke eingepackt.

Frische Milch gab es bei der Milchtante, einer Verkäuferin, die mit ihrer Karre und ihren Riesenbehältern täglich durch die Straßen unseres Viertels fuhr und (stark verdünnte) Milch von der Milchfabrik anbot. Man bekam als Kind ein riesen großes Glasballon und zwei, drei Nickel in die Hand und musste für die Familie 1-2 Liter bei der „Tante“ holen. Wer seine Milch lieber in Verpackung bekam, kaufte dreieckförmige Milchpackungen in dem Laden.
Der frischer Fisch wurde oft aus einem riesen Zisternenwagen mit zwei Deckeln direkt auf der Straße angeboten Dort stand ein finsterer Mann in grauen Gummischuhen. Er machte den Deckel auf und holte mit einem Riesenmetallnetz die lebenden Fische direkt aus dem Tank der Zisterne raus. Obwohl die Sowjetunion damals nahezu alle Fischarten der Welt in ihren Gewässern fischen ließ, gab es in den Läden meistens nur den billigsten Hering
An Fleisch, Wurst und Käse kam man oft nur durch Beziehungen, da es sie im offiziellen Handel kaum oder nur wenig zu kaufen gab. Man musste auch damit rechnen, dass nach mehrstündigem Warten in der Schlange, der gewünschte Artikel plötzlich alle war und man die Zeit umsonst investiert hatte. Brot und Nudeln gab es dagegen überall und an jeder Ecke. Kartoffeln und Obst holte man sich meistens auf dem Markt. Aber die Preise dort waren hoch.
Meine Mutter nahm mich gelegentlich zum Markt mit. Damit wurden gleichzeitig zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Unsere Vorräte wurden aufgefrischt und ich sparte mir mein Hanteltraining. Man kaufte gleich mehrere Kilos von jeder Ware und hatte ein paar Tage einen „ natürlichen“ Muskelkater.

Alle Verkaufshallen der großen Lebensmittelgeschäfte Gastronomen wurden nach sowjetischer Tradition mit hohen Pyramiden aus Büchsenfleisch und Thunfisch dekoriert. In der Süßwarenabteilung waren es große Marmeladengläser oder blaue Dosen mit sguschennoe moloko- Zuckermilch. Was man nicht in dem Laden bekam, gab es, wie ich schon sagte, auf dem Markt, aber dafür 4-fach teurer. Wenn der Preis für die Tomaten im städtischen Obst- und Gemüseladen sich auf 1,5 bis 2 Rubel pro Kilo belief, so kosteten die auf dem Markt, beim Privatmann, mindestens 4 bis 6 Rubel. Alle Lebensmittel waren sehr teuer und schwer zu kriegen und durften deshalb nur sparsam verzehrt werden. So sah ein gastronomischer Alltag in der Sowjetunion aus.

Zum Glück lebten die Eltern meines Vaters auf dem Land und konnten uns regelmäßig mit eigenen Erzeugnissen versorgen. Mein Vater besuchte sie zwei Mal im Jahr und brachte jedes Mal eine Ladung mit, die Eier, Butter, Quark, Fleisch und selbstkonservierte Gurken und Tomatengläser enthielt. Zu unserer größten Freude und auch der unseres Geldbeutels.
Wenn man keine Verwandten auf dem Land hatte, legte man sich am besten eine Datscha zu (ein kleiner russischer Schrebergarten), die die Familie im Herbst und im Winter mit eigenem Obst und Gemüse versorgte, dafür aber nahezu die gesamte Freizeit der Familie für den Rest des Jahres in Anspruch nahm. Das Wochenende und die Feiertage gehörten immer der Datscha. Auch bei mir. Wenn die Ernte endlich so weit war, egal ob Kartoffeln, Tomaten, Möhren, Kirschen, Himbeeren, Erdbeeren oder Äpfel, war es wichtig und ratsam, ab sofort etwas öfter auf dem Grundstück aufzukreuzen, oder da sogar zu übernachten, damit kein Anderer als der Feldbesitzer selbst, die Früchte der harten Arbeit erntete. Ein sehr verbreiteter Fall damals.

So etwas macht Einen für das Leben stark. Ein sowjetischer Konsument war damals ohne Zweifel der anspruchsloseste Kunde auf der ganzen Welt. Er fragte niemals nach der Qualität oder der Beschaffenheit eines Produkts, oder ob das Fleisch zu trocken oder zu fettig war. Man war glücklich und froh, dass man es überhaupt bekommen konnte. Jede weitere Frage dazu erschien uns damals einfach nur idiotisch und überflüssig. Fast herausfordernd.
Auch in der Schule lehrte man uns, Produkte und die Arbeit der Menschen, die diese herstellen, zu schätzen und zu respektieren. Das Essen war ein wertvolles Gut, das viel Geld kostete und dazu noch schwer zu bekommen war. Etwas nicht aufzuessen, wählerisch zu sein oder Lebensmittel wegzuschmeißen war ein Tabu und gehörte streng bestraft. Ich erinnere mich noch heute an einen Schüler aus der älteren Klasse, der beim Spielen auf dem Schulhof im Rausch ein Stück Brot auf den Boden fallen ließ. Er wurde aufgefordert das Brot aufzuheben und musste mit dem Schuldirektor an jeder Klassentür anklopfen und sagen, warum er bestraft wurde und sich jedes Mal bei den anonymen Arbeitern und Arbeiterinnen unseres großen und ruhmreichen Landes, die für dieses Brot hart geackert und geschuftet hatten, aufrichtig entschuldigen. Eine Strafe, die uns damals sehr hart aber auch sehr lehrreich und fair erschien.
Als Ende der achtziger Jahre die Lebensmittelkarten für das Essen, die so genannten Talons, eingeführt wurden, häuften sich die Fälle, in denen Schüler der Oberklasse den Grundschülern und den schwächeren Schülern, ihre Frühstücksbrote in der Pause abnahmen. Auch sonst bekam man oft neidische Blicke von der Seite, wenn man seine Schnitte mit Wurst aus der Schultasche rausholte.

Das Essen im Restaurant gab es nur zu unerschwinglichen Preisen und war deshalb immer ein gesellschaftliches Ereignis und kein „bloßes“ Essen. In den Kantinen gab es nur billige und meistens eintönig und lustlos zubereitete Gerichte. Dabei war es kein seltener Fall, wenn das eine oder andere Gericht auf dem Papier im Menü zur Auswahl stand, tatsächlich aber nicht bestellt werden konnte, weil die meisten Zutaten für seine Zubereitung fehlten. Und zwar sowohl in den billigen Kantinen als auch in teuren Restaurants.

Wer etwas mehr Geld und Beziehungen hatte und sich gelegentlich Wurst, Käse und Fleisch leisten konnte, war zu beneiden und galt als wohlhabend und reich. Und Sachen wie Joghurt oder Bananen habe ich erst in Deutschland kennengelernt.

Kein Wunder, dass ich seitdem bei der Frage nach traditioneller russischer Küche und diesen kulinarischen Raffinessen im TV jedes Mal in Verlegenheit gerate. Eine Frage, auf die ich immer noch keine Antwort habe. Traditionelle russische Küche kenne ich nicht. Weder damals noch heute. Natürlich gibt es sie, die traditionelle russische Küche. Eine deftige Küche, die Rezepte für exotische Fisch- und Fleischgerichte und andere erlesene Speisen aus der Küche der Zaren, der Kaufleute oder des Adels enthielt. Jedoch habe ich noch nie auch nur ein Gericht davon gesehen. Diese Küche wurde vergessen und lebte nur auf den Seiten der Kochbücher. Im Alltag selbst war sie nicht zu finden. Höchstens nur bei der Kreml-Elite.
Auch gab es in der Sowjetunion kaum Kochbücher. Man wollte die Menschen nicht unnötig reizen. Ich erinnere mich nur an ein einziges davon. Besonders in den 80-ger Jahren und in der Zeit des chronischen Defizites erschien sein Titel „Das große sowjetische Buch vom gesunden und leckerem Essen“ fast schon spöttisch oder zynisch gegenüber der eigenen Bevölkerung. Es stand, sofern es in einem Haushalt überhaupt gab, auf dem Regal zu rein dekorativen Zwecken. Man konnte nur wenige Gerichte daraus selber nachkochen, weil das eine oder andere Produkt dafür meistens fehlte.

Ich weiß nicht ob man beim Bortsch-(Rote Bete-Suppe), Olivierkartoffelsalat, Venigret,- (Rote-Bete Salat), Pelmeni-(Teigtaschen mit Fleisch), Blini-(Pfannkuchen) oder Buchweizen-Grütze, von einer traditioneller russischen Küche sprechen kann. Wohl eher von einer sowjetischen Alltagsküche. Ihr Menü war sehr einfach, sättigend und überschaubar und nicht zuletzt von der Marktlage und den eigenen Möglichkeiten abhängig. Da hieß es wohl buchstäblich: Man isst das, was man ist.

Dagegen ist Deutschland das reinste Gastronomie- und Lebensmittelparadies. Hier gibt es hunderte Gerichte und Tausende Lebensmittelsorten. So viele, dass kuriose Geschichten für Ausländer hier einfach vorprogrammiert sind. Wie bei dem Jagdkumpel meines Vaters…

XXX

Der Bekannte meines Vaters, der schon seit Jahren in der Metzgerbranche tätig ist, beklagte sich einmal über einen seiner russischen Auszubildenden, der seiner Meinung nach immer noch viel zu schlecht Deutsch verstand, obwohl er bereits seit 4 Jahren in Deutschland lebte.
-„Überleg dir Mal Sascha“! -beklagte er sich lautstark bei meinem Vater!“ Ich sage, Junge! Vitali! Schneide mir bitte 500 Gramm Kasseler für den Kunden! Und der Vitali schaut mich wie der Ochse vorm Berg an. Sage ich 100 Gramm Schwarzwälder Schinken zu ihm, rührt er sich ebenfalls nicht von der Stelle. Lyoner, Kochschinken, Bierschinken, Lachsschinken, Serrano-Schinken, Parmaschinken, Aspik-Schinken, Rohschinken, Paprika, Mett, Geflügel, Mortadella oder Blutwurst. Ich lese nur Bahnhof in seinen Augen! Als wollte er mir sagen, keine Ahnung, was du die ganze Zeit von mir willst. Ich sage dir! Dieser faule Sack muss dringend etwas für sein Deutsch tun. Der Typ versteht mich überhaupt nicht! So schafft er es niemals in diesem Beruf.

Hier sieht man schon mal ganz deutlich den Unterscheid zwischen Osten und Westen. Dem Metzger kam es nie in den Sinn, dass dieses Missverständnis nie an der Sprache, sondern allein daran lag, dass Vitali ( wie fast alle in meiner Generation) mit nur drei Wurstsorten aufgewachsen ist, von denen es im Laden nur eine Sorte zu kaufen gab und er die Wurst bis jetzt nur als Wurst und nicht als Kasseler, Schwarzwälder oder Kochschinkenwurst kannte und nur deswegen Bahnhof verstand. Er kannte die Worte aber nicht, was er sich darunter vorstellen sollte.

Tja. Da haben wir diese Qual der Wahl. Auch die Deutsche Sprache ist davon betroffen. Wenn man beim Lernen der deutschen Sprache sich allein auf die Bezeichnungen von Lebensmittel und Speisen beschränken würde, hätte jeder Ausländer locker mindestens 2 000 Wörter zu lernen. Ihr glaubt mir nicht? Hier habe ich ein Paar Beispiele dazu:
Pasteten: Nusspastete, Trüffelleberpastete, Leberpastete, Rehpastete, Steinpilzpastete, Wildschweinpastete, Zwiebelpastete, Gänsepastete Preiselbeerenpastete und so weiter und so weiter.

Bratwurst: Bärlauchbratwurst, große Bauernbratwurst, Thüringer Bratwurst, Berliner Bratwurst, Kalbsbratwurst, schlesische Weihnachtsbratwurst, Chilibratwurst, und so weiter, und so weiter
Würstchen: Wiener Würstchen, Frankfurter Würstchen, Rindwürstchen, Geflügelwürstchen, Bayrische Weißwürstchen, Käsewürstchen, Leberwürstchen…Habt ihr schon Hunger?

Dann zum Käse: Gouda, Edamer, Tilsiter, Butterkäse, Ziegenkäse, Allgäuer Emmentaler, Maasdamer, Bergkäse, Schweizerkäse, Hartkäse, Schnittkäse… und das ohne Exoten wie Camembert, Gorgonzolla, Mozarella, Parmesan oder Feta-Käse.

Brot: Paderborner, Land und Bauernbrot, Roggenbrot, Weizenbrot, Maisbrot, Berliner Landbrot, Kornbrot, Vollkornbrot, Kürbiskernbrot, Kommissbrot, Heidebrot, Frankenlaib, Kasseler Brot, Bayerisches Brot, Rheinisches Brot, Oldenburger Brot, Pumpernickel, Münsterländer Stuten, Kartoffelbrot, Malzkornbrot…Und so weiter und so weiter.

Und zu guter Letzt Kuchen: Obstkuchen, Marmorkuchen, Käsekuchen, Herrenkuchen, Sandkuchen, Rührkuchen, Hefekuchen, Pflaumenkuchen, Himbeerkuchen, Erdbeerkuchen, Blechkuchen, Bienenstich, Rosinenkuchen, Schokoladekuchen, Streuselkuchen, Nusskuchen, Rosinenstollen, Apfelkuchen, Zitronenkuchen, Schmandtorte, und so weiter und so weiter.

Dabei haben wir nur von den gängigsten Sorten im Discountgeschäft gesprochen. Ja! Versteht ihr jetzt das Problem? Das hat überhaupt nichts mit der Sprache zu tun. Hallo! Der Junge muss das alles erstmal lernen! Vor allem SEHEN und PROBIEREN!!! Die Hälfte davon habe ich selbst noch nicht durch. Von wegen man versteht hier nur Bahnhof. Diese Vielfalt ist an allem schuld!

In Deutschland wird man generell überall vom Essen begleitet. In den Bahnhöfen und Flughäfen gibt es dutzende Läden und Verkaufsstände, in denen man jederzeit den „kleinen Hunger“ stillen kann. Auf den Gleisen begegnet man ständig einem Getränke oder- Snackautomat, der den Gaumen erneut in Versuchung bringt. Im Flugzeug oder ICE Zug gibt es fast immer ein Bistro oder Bordrestaurant und hübsche Stewardessen oder Zugbegleiterinnen schieben schon kurze Zeit später den vollen Speisenwagen durch die Gänge. Und dann diese Wahnsinnsmenge an Bars, Lokalen, Restaurants, Grillständen und Lebensmittelgeschäften! Und das in fast jeder Einkaufsstraße und Gasse der Stadt.

Das leibliche Wohl, der Kundenservice und der Komfort haben im Land der Dichter und Denker eine lange Tradition. Ich denke da nur an die Garküchen und Kneipen des Mittealters, in denen der Wanderer schon damals Bett und Tisch, sowie Speis und Trank in jeder Stadt für Kleingeld zur Verfügung gestellt bekam, so dass er landesweit bequem und günstig reisen konnte, während man sich in vielen Teilen der Welt seine Mahlzeit zunächst mit Bogen und Pfeil erjagen musste.

Und großzügig sind die Deutschen auch. Das muss man sagen. Die Portionen hier sind in den meisten Fällen riesig und alle Teller haben die Größe eines Ritterschildes. Anders als in manchen Ecken Europas. Das hat ein russischer Journalist, der in der Bundesrepublik eine Doku-Reihe über Deutschland drehte, hier am eigenem Leibe erfahren, als er im Freistaat Bayern ein Maß Bier und „etwas Typisch Deutsches“ bestellte … und eine Riesenschüssel mit dampfender Schweinshaxe und Sauerkraut von einem wohl gestalteten Frauenzimmer im Dirndl gebracht bekam.

–„ Ist das die Portion für einen Menschen?“- wollte der Russe schockiert wissen, als er die Riesenkeule auf seinem Teller sah.
–„Sagen wir eher, für einen Bayern“- antworteten die Deutschen und lachten sich still ins Fäustchen, während der Reporter mit diesem Fleischberg kämpfte.
Ja. Beim Essen denken die Deutschen immer praktisch. Deftig und lecker müssen die Gerichte sein, wenn es geht, gesund und exquisit, aber große Portionen und natürlich günstig. Das Preis-Leistungsverhältnis. Das muss einfach stimmen. Das macht einen Deutschen zufrieden und glücklich. Gutes Essen zu einer festgeschriebenen Zeit (Ordnung muss sein), das war den Deutschen schon immer wichtig. So wichtig, dass sie unter keinen Umständen auf ihre Mahlzeiten verzichten möchten. Weder in der Vergangenheit, noch in der Zukunft. Nicht einmal beim Weltuntergang, nicht einmal im Krieg.

Das musste der preußische König Friedrich Wilhelm I erst bitter lernen. Dem Vater des künftigen Friedrich des Großen, dem trotz seiner eigenen Größe und Bedeutung, in der Geschichte nur der bescheidene Titel „Soldatenkönig“ verliehen wurde, wird diese kuriose, aber angeblich historisch belegte, Episode nachgesagt.

Beim Pommernfeldzug wollte der ungeduldige König seine Soldaten auch nach einem sechsstündigen Marsch weiter in Richtung feindliche Linien marschieren lassen, als einem seiner Grenadiere der Kragen platzte. Dieser setzte sich einfach auf den Boden, ließ die Waffen nieder und griff entschlossen zum Feldranzen, in der klaren Absicht dort ein Biwak aufzuschlagen.

Als der preußischer Soldatenkönig voller Empörung den frechen Söldner an seine Dienst und- Vertragspflichten erinnerte und ihn fragte, was ihm einfiele, den größten Feldzug der Preußischen Geschichte ohne triftigen Grund zu behindern, ließ der sichtlich genervte Grenadier diesen berühmten Satz fallen, der seitdem, warum auch immer, dem König Friedrich Wilhelm selbst zugeschrieben wird:

-„Komm schon! Lass es Gut sein für heute, Fritzchen. Krieg ist Krieg, aber gegessen wird pünktlich!“

Was soll man noch dazu sagen? So sind wir - Deutsche!


Ende

Roman Dell
01.05. 2014- 09.06.2014


*Quelle: »Schein und Sein«, 1899-1907, Erstdruck München: Lothar Joachim, 1909
http://www.aphorismen.de/suche?f_thema=Essen&seite=59
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Beitrag von zuzu »

Ich finde Deutschland zur Weihnachtszeit besonderes schön. Im Fernsehen laufen Kinder- und Märchenfilme, Pralinen und Weinbrandhersteller werben mit neuesten Kreationen, Häuser und Straßen werden feierlich dekoriert. Das ganze Land verwandelt sich für wenige Wochen in ein funkelndes Wintermärchen.
Auch wenn ich mich inzwischen an diese jährliche Verwandlung gewöhnt habe, spüre ich trotzdem jedes Mal etwas Magisches und Spannendes in der Luft und komme mir vor wie ein Kind in Erwartung eines Wunders. Vor einem Jahr hat diese feierliche Stimmung mich zu einer Weihnachtsgeschichte „ Deutschland –(k)ein Wintermärchen“ inspiriert, die tatsächlich ein wahres Wunder in meinem Leben vollbrachte. Bei einer öffentlichen Lesung, bei der ich mit dieser Geschichte aufgetreten bin, lernte ich eine der Gründerinnen der Gelsenkirchener Geschichten kennen und bekam die Möglichkeit, meine Geschichten in diesem Portal monatlich zu veröffentlichen. Nun ist das Jahr fast vorbei. In dieser Zeit wurde die Seite mit meinen Geschichten rund 1883 Mal angeklickt, was mich glauben lässt, hier eine feste Lesergemeinde gefunden zu haben. Ich wünsche den Gründern der Seite und allen Menschen, die meine Geschichten hier regelmäßig veröffentlichen und verfolgen, eine schöne und besinnliche Weihnachtszeit und schenke euch diese Weihnachtsgeschichte, die zuerst nur im 6. Forum-Brief 2013 für die Mitglieder der Gelsenkirchener Geschichten veröffentlich wurde, bevor sie hier und heute ihre zweite Premiere feiert.

Diejenigen, die diese Erzählung und ihren Autor live erleben möchten, lade ich ganz herzlich zu einer Weihnachtslesung von mir ein. Diese findet am 17. Dezember 2014 von 16.30 –17.30 Uhr im AWO Seniorenzentrum (1 Stock, Multiplikationsraum ) ; Darler Heide 59 in Gelsenkirchen-Erle statt. Der Eintritt ist wie immer FREI.
Allen anderen wünsche ich viel Vergnügen beim Lesen und lasse euch über etwas nachdenken, das auch gleichzeitig das Thema dieser Geschichte ist: Ist Deutschland (k)ein Wintermärchen?



[center]Deutschland. (K)ein Wintermärchen?


(Kurzgeschichte)


XXX
[/center]

Die Deutschen mögen keinen Winter. Das ist historisch bewiesen. Diese lausige Kälte, Eisregen und grauer Himmel. Wer wird schon dabei nicht krank oder depressiv? Kein Wunder, dass selbst der große Dichter Heinrich Heine von dieser dunklen Jahreszeit so mitgenommen war, dass er während der gesamten Deutschland-Reise, sich nur noch über die Menschen und die Missstände im Land zu beklagen hatte und dabei solch unerfreuliche Zeilen, wie diese, schrieb:


Noch immer das hölzern pedantische Volk,
Noch immer ein rechter Winkel
In jeder Bewegung, und im Gesicht
Der eingefrorene Dünkel.


Dabei sehnt sich die deutsche Seele regelrecht nach Sonne und Wärme. Schnee und Frost kann sie nicht gebrauchen. Auch meine Kollegen im Büro. Als heute Morgen der erste Schnee auf die grauen Pflastersteine der Stadt fiel, sorgte dieser plötzliche Winterausbruch sofort für eine heftige Diskussion. Manch einer findet den Schnee richtig toll, der andere wiederum überhaupt nicht. Die Letzten bilden bei uns eine absolute Mehrheit. Daher bin ich der Einzige, der sich an den schneeweißen Straßen und Feldern Gelsenkirchens erfreut. Meine Kollegen hassen Schnee. Wenn es nach ihnen gehen würde, würden sie das Wetter am liebsten, wie in einem Katalog, ganz nach ihren persönlichen Wünschen und nach ihrem Bedarf per Mausklick bestellen. So auch der smarte Kollege mit einem Stapel Papiere, der zu uns täglich auf einen Small-Talk vorbei kommt:
-Meine Kinder sind schon groß. Daher bin ich nicht so für Schnee. Zwei Tage Schnee im Jahr, am besten direkt vor Weihnachten, würde mir völlig reichen. Vor allem wenn ich zu Hause bin und nicht zur Arbeit muss. Dann passt das schon. Sonst muss ich mein Auto kratzen. Bei der Kälte! Igitt! – beklagt er sich laut über die zugefrorenen Fensterscheiben. Für ihn ist der Winter der Inbegriff einer Katastrophe.

Der andere Mitarbeiter, ein solider Herr mit Hornbrille, ist auch ganz seiner Meinung.
- Silvester darf es, meinetwegen, noch einmal richtig schneien, damit die Kinder auch ihre Späßchen haben. Aber dann ist Schluss. Sonst wird mir der Winter zu nervig und zu ungemütlich. Glatt, kalt, schmutzig. Was ist daran schön?- stellt er gereizt und kategorisch fest.

Das ist die Meinung der meisten. Leider sorgt der Schnee in Deutschland kaum für Freude, aber sehr wohl für Ärger und Aufregung. Allein bei dem Wort Schnee ziehen die meisten Deutschen sofort lange Gesichter. Nasse Schneeflocken, dicke Eiszapfen, Glatteis und niedrige Temperaturen. Darüber kann sich wirklich nur ein Russe freuen. Die Deutschen lässt der Winter völlig kalt. Und wenn es einmal tatsächlich schneit, klappt in der Bundesrepublik überhaupt nichts mehr.

Post und Straßenbahn sind chronisch zu spät, TV-Empfang funktioniert nicht, örtliche Geschäfte und Restaurants haben Lieferengpässe und im Baumarkt fehlt es an Streugut und Salz. Auf der Autobahn häufen sich die Unfälle. Der Stadtverkehr ist schön längst kollabiert. Die hupenden Autos rühren sich kaum von der Stelle. Aber auch die Passanten bewegen sich wie auf einem Minenfeld. Der Wetterbericht verspricht nur wenig Positives. Es herrscht Ausnahmezustand. Der Deutsche flucht und ich kann es nicht fassen. Ein bisschen Schnee… wirft eine ganze Zivilisation aus der Bahn.

Dabei ist Deutschland vor allem zur kalten Weihnachtszeit besonderes schön. Im Fernsehen laufen Kinder-und Märchenfilme, Pralinen und Weinbrandhersteller werben mit neuesten Kreationen, Häuser und Straßen werden feierlich dekoriert. Die Menschen sind auf der Jagd nach Schnäppchen und Geschenken. Die sonst halbleeren Straßen der Stadt sind abends wieder voll. Schaufenster und Vitrinen locken mit Angeboten und sorgen bei Jedermann für Träume und Phantasien. Es riecht nach gebratenen Mandeln und frischer Bratwurst, gezapftem Bier und heißem Glühwein, Zimtplätzchen und Schokolade. So schmecken Winter und Weihnachten in Deutschland.

Als ich vor achtzehn Jahren hierher kam und zur Weihnachtszeit über die Bahnhofstraße in Gelsenkirchen lief, erschien mir Deutschland auch wie ein Wintermärchen. Was ich hier zu sehen bekam, erinnerte mich sofort an die kitschigen Bildmotive auf den Dosen mit Nürnberger Keksen, die meinen allerersten Eindruck über Deutschland in der Sowjetunion prägten. Große Gotik-Kirchen und Männer und Frauen in altdeutscher Tracht. „Dieses Deutschland“, wollte ich jetzt mit eigenen Augen sehen. Ich weiß noch, wie ich damals plötzlich vor dem Schaufenster eines großen Ladens stehen blieb und meinen Blick von der Glasvitrine nicht abwenden konnte. Dort standen ein Stier, eine Kuh und ein Kalb dicht beieinander. Eine richtige Tierfamilie in Echtgröße...

Obwohl sie keine „echten“ Tiere waren, sahen sie täuschend echt und lebendig aus. Hin und wieder, drehten die Tiere ihre mechanischen Köpfe zum süßen Nachwuchs und schauten ihn und mich rührend an.
Diese Dekoration war ein Meisterwerk. Sie wurde mit so viel Liebe und Aufwand gemacht, dass ich mich erneut über die Deutschen und ihre Tugenden wundern musste. Wie schafften sie es, in ihrer Welt der Erwachsenen, immer noch solche Kinder und Jecken zu bleiben, und so etwas Lustiges und Verrücktes zu machen? Diese Deutschen, die man überall auf der Welt für steif und pedantisch hält. Das Schaufenster im Geschäft bewies mir das Gegenteil. Ich fühlte mich von dieser Kreation sprachlos und bezaubert. So etwas Schönes und Fröhliches hatte ich noch nie gesehen.

In der Sowjetunion wurden die Straßen zu Silvester zwar auch geschmückt, aber bei weitem nicht so prächtig und raffiniert wie hier. Es gab einen riesen Weihnachtsbaum auf dem zentralen Platz in der Stadt, hier und da ein Paar Papier-Girlanden, aber so eine lebensechte Kuhfamilie in den Glasvitrinen der Kaufhäuser, bunte Lichterketten und Schmuck… Das ging zu weit. So viel Aufwand hielt bei uns kein Mensch für nötig und angebracht. Die Schaufenster der Deutschen zeigten Winter in seiner ganzen Pracht: Schnuckelige Fachwerkhäuser mit zugeschneiten Dächern, fröhliche Jungen und Mädchen mit Schlittschuhen und Skiern, Männer und Frauen im Stall, die den kleinen Jesus in seiner Wiege betrachteten. Man fühlte sich von der Kraft dieser Bilder umgehauen.

Von dem Tag an wusste ich, dass Weihnachten der wichtigste Feiertag der Deutschen ist. Sie warten und leben ein ganzes Jahr nur für diese drei herrlichen Tage. Umso weniger, kann ich deshalb, ihre Abneigung gegenüber dem Schnee nachvollziehen. All diese idyllischen Winterbilder im Schaufenster zu platzieren und gleichzeitig nichts von der natürlichen Schönheit dieser Jahreszeit wissen wollen. Das macht für mich überhaupt keinen Sinn. Wozu dann ein solcher Aufwand?

Dabei sieht der Winter ohne Schnee irgendwie künstlich und unecht aus. Zumindest für mich. Ich liebe Schnee und genieße jedes Flöckchen. Es erinnert mich an das andere Leben, damals, in Russland. Obwohl meine Familie im Süden des Landes lebte, gab es da trotzdem sehr viel Schnee. Als Kinder waren wir immer froh, wenn die Wärmeleitungen in der Schule regelmäßig platzten. Das bedeutete für uns Kinder meistens schulfrei. War der Schaden jedoch schnell reparierbar, wurde der Unterricht mit Mänteln und Mützen weiter geführt. Obwohl es bitterkalt war, spielten die Meisten von uns gerne draußen. Diese weiße Pracht machte uns Kinder ausnahmslos verrückt vor Glück. Man lieferte sich gegenseitig kleine Schneeballschlachten oder machte Zielschießen auf die Eiszapfen an den Schuldächern. Zwischen den Kämpfen wurde fleißig gebaut. Eine Festungsmauer oder einen Schneemann, den man in Russland, warum auch immer, in der Umgangssprache das Schneeweib nennt.

Es fühlte sich so herrlich und schön an, an einem sonnigen Tag raus zu gehen und die angenehmen Nadelstiche des Frostes auf den Wangen zu spüren. Die meisten Kinder wollten gar nicht nach Hause. Erst unter Androhung von Schlägen schafften es die Eltern, ihre Töchter und Söhne wieder nach Hause zurück zu holen. Dort wartete schon ein Teller dämpfenden Bortsch auf uns, der ohne wenn und aber in unseren Kindermägen verschwand. Als „Nachtisch“ gab es eine Portion sowjetischer Zeichentrickfilme, die zu einer bestimmten Senderzeit abends im Fernsehen liefen. Zu meinen Lieblingsfilmen zählten „Die Schneekönigin“ von H.C. Andersen und alle Folgen von „Hase und Wolf“- einer sowjetischen Zeichentrickserie im Stile von Tom und Jerry. Ein recht einfaches und dennoch sehr glückliches und erfülltes Kindesleben.

Als ich dann eines Tages nach Deutschland kam, hatte ich zunächst kaum Zeit, den Winter und den Schnee zu vermissen. Im Siegerland, in dem ich die nächsten vier Jahre meines Lebens verbringen sollte, gab es auf Grund seiner geografischen Lage immer genug Eis und Schnee. Manchmal ging ich nach draußen, streckte meine Arme aus und ließ die nassen Schneeflocken auf die Handflächen fallen. Dabei dachte ich stets an Russland, an meine Kindheit und an das Leben danach oder betrachtete, wie alles um mich herum langsam weiß wurde.

Unser Heim lag direkt in einem Wald und dies begünstigte meine Winterträume und -phantasien. Vor allem jene, die schaurige Ritterburgen und dunkle Wälder Germaniens betrafen, von denen ich als Kind so viel in den Romanen und Geschichtsbüchern gelesen habe. Ich fühlte mich wie ein Entdecker, der dieses Neuland Schritt für Schritt für sich erschließen will. Also machte ich lange Spaziergänge durch die Täler und die Hügel Hilchenbachs, die das Schülerwohnheim wie einen breiten Gürtel umarmten. Leider fand ich dabei keine Schlösser und Ritterburgen. Dafür machte ich aber eine andere Entdeckung…

Eines Tages stieß ich auf eine Anhöhe, von der man auf die gesamte Stadt blicken konnte. Nicht nur unser Schülerwohnheim, ganz Hilchenbach, nein, das ganze Siegerland lagen da praktisch vor mir Ich stand an der Spitze, atmete tief die kalte Luft ein und genoss diesen atemberaubenden Blick. Es war ein Märchen und Realität zugleich. Plötzlich fühlte ich mich von einem Glücksgefühl erfasst. Diese Landschaft war ein Meisterwerk der Natur. Kein Herz konnte vor ihrer Schönheit verschlossen bleiben oder widerstehen. In diesem Augenblick war Deutschland kein Ausland mehr.

Damals ging ich irrtümlich davon aus, dass es in jeder Ecke Deutschlands immer einen solchen Winter gibt und wurde vom Winter in Gelsenkirchen zuerst enttäuscht. Hier im Ruhrpott sah es nicht immer so weiß aus. Umso mehr freute ich mich, als es eines Tages auch in Gelsenkirchen zu schneien begann. Aber meine Freude war sehr kurz. Kaum war die Kronprinzenstrasse in Weiß gekleidet, sah ich schon erste Menschen mit Schneeschieber und Besen in der Hand laufen, die sich fleißig auf die Arbeit stürzten und diese Schönheit und dieses Wintermärchen binnen einer halben Stunde verschwinden ließen.

Ein Freund meines Vaters klärte mich über diese „Barbarei“ auf. Er sagte, dass nach den deutschen Gesetzen die Gehwege vom Schnee frei zu räumen sind. Würde der Hausbesitzer dieser Pflicht nicht nachkommen und jemand bräche sich dabei das Bein, würde er dafür finanziell aufkommen und dem Geschädigten ein Schmerzensgeld zahlen müssen, wenn man ihn beim Gericht verklagte.

Wie so vieles in Deutschland, zählte auch dieses zu den Dingen, die man als Fremde zunächst ungewöhnlich findet und kaum nachvollziehen kann. Und so schaute ich weiter erstaunt zu, wie die Deutschen ihren Winter mit eigenen Händen vernichteten.

Inzwischen habe ich mich schon daran gewöhnt, dass man in Deutschland den Schnee sofort weg räumt. Auch finde ich das nicht mehr eigenartig oder sonderbar. Wie sagt man so schön: Anderes Land, andere Sitten. Und man lernt mit jedem Jahr ein bisschen dazu. Aber damals erschien mir die Handlung der Deutschen unbegreiflich. In Russland würde kein Mensch auf die Idee kommen, die Gehwege vom Schnee zu räumen. Die Autostraßen und Straßenbahnschienen wurden vom kommunalen Reinigungsdienst betreut, aber um den Privatsektor kümmerte sich der Staat ganz und gar nicht. Auch die Anwohner selbst nicht. Hier zählte der Schnee zu etwas Natürlichem und Unvermeidbarem. Dabei gingen die Staatsmänner stark davon aus, dass jeder sowjetischer Bürger gute Augen und genügend Gehirnzellen besaß, um mit Eisglätte und Schnee allein fertig zu werden. Und wenn es nicht klappte, war man folglich zu doof und deshalb selber schuld. Keiner wäre dabei auf den Gedanken gekommen, sich über so etwas bei der Politik und der Stadtverwaltung zu beschweren.

Dabei zeigten die Russen wie immer einen erfinderischen Geist. Ein sowjetisches Wissenschaftsmagazin für Kinder und Jugendliche,- Technika Molodjeschi - empfahl den Passanten, die Sohlen ihrer Schuhe mit dem benutzten Deckel von benutzten Sprotten- und Konservendosen zu verstärken. Angeblich half es gegen das Rutschen im Winter.

Als ein gutes Oktoberkind oder Pionier bekam man von den Lehrern und der Schule die Anordnung, älteren Menschen in der Not zu helfen, die ich schon bald in die Tat umsetzen konnte.
Meine Schulklasse unternahm einen Kinobesuch um sich einen Film über die Großtaten der Oktober-Revolution anzuschauen. Auf dem Rückweg sah ich eine einsame Babuschka - eine ältere Frau - auf dem Glatteis kauern. Und schon meldete sich mein sowjetisches Pflichtgefühl. Also eilte ich zu der Frau und griff ihr bereitwillig unter die Arme. Ich wollte ihr nur helfen. Sonst nichts. Doch anstatt mir für meine Hilfe zu danken und zu versuchen, langsam aufrecht zu stehen, rutschte die Frau immer weiter aus, bis sie schließlich aufs Eis fiel. Und ich mit ihr auch.
Dabei bekam ich jede Menge Schimpfwörter von ihr zu hören. Die wütende Oma verlangte von mir, dem jungen Bengel, sie in Ruhe zu lassen und nicht weiter zu belästigen, während meine Schulkameraden unserer Lehrerin brav nachliefen. Sie schien nur wenig von der Hilfepflicht eines sowjetischen Schülers zu halten.

Der Winter in Russland verlangte von dem Bürger ein paar grundsätzliche Sicherheitsregeln. Zum Beispiel auf keinen Fall sich in der Nähe von Dächern von großen Häusern aufzuhalten, weil man dabei das Opfer eines Eiszapfenabsturzes werden konnte. Autobesitzer, von denen es damals, anders als heute, nur eine Handvoll glückliche Rentner und Parteimitglieder gab, stellten ihr Auto vorsichtshalber in die Garage und stiegen auf die öffentlichen Verkehrsmittel um. Diese kamen zwar notorisch zu spät, aber über so eine Kleinigkeit stört sich in Russland wirklich keiner. Wichtig ist, dass überhaupt noch etwas funktioniert. Die Wenigen, die nicht auf ihr Auto verzichten konnten, ließen den Motor ihrer Ladas und Schiguli über Nacht laufen, wenn sie am nächsten Morgen noch mobil und auf Rädern sein wollten. Wir Fußgänger bewegten uns ganz langsam und blieben auf der Hut. Meistens reichte das schon vollkommen aus, damit nichts Schlimmeres passierte.
Nicht destotrotz begegnete man dem Winter immer mit fröhlichem Herzen. Alle Russen lieben diese Jahreszeit. Fast jedes dritte Gedicht in der russischen Klassik ist dem Winter und dem Schnee gewidmet und wird dabei nur noch von dem Herbst übertroffen. Dieser wird nämlich in jedem zweiten Gedicht geehrt. Obwohl der Staat und die Behörden kaum etwas gegen den Schnee unternahmen, gab es deswegen noch lange kein Chaos oder Ausnahmezustand. In unserem robusten Leben schien alles trotzdem, oder vielleicht auch deshalb, immer noch zu funktionieren.

Gerade dieses Phänomen lässt mich im hochentwickelten Deutschland am meisten staunen. Obwohl es hier bei weitem nicht so viel Schnee wie in Russland gibt und man sonst immer bemüht ist, an alles Mögliche und Unmögliche zu denken, wird man jedes Jahr vom Winter „kalt erwischt“. Drei Flöckchen Schnee genügen und schon scheint nichts mehr zu funktionieren.
Ich persönlich rege mich nie über Schnee auf. Das wäre genauso sinnlos, wie sich darüber aufzuregen, dass es auf der Welt Sonne oder Mond, Tag oder Nacht, Hitze oder Frost gibt. Diese Dinge sind feste Bestandteile unseres Lebens. Sie und nicht wir bestimmen den Ablauf des Universums. Und es wäre nichts Trauriges für mich, wenn unsere Welt eines Tages so weit käme, dass unsere Kinder Winter nur noch aus Bilderbüchern kennen würden. Ich heiße den Winter gerne willkommen und freue mich, dass die Natur sich nicht über Knopfdruck und auf Wunsch der Menschen bedienen lässt. Stattdessen denke ich an das verschneite Deutschland und stelle mir das bayerische Märchenschloss Neuschwanstein im Winter vor, spaziere gedanklich über die weißen Hügel und Täler des Sauerlands oder lasse mich von den geschmückten Straßen des Ruhrgebiets, wie damals, verzaubern und sage mir: Deutschland! Du bist wunderschön!
Dabei erinnere ich mich an die anderen Verse von Heinrich Heine. Verse, in denen er den Winter ausnahmsweise etwas gemütlicher und kuscheliger beschreibt. Warme und schöne Verse.

Draußen ziehen weiße Flocken
Durch die Nacht, der Sturm ist laut;
Hier im Stübchen ist es trocken,
Warm und einsam, stillvertraut.

Sinnend sitz ich auf dem Sessel,
An dem knisternden Kamin,
Kochend summt der Wasserkessel
Längst verklungene Melodien.

Und ein Kätzchen sitzt daneben,
Wärmt die Pfötchen an der Glut;
Und die Flammen schweben, weben,
Wundersam wird mir zu


Welcher deutsche Dichter könnte noch so schön und so zärtlich über den Winter und den Schnee in Deutschland schreiben? Mir fällt jedenfalls niemand ein. Im Übrigen muss ich Sie jetzt kurz verlassen. Mein wachsamer Nachbar klopft an der Tür. Ich muss meiner Bürgerpflicht nachkommen und vor dem Haus fegen, damit nichts passiert. In der Zwischenzeit könnt ihr noch einmal das Gedicht lesen und über eine Frage nachdenken, auf die schon der Große Dichter Heinrich Heine damals keine eindeutige Antwort fand: Ist Deutschland (k)ein Wintermärchen?

Ende

Roman Dell

15.12.2012-10.02.2013


Quellen:

http://www.medienwerkstatt-online.de/lw ... hp?id=3844
Zuzu

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