Anna Spiekermann
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Anna Spiekermann
Anna Spiekermann (um 1670-1706)
- das letzte Opfer der Hexenverfolgung im Vest Recklinghausen
Die Bauerschaft liegt nordöstlich des Rhein-Herne-Kanals zwischen Horster Straße und Kurt-Schumacher-Straße. Östlich der Theodor-Otte-Straße steht das Haus Spiekermann. In der Nähe des Hofes befand sich das Geburtshaus der Anna Spiekermann. Sie wurde als letztes Opfer einer fast zweihundertjährigen Geschichte der Hexenverfolgung im Vest1 Recklinghausen am 31. Juli 1706 hingerichtet. Zu dieser Zeit hatte die Epoche der Aufklärung bereits begonnen.2 Anna Spiekermann wurde im doppelten Sinne angeklagt und verurteilt. Aufgrund ihres Geschlechts schrieb man der Frau die Schuld an dem Unglück des Mannes zu, der sie als Hexe denunziert hatte, und als Delinquentin wurde sie zum Spielball eines lokalpolitischen Machtkampfes. Unter dem Namen „Hexenänneken"ging sie in die Geschichte der Hexenverfolgungen im Vest Recklinghausen ein. Der Raum des heutigen Ruhrgebiets war Ende des 17. Jahrhunderts aufgeteilt in Herrschaftsgebiete. Die Grafschaft Mark mit Bochum, Lünen und Witten, Herzogtum Kleve mit Dinslaken und Wesel unterstanden dem Kurfürsten von Brandenburg. Das Vest Recklinghausen, zu dem auch Buer, Horst und Westerholt, sowie eine Anzahl von Kirchspielen und Bauerschaften gehörten, war Teil des Kurfürstentums Köln. Die Bewohner der Orte waren in ein enges Beziehungsgeflecht eingebunden, und zwar in den wirtschaftlichen Verband der Flur- und Markgenossenschaften, den sozialen Verband der Nachbarschaften und den religiösen Verband der Pfarrei und des Kirchspiels St. Urbanus Buer. Die Bauerschaft Sutum gehörte zum Kirchspiel Buer. 3 Anna Spiekermann kam um das Jahr 1670 als uneheliche Tochter der Elßken Spiekermann auf dem elterlichen Rotten in Sutum zur Welt. Vom Vater ist bekannt, dass er Soldat aus Buer war. Da die Mutter früh verstarb, nahmen sich die auf dem Rotten lebenden Geschwister mütterlicherseits der Waise an. Anna Spiekermann heiratete Dirich Brockmann aus Sutum vom Brock-mannshof. Im Jahre 1700 fiel er als Soldat. Ein oder zwei Jahre nach dem Tod ihres Mannes hatte sie als Witwe und Alleinerziehende mit ihrer kleinen Tochter den Hof und damit den Schutzraumder Schwiegerfamilie und der Nachbarschaft Sutum verlassen. Da auch die eigene Familie sie nicht wieder aufnahm, ging sie zu ihrer Tante und Patin nach Westerholt. Hier arbeitete Anna Spiekermann auf verschiedenen Höfen als Magd. Während dieser Zeit starb ihre kleine Tochter.
Der „Fall" Anna Spiekermann aus den Gerichtsakten *
Im folgenden soll der „Fall" Anna Spiekermann, wie er in den Gerichtsakten überliefert und von Dr. Gudrun Gersmann in verschiedenen Arbeiten veröffentlicht vorliegt, rekonstruiert werden. In Westerholt musste sich Anna Spiekermann gegen den Vergewaltigungsversuch eines Westerholters namens Johannes Krampe wehren. Als sie wenige Tage vor Ostern Krampes' Vater zu seinem Haus begleitete, sei der Kläger in der elterlichen Wohnung zudringlich geworden. Er hatte versucht, sie gegen ihren Willen zu küssen, sie aufs Bett geworfen und gefragt, ob er des Nachts zu ihr kommen solle. Die bedrängte Frau hatte sich gegen die Zudringlichkeit des Mannes gewehrt und ihm, wie sie zu Protokoll gab, „über seine Buchsen gestrichen".^ Der so barsch abgewiesene Krampe rächte sich, in dem er das Gerücht verbreitete, Anna Spiekermann habe ihn durch Behexung „seiner Manneskraft" beraubt. Für seinen anschließenden Rachefeldzug fand er Unterstützung bei den „Junggesellen der Freiheit Westerholt". Zwanzig Männer rotteten sich zusammen und prügelten am Ende ihrer Verfolgungsjagd, die durch das Dorf führte und für alle Dorfbewohner wahrnehmbar war, aus der Frau die erwarteten „Zugeständnisse" heraus. In dem anschließenden Prozess legte das Gericht der Angeklagten die erpressten Untaten zur Last und klagte sie wegen Hexerei und Zauberei an. Wie Anna Spiekermann im Laufe des Gerichtsprozesses immer wieder beteuerte, habe sie alles aus „grosser Angst" bekannt, weil die Männer sie „dergestalt mit Schlagen und Prügeln traktiert' 'hätten, „dass an ihrem Leib nichts Heiles gewesen" " sei. Am 23. April 1705 stellte der Richter Nichte und Tante gegenüber. Unter den Qualen der Folter gab die Angeklagte alle Taten zu, die das Gericht verlas und ihr zu Last legte und sie bezichtigte die Tante, ihr das Hexen beigebracht zu haben. Nach Abbruch der Folter und wieder bei Besinnung widerrief sie alles, wies immer wieder daraufhin, dass sie, wie „verdummt" sei, nicht mehr wisse, was sie tue oder sage, gesagt oder getan haben soll und nahm alle unter der Folter gemachten „Zugeständnisse" wieder zurück. Am 31. Juli des Jahres 1706 wurde die sechsunddreißigjährige Anna Spiekermann, Witwe und Dienstmagd, nach über fünfzehn Monate Kerkerhaft „wegen teils gestandener, teils überzeugter Zauberei und dadurch an Menschen und Vieh verübten Schadens"zum. Tod durch das Schwert verurteilt, ihr „toter Körper" sollte „zum abscheulichen Exempel durch den Scharfrichter öffentlich" verbrannt werden. An diesem Tag befand sich Westerholt in einem Belagerungszustand. Um diesen besonderen Umstand zu verstehen, ist es wichtig, die politischen Hintergründe des Prozesses zu beleuchten.
Die Demonstration der Macht
Im Vest Recklinghausen waren für Zivil- und Kriminalsachen die beiden weltlichen Gerichte zu Recklinghausen und Dorsten zuständig. Der Burg- und Schlossbezirk Westerholt nahm jedoch abweichend von dieser Regelung (wie Horst) eine Ausnahmestellung ein. Hier unterstanden die Bewohner von Westerholt der Gerichtsbarkeit des Burgherrn oder Patrimonialherren. Seitdem der Kölner Kurfürst den Herren von Westerholt das Privileg erteilt hatte, „in erster Instanz in allen streitigen Sachen und Rechtshandlungen ohne Konkurrenz des kurfürstlichen Gerichts in Recklinghausen zu erkennen", lag die Zivil-, Polizei- und seit 1675 auch die Kriminalgerichtsbarkeit in Westerholt allein in der Machtbefugnis des Burgherrn. Aufgrund einer unklaren oder gar gänzlich fehlenden Kompetenzabgrenzung war es in der Vergangenheit jedoch immer wieder zu Streitigkeiten wegen der Zuständigkeit der Gerichte gekommen. Dabei spielten sich die Auseinandersetzungen um die Gerichtshoheit nicht nur zwischen dem Landesherrn und den Städten einerseits ab, sondern auch zwischen den Patrimonialherren und seinen Untertanen andererseits. In Westerholt schwelte seit Jahren ein Kampf zwischen dem Grafen in seiner Eigenschaft als Gerichtsherr und Burgherr und den Einwohnern von Westerholt. In diesem Machtkampfforderten die Westerholter mehr Freiheiten und die Ablösung der Feudallasten. Vor diesem Hintergrund besaß der Prozess der Anna Spiekermann eine außerordentlich politische Brisanz. Im Grunde ging es um eine Kraftprobe zwischen den Bewohnern der Freiheit und dem Grafen von Westerholt. Letzterer demonstrierte seine Macht, als er zur Hinrichtungsstätte der Anna Spiekermann einen Platz bestimmte, an dem die Prozessionen der Westerholter traditionsgemäß vorbeizuziehen pflegten. Die Einwohner fassten diese Entscheidung als Provokation auf und reagierten mit Beschwerden beim kurfürstlichen Gericht Recklinghausen. Jedoch ergriff die kurkölnische Landesbehörde eindeutig Partei gegen die Westerholter und für den Burg- und Grundherrn. Unter dem Datum vom 9. März 1706 hatte der Graf von Westerholt einen ausführlichen Bericht an die „Obrigkeit, den Statthalter und Churfürsten", aufgesetzt, „darin die Rede ist, von der ärgerlichen und anmaßenden Protestation, so die Westerholter Untertanen ihrem eigenen Jurisdiktionsherrn haben zukommen lassen". Die Westerholter hatten gegen den Ort, an dem die Exekution stattfinden sollte,
Einwände erhoben. Der Graf hingegen vertrat die Auffassung, dass es nach wie vor allen Kriminalgerichten und somit dem Gerichtsherrn freistehe, Exekutionen an allen Orten und Plätzen, die derselbe dazu bestimmt, ausfuhren zu lassen. Es sei aber zu befürchten, dass die „widerspenstigen Untertanen" sich bewappnen und die Exekution zu boykottieren suchen würden. Dieses müsse auf jeden Fall verhindert werden, nötigenfalls unter Androhung schwerer Bestrafung. Am Hinrichtungstag von Anna Spieker-mann belagerten siebenhundert aus den Nachbarorten angereiste Landschützen Westerholt. Ihre Anwesenheit sollte die Durchführung einer störungsfreien Exekution garantieren und damit gleichzeitig öffentlich die Jurisdiktionsgewalt des Grafen demonstrieren.
Die Rezeptionsgeschichte des „Falles" Anna Spiekermann
Im Umgang mit dem Fall Anna Spiekermann ist eine Umdeutung festzumachen, die mit dem eigentlichen Gegenstand, nämlich der lokalen Hexenverfolgung, allmählich immer weniger zu tun hatte7 Die Erforschung der Hexenverfolgung begann in den Städten des Ruhrgebiets gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Die Lokalhistoriker der historischen Vereine bemerken, „daß in der engeren Heimat der Hexenwahn wie eine Seuche gewütet hatte"'8 und als eine der „traurigsten Verirrungen" der Menschheit betrachtet werden müsse. Unüberhörbar ist in den einschlägigen Schriften gleichzeitig der Glaube an eine neue aufgeklärte Zeit. Diese Moderne hatte sich scheinbar von dem Irrglauben und den Hexenverfolgungen entfernt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts vollzog sich dann unter dem Eindruck der Konfrontation mit den Folgen des Ersten Weltkrieges und den Konsequenzen des industriellen Aufbruchs ein Wandel. Der unerschütterliche Glaube an einen ausschließlich positiv gedachten Fortschritt geriet ins Schwanken und die Lokalhistoriker ersetzten in ihren Schriften den Glauben und die „Hoffnung auf eine bessere Welt" durch Äußerungen, die eine vermeintliche Idylle der vorindustriellen Gesellschaft priesen. Die zeitgenössischen Aufsätze nahmen für sich in Anspruch, mit ihren Darstellungen und Interpretationen der Hexenprozesse der Region eine eigene Geschichte zu geben und damit auch wertvolles lokales Kulturgut aufzubewahren. Die Hexenverfolgung in der Heimat musste als Beweis für die Geschichtsträchtigkeit der eigenen Region herhalten, ohne dass es zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit kam.
Im Zuge seiner Recherchen im Archiv auf Schloss Westerholt hatte Wilhelm Schmitt, Jahrgang 1879, seit 1908 Oberlehrer am Buerschen Gymnasium, die Akte eines Zauberprozesses aus dem Jahre 1705 entdeckt. Diese verwertete er als Material für eine Studie „erzählt" nach Gerichtsakten, „dazwischen ist weitere Verbindung mit Umständen und Zeitverhältnissen zu knüpften versucht"}® 1924 gelangte im Wirtschaftshof von Schloss Berge der historische Einakter von Schmitt zur Aufführung, der aus Anna Spiekermann das „Hexenänneken"machte, nämlich ein „ärmlichgekleidetes bildhübsches Bauernweib". Der Autor schaffte ein Hexenstereotyp, das von erotischen Komponenten geprägt ist und mit der eigentlichen Geschichte der Anna Spiekermann kaum mehr was zu tun hat.
Der historischen Frauenforschung ist es zu verdanken, dass der Prozess der Anna Spiekermann nach den überlieferten Akten aufgearbeitet und dargestellt worden ist, und die Hexenverfolgung überhaupt als Forschungsgebiet anerkannt und wissenschaftlich aufgearbeitet wird. Wissenschaftlerinnen beleuchten diese dunkelste Seite weiblicher Existenz in der frühen Neuzeit vor dem Hintergrund sozialgeschichtlich orientierter Fragestellungen, so z. B. jener nach der Vielzahl der Lebensmöglichkeiten von Frauen auf dem Lande und deren gesellschaftliche Stellung in der Dorfgemeinschaft. Eine kritische Lesart der Gerichtsprotokolle des Falles der Anna Spiekermann, die lokale Besonderheiten berücksichtigt und diese mit den historischen Überlieferungen verbindet, hat folgendes ergeben. Anna Spiekermann wurde das Opfer des Irrglaubens des Hexenwahns, der noch Anfang des 18. Jahrhunderts im Vest Recklinghausen wütete. Der ungewöhnlich lange Prozessverlauf und somit ihr fünfzehn Monate lang dauerndes Martyrium war die Folge der Machtkämpfe zwischen den Feudalherren und den Dorfbewohnern, die politische Rechte und Freiheiten einforderten.
Marlies Mrotzek
' Gerichtsbezirk.
* Das Aufklärungszeitalter begann am Ende des 17. Jahr
hunderts. Es war die geistesgeschichtliche Epoche und
Denkrichtung, die von England und Frankreich ausgehend,
an die Vernunft der Menschen appellierte.
" Die sozialökonomische Lage der vestischen Bauern im 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zur vestischen Agrargeschichte und Agrarpolitik. Carl Feldhuß. Recklinghausen 1929 (Diss. zur Erlangung der Doktorwürde der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität zu Münster i.W.); Helmut Waigel. Bäuerliche Lebensformen in den letzten Jahrhunderten am Beispiel der Höfe Otte, Melchers und Spiekermann in Buer-Sutum - Kontinuitäten und Wandlungen dokumentiert nach den Hofarchiven, tradierter Sachkultur und mündlicher Überlieferung. In: Beiträge zur Stadtgeschichte. Bd. XX, 1998. Hg. Verein für Orts- und Heimkunde Gelsenkirchen-Buer 1998. S. 149-198.
* Die Gerichtsakten befinden sich im Graf Westerholt'schen
Archiv im Archiv Recklinghausen.
' Gudrun Gersmann. „Toverie halber ..." Zur Geschichte der Hexenverfolgung im Vest Recklinghausen. Ein Überblick. In: Vestische Zeitschrift. Zeitschrift der Vereine für Ortsund Heimatkunde im Vest Recklinghausen. Bd. 92/93-1993/1994, S. 7-43.
6 Ebd. S. 40 f.
' Gudrun Gersmann. Auf den Spuren der Opfer - zur Rekonstruktion weiblichen Alltags unter dem Eindruck frühneuzeitlicher Hexenverfolgung. In: Vergessene Frauen an der Ruhr. Von Herrscherinnen und Hörigen, Hausfrauen und Hexen 800-1800. Hg. v. Bea Lundt. Köln, Weimar, Wien 1992, S. 243-272.
™ Theodor Esch. Beiträge zur Geschichte der Hexenprozesse aus der Stadt Recklinghausen. In: Vestische Zeitschrift 11,1901.
" Albert Ostheide und Wilhelm Schmitt gaben die Zeitschrift Vestische Heimat heraus. Die Herausgeber thematisieren nicht die aktuellen Kriegsereignisse. Sondern sie schreiben: „Dafür wollen wir lieber den Blick häufiger in die Verga-genheit richten, um aus unserer Väter Werk Mut und Kraft
eingesannt aus dem Buch "Von Hexen, Engeln und anderen Kämpferinen" Stadtrundgänge zur Frauengeschichte in Gelsenkirchen
- das letzte Opfer der Hexenverfolgung im Vest Recklinghausen
Die Bauerschaft liegt nordöstlich des Rhein-Herne-Kanals zwischen Horster Straße und Kurt-Schumacher-Straße. Östlich der Theodor-Otte-Straße steht das Haus Spiekermann. In der Nähe des Hofes befand sich das Geburtshaus der Anna Spiekermann. Sie wurde als letztes Opfer einer fast zweihundertjährigen Geschichte der Hexenverfolgung im Vest1 Recklinghausen am 31. Juli 1706 hingerichtet. Zu dieser Zeit hatte die Epoche der Aufklärung bereits begonnen.2 Anna Spiekermann wurde im doppelten Sinne angeklagt und verurteilt. Aufgrund ihres Geschlechts schrieb man der Frau die Schuld an dem Unglück des Mannes zu, der sie als Hexe denunziert hatte, und als Delinquentin wurde sie zum Spielball eines lokalpolitischen Machtkampfes. Unter dem Namen „Hexenänneken"ging sie in die Geschichte der Hexenverfolgungen im Vest Recklinghausen ein. Der Raum des heutigen Ruhrgebiets war Ende des 17. Jahrhunderts aufgeteilt in Herrschaftsgebiete. Die Grafschaft Mark mit Bochum, Lünen und Witten, Herzogtum Kleve mit Dinslaken und Wesel unterstanden dem Kurfürsten von Brandenburg. Das Vest Recklinghausen, zu dem auch Buer, Horst und Westerholt, sowie eine Anzahl von Kirchspielen und Bauerschaften gehörten, war Teil des Kurfürstentums Köln. Die Bewohner der Orte waren in ein enges Beziehungsgeflecht eingebunden, und zwar in den wirtschaftlichen Verband der Flur- und Markgenossenschaften, den sozialen Verband der Nachbarschaften und den religiösen Verband der Pfarrei und des Kirchspiels St. Urbanus Buer. Die Bauerschaft Sutum gehörte zum Kirchspiel Buer. 3 Anna Spiekermann kam um das Jahr 1670 als uneheliche Tochter der Elßken Spiekermann auf dem elterlichen Rotten in Sutum zur Welt. Vom Vater ist bekannt, dass er Soldat aus Buer war. Da die Mutter früh verstarb, nahmen sich die auf dem Rotten lebenden Geschwister mütterlicherseits der Waise an. Anna Spiekermann heiratete Dirich Brockmann aus Sutum vom Brock-mannshof. Im Jahre 1700 fiel er als Soldat. Ein oder zwei Jahre nach dem Tod ihres Mannes hatte sie als Witwe und Alleinerziehende mit ihrer kleinen Tochter den Hof und damit den Schutzraumder Schwiegerfamilie und der Nachbarschaft Sutum verlassen. Da auch die eigene Familie sie nicht wieder aufnahm, ging sie zu ihrer Tante und Patin nach Westerholt. Hier arbeitete Anna Spiekermann auf verschiedenen Höfen als Magd. Während dieser Zeit starb ihre kleine Tochter.
Der „Fall" Anna Spiekermann aus den Gerichtsakten *
Im folgenden soll der „Fall" Anna Spiekermann, wie er in den Gerichtsakten überliefert und von Dr. Gudrun Gersmann in verschiedenen Arbeiten veröffentlicht vorliegt, rekonstruiert werden. In Westerholt musste sich Anna Spiekermann gegen den Vergewaltigungsversuch eines Westerholters namens Johannes Krampe wehren. Als sie wenige Tage vor Ostern Krampes' Vater zu seinem Haus begleitete, sei der Kläger in der elterlichen Wohnung zudringlich geworden. Er hatte versucht, sie gegen ihren Willen zu küssen, sie aufs Bett geworfen und gefragt, ob er des Nachts zu ihr kommen solle. Die bedrängte Frau hatte sich gegen die Zudringlichkeit des Mannes gewehrt und ihm, wie sie zu Protokoll gab, „über seine Buchsen gestrichen".^ Der so barsch abgewiesene Krampe rächte sich, in dem er das Gerücht verbreitete, Anna Spiekermann habe ihn durch Behexung „seiner Manneskraft" beraubt. Für seinen anschließenden Rachefeldzug fand er Unterstützung bei den „Junggesellen der Freiheit Westerholt". Zwanzig Männer rotteten sich zusammen und prügelten am Ende ihrer Verfolgungsjagd, die durch das Dorf führte und für alle Dorfbewohner wahrnehmbar war, aus der Frau die erwarteten „Zugeständnisse" heraus. In dem anschließenden Prozess legte das Gericht der Angeklagten die erpressten Untaten zur Last und klagte sie wegen Hexerei und Zauberei an. Wie Anna Spiekermann im Laufe des Gerichtsprozesses immer wieder beteuerte, habe sie alles aus „grosser Angst" bekannt, weil die Männer sie „dergestalt mit Schlagen und Prügeln traktiert' 'hätten, „dass an ihrem Leib nichts Heiles gewesen" " sei. Am 23. April 1705 stellte der Richter Nichte und Tante gegenüber. Unter den Qualen der Folter gab die Angeklagte alle Taten zu, die das Gericht verlas und ihr zu Last legte und sie bezichtigte die Tante, ihr das Hexen beigebracht zu haben. Nach Abbruch der Folter und wieder bei Besinnung widerrief sie alles, wies immer wieder daraufhin, dass sie, wie „verdummt" sei, nicht mehr wisse, was sie tue oder sage, gesagt oder getan haben soll und nahm alle unter der Folter gemachten „Zugeständnisse" wieder zurück. Am 31. Juli des Jahres 1706 wurde die sechsunddreißigjährige Anna Spiekermann, Witwe und Dienstmagd, nach über fünfzehn Monate Kerkerhaft „wegen teils gestandener, teils überzeugter Zauberei und dadurch an Menschen und Vieh verübten Schadens"zum. Tod durch das Schwert verurteilt, ihr „toter Körper" sollte „zum abscheulichen Exempel durch den Scharfrichter öffentlich" verbrannt werden. An diesem Tag befand sich Westerholt in einem Belagerungszustand. Um diesen besonderen Umstand zu verstehen, ist es wichtig, die politischen Hintergründe des Prozesses zu beleuchten.
Die Demonstration der Macht
Im Vest Recklinghausen waren für Zivil- und Kriminalsachen die beiden weltlichen Gerichte zu Recklinghausen und Dorsten zuständig. Der Burg- und Schlossbezirk Westerholt nahm jedoch abweichend von dieser Regelung (wie Horst) eine Ausnahmestellung ein. Hier unterstanden die Bewohner von Westerholt der Gerichtsbarkeit des Burgherrn oder Patrimonialherren. Seitdem der Kölner Kurfürst den Herren von Westerholt das Privileg erteilt hatte, „in erster Instanz in allen streitigen Sachen und Rechtshandlungen ohne Konkurrenz des kurfürstlichen Gerichts in Recklinghausen zu erkennen", lag die Zivil-, Polizei- und seit 1675 auch die Kriminalgerichtsbarkeit in Westerholt allein in der Machtbefugnis des Burgherrn. Aufgrund einer unklaren oder gar gänzlich fehlenden Kompetenzabgrenzung war es in der Vergangenheit jedoch immer wieder zu Streitigkeiten wegen der Zuständigkeit der Gerichte gekommen. Dabei spielten sich die Auseinandersetzungen um die Gerichtshoheit nicht nur zwischen dem Landesherrn und den Städten einerseits ab, sondern auch zwischen den Patrimonialherren und seinen Untertanen andererseits. In Westerholt schwelte seit Jahren ein Kampf zwischen dem Grafen in seiner Eigenschaft als Gerichtsherr und Burgherr und den Einwohnern von Westerholt. In diesem Machtkampfforderten die Westerholter mehr Freiheiten und die Ablösung der Feudallasten. Vor diesem Hintergrund besaß der Prozess der Anna Spiekermann eine außerordentlich politische Brisanz. Im Grunde ging es um eine Kraftprobe zwischen den Bewohnern der Freiheit und dem Grafen von Westerholt. Letzterer demonstrierte seine Macht, als er zur Hinrichtungsstätte der Anna Spiekermann einen Platz bestimmte, an dem die Prozessionen der Westerholter traditionsgemäß vorbeizuziehen pflegten. Die Einwohner fassten diese Entscheidung als Provokation auf und reagierten mit Beschwerden beim kurfürstlichen Gericht Recklinghausen. Jedoch ergriff die kurkölnische Landesbehörde eindeutig Partei gegen die Westerholter und für den Burg- und Grundherrn. Unter dem Datum vom 9. März 1706 hatte der Graf von Westerholt einen ausführlichen Bericht an die „Obrigkeit, den Statthalter und Churfürsten", aufgesetzt, „darin die Rede ist, von der ärgerlichen und anmaßenden Protestation, so die Westerholter Untertanen ihrem eigenen Jurisdiktionsherrn haben zukommen lassen". Die Westerholter hatten gegen den Ort, an dem die Exekution stattfinden sollte,
Einwände erhoben. Der Graf hingegen vertrat die Auffassung, dass es nach wie vor allen Kriminalgerichten und somit dem Gerichtsherrn freistehe, Exekutionen an allen Orten und Plätzen, die derselbe dazu bestimmt, ausfuhren zu lassen. Es sei aber zu befürchten, dass die „widerspenstigen Untertanen" sich bewappnen und die Exekution zu boykottieren suchen würden. Dieses müsse auf jeden Fall verhindert werden, nötigenfalls unter Androhung schwerer Bestrafung. Am Hinrichtungstag von Anna Spieker-mann belagerten siebenhundert aus den Nachbarorten angereiste Landschützen Westerholt. Ihre Anwesenheit sollte die Durchführung einer störungsfreien Exekution garantieren und damit gleichzeitig öffentlich die Jurisdiktionsgewalt des Grafen demonstrieren.
Die Rezeptionsgeschichte des „Falles" Anna Spiekermann
Im Umgang mit dem Fall Anna Spiekermann ist eine Umdeutung festzumachen, die mit dem eigentlichen Gegenstand, nämlich der lokalen Hexenverfolgung, allmählich immer weniger zu tun hatte7 Die Erforschung der Hexenverfolgung begann in den Städten des Ruhrgebiets gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Die Lokalhistoriker der historischen Vereine bemerken, „daß in der engeren Heimat der Hexenwahn wie eine Seuche gewütet hatte"'8 und als eine der „traurigsten Verirrungen" der Menschheit betrachtet werden müsse. Unüberhörbar ist in den einschlägigen Schriften gleichzeitig der Glaube an eine neue aufgeklärte Zeit. Diese Moderne hatte sich scheinbar von dem Irrglauben und den Hexenverfolgungen entfernt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts vollzog sich dann unter dem Eindruck der Konfrontation mit den Folgen des Ersten Weltkrieges und den Konsequenzen des industriellen Aufbruchs ein Wandel. Der unerschütterliche Glaube an einen ausschließlich positiv gedachten Fortschritt geriet ins Schwanken und die Lokalhistoriker ersetzten in ihren Schriften den Glauben und die „Hoffnung auf eine bessere Welt" durch Äußerungen, die eine vermeintliche Idylle der vorindustriellen Gesellschaft priesen. Die zeitgenössischen Aufsätze nahmen für sich in Anspruch, mit ihren Darstellungen und Interpretationen der Hexenprozesse der Region eine eigene Geschichte zu geben und damit auch wertvolles lokales Kulturgut aufzubewahren. Die Hexenverfolgung in der Heimat musste als Beweis für die Geschichtsträchtigkeit der eigenen Region herhalten, ohne dass es zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit kam.
Im Zuge seiner Recherchen im Archiv auf Schloss Westerholt hatte Wilhelm Schmitt, Jahrgang 1879, seit 1908 Oberlehrer am Buerschen Gymnasium, die Akte eines Zauberprozesses aus dem Jahre 1705 entdeckt. Diese verwertete er als Material für eine Studie „erzählt" nach Gerichtsakten, „dazwischen ist weitere Verbindung mit Umständen und Zeitverhältnissen zu knüpften versucht"}® 1924 gelangte im Wirtschaftshof von Schloss Berge der historische Einakter von Schmitt zur Aufführung, der aus Anna Spiekermann das „Hexenänneken"machte, nämlich ein „ärmlichgekleidetes bildhübsches Bauernweib". Der Autor schaffte ein Hexenstereotyp, das von erotischen Komponenten geprägt ist und mit der eigentlichen Geschichte der Anna Spiekermann kaum mehr was zu tun hat.
Der historischen Frauenforschung ist es zu verdanken, dass der Prozess der Anna Spiekermann nach den überlieferten Akten aufgearbeitet und dargestellt worden ist, und die Hexenverfolgung überhaupt als Forschungsgebiet anerkannt und wissenschaftlich aufgearbeitet wird. Wissenschaftlerinnen beleuchten diese dunkelste Seite weiblicher Existenz in der frühen Neuzeit vor dem Hintergrund sozialgeschichtlich orientierter Fragestellungen, so z. B. jener nach der Vielzahl der Lebensmöglichkeiten von Frauen auf dem Lande und deren gesellschaftliche Stellung in der Dorfgemeinschaft. Eine kritische Lesart der Gerichtsprotokolle des Falles der Anna Spiekermann, die lokale Besonderheiten berücksichtigt und diese mit den historischen Überlieferungen verbindet, hat folgendes ergeben. Anna Spiekermann wurde das Opfer des Irrglaubens des Hexenwahns, der noch Anfang des 18. Jahrhunderts im Vest Recklinghausen wütete. Der ungewöhnlich lange Prozessverlauf und somit ihr fünfzehn Monate lang dauerndes Martyrium war die Folge der Machtkämpfe zwischen den Feudalherren und den Dorfbewohnern, die politische Rechte und Freiheiten einforderten.
Marlies Mrotzek
' Gerichtsbezirk.
* Das Aufklärungszeitalter begann am Ende des 17. Jahr
hunderts. Es war die geistesgeschichtliche Epoche und
Denkrichtung, die von England und Frankreich ausgehend,
an die Vernunft der Menschen appellierte.
" Die sozialökonomische Lage der vestischen Bauern im 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zur vestischen Agrargeschichte und Agrarpolitik. Carl Feldhuß. Recklinghausen 1929 (Diss. zur Erlangung der Doktorwürde der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität zu Münster i.W.); Helmut Waigel. Bäuerliche Lebensformen in den letzten Jahrhunderten am Beispiel der Höfe Otte, Melchers und Spiekermann in Buer-Sutum - Kontinuitäten und Wandlungen dokumentiert nach den Hofarchiven, tradierter Sachkultur und mündlicher Überlieferung. In: Beiträge zur Stadtgeschichte. Bd. XX, 1998. Hg. Verein für Orts- und Heimkunde Gelsenkirchen-Buer 1998. S. 149-198.
* Die Gerichtsakten befinden sich im Graf Westerholt'schen
Archiv im Archiv Recklinghausen.
' Gudrun Gersmann. „Toverie halber ..." Zur Geschichte der Hexenverfolgung im Vest Recklinghausen. Ein Überblick. In: Vestische Zeitschrift. Zeitschrift der Vereine für Ortsund Heimatkunde im Vest Recklinghausen. Bd. 92/93-1993/1994, S. 7-43.
6 Ebd. S. 40 f.
' Gudrun Gersmann. Auf den Spuren der Opfer - zur Rekonstruktion weiblichen Alltags unter dem Eindruck frühneuzeitlicher Hexenverfolgung. In: Vergessene Frauen an der Ruhr. Von Herrscherinnen und Hörigen, Hausfrauen und Hexen 800-1800. Hg. v. Bea Lundt. Köln, Weimar, Wien 1992, S. 243-272.
™ Theodor Esch. Beiträge zur Geschichte der Hexenprozesse aus der Stadt Recklinghausen. In: Vestische Zeitschrift 11,1901.
" Albert Ostheide und Wilhelm Schmitt gaben die Zeitschrift Vestische Heimat heraus. Die Herausgeber thematisieren nicht die aktuellen Kriegsereignisse. Sondern sie schreiben: „Dafür wollen wir lieber den Blick häufiger in die Verga-genheit richten, um aus unserer Väter Werk Mut und Kraft
eingesannt aus dem Buch "Von Hexen, Engeln und anderen Kämpferinen" Stadtrundgänge zur Frauengeschichte in Gelsenkirchen
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Anna Spieckermann
weiter und QuelleAnna Spiekermann stammte aus der zu Buer gehörenden Bauerschaft Sutum. Die Bauerschaft liegt nordöstlich des Rhein-Herne-Kanals zwischen Horster Straße und Kurt-Schumacher-Straße. Östlich der Theodor-Otte-Straße steht das Haus Spiekermann. In der Nähe des Hofes befand sich das Geburtshaus der Anna Spiekermann. Sie wurde als letztes Opfer einer fast zweihundertjährigen Geschichte der Hexenverfolgung im Vest Recklinghausen am 31. Juli 1706 hingerichtet.

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eher nicht Wollevon waldbröl hat geschrieben:Eine Nebenstraße von der Darler Heide in Erle nahe der AWO heißt Spiekermannstraße. Ist die Straße ihr gewidmet?
Wolle
Spiekermannstraße
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Micha
Irgendwie machen GEschichten süchtig .......
Micha
Irgendwie machen GEschichten süchtig .......
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Danke Micha, hätte ja sein können. Aber eine Verbindung zu Sutum ist da.Heinz O. hat geschrieben:eher nicht Wollevon waldbröl hat geschrieben:Eine Nebenstraße von der Darler Heide in Erle nahe der AWO heißt Spiekermannstraße. Ist die Straße ihr gewidmet?
Wolle
Spiekermannstraße
WolleBabapapa hat geschrieben:weiter und QuelleAnna Spiekermann stammte aus der zu Buer gehörenden Bauerschaft Sutum. Die Bauerschaft liegt nordöstlich des Rhein-Herne-Kanals zwischen Horster Straße und Kurt-Schumacher-Straße. Östlich der Theodor-Otte-Straße steht das Haus Spiekermann. In der Nähe des Hofes befand sich das Geburtshaus der Anna Spiekermann. Sie wurde als letztes Opfer einer fast zweihundertjährigen Geschichte der Hexenverfolgung im Vest Recklinghausen am 31. Juli 1706 hingerichtet.