Wichtig II

Wir wollen gemeinsam hier mit anderen interaktiv Spuren und Zeugnisse der Einmischung Gelsenkirchener Bürger ins sozi-kulturelle kommunale Leben sammeln.
Wir möchten damit nicht nur Geschichte(n) bewahren, sondern auch Mut machen, das Zusammenleben in dieser Stadt trotz aller Hindernisse aktiv zu gestalten.

Eure Meinungen dazu können hier diskutiert werden

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Verwaltung
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Wichtig II

Beitrag von Verwaltung »

Hallo an alle Optimisten.

Was ich an Gelsenkirchen am meißten schätze, ist genau das, was andere ständig beklagen: Die Mittelmäßigkeit, die kulturelle Leere und die Langeweile vielerorts. Das ist jetzt kein Scherz, ich mein's ernst.

Gelsenkirchen hat eine höchst angenehme Athmosphäre der Unbetroffenheit und Unwichtigkeit. Das Leben hier bietet keine Überraschungen, es ist verlässlich. Wer was erleben will fährt halt woanders hin (Bochum, Essen), hier aber lebt man in Ruhe sein Leben. Man hat als Gelsenkirchener keine hohen Erwartungen zu erfüllen, weil eh jeder weiß: in Gelsenkirchen geht nichts großes. (Kafka hätte sich hier wohl gefühlt.) Wenn einem danach ist, kann man stundenlang rumlaufen und trifft praktisch keinen Menschen, doch wenn man Gesellschaft sucht, dann erlebt man an Bushaltestellen, Pommesbuden und bei Kulturereignissen ein schnörkelloses, unaufgeregtes Wir-Gefühl. Wir armen Männekes sind ja unter uns, hier in unserer grauen Stadt.

Gleichzeitig hat Gelsenkirchen viel Interessantes zu bieten. Da gibts aber keine Leuchttürme wie in anderen Städten. Kein Eiffelturm, kein Brandenburger Tor, noch nicht einmal ein richtiges Zollverein. Stattdessen ist hier alles ein bißchen hintergründiger, subtiler, erst auf den zweiten Blick erkennbar. Unsere Highlites haben einen rauen, kantigen, backsteinigen Charakter (z.B. die Bauten von Josef Franke, der Skulpturen-Wald Rheinelbe), sind unter einer 90-jährigen Kohleschicht versteckt (Hans-Sachs-Haus), verwildern romantisch in ablegenen Seitenstraßen (Verwaltungsgebäude der Kokerei Alma) oder sprechen lakonisch mit nur einem Ton (Schwammreliefs von Yves Klein).

Dazu kommt der oft völlig erfurchtslose Umgang der Menschen mit ihrem eigenen Erbe. Da findet man atemberaubende Jugenstilfassaden, deren Erdgeschoss braun gekachelt ist. Wenn ich in der Stadt fotografiere, merke ich immer wieder, dass diese Makel, Brüche und häßlichen Ecken, von denen wir so viele haben, die interessantesten Motive sind. Schöne Dinge? Tja die sind halt schön, und sonst? Warum sollte man die angucken? Im Häßlichen liegt Authentizität.

Zum Problem wird allerdings manchmal die (teilweise mit Hingabe gepflegte) depressive Grundstimmung, die fast schon zum Markenzeichen Gelsenkirchens geworden ist. Ich persönlich glaube, die liegt nur zum Teil in der zunehmenden Verarmung begründet. Ein gut Teil ist einfach Gejammer enttäuschter Konsumenten, die nicht wahrhaben wollen, dass sie nicht mehr am Waren-Spiel teilnehmen dürfen. Das soll jetzt nicht herablassend klingen. Mein Einkommen liegt in den meisten Monaten unter Hartz4 (ohne die Unterstützung der Eltern würde ich vermutlich verhungern). Aber ich bin nicht von der Konsum-Welt abhängig, trage keine schicken Klamotten, fahre nicht Auto, futter mich nicht zu Tode und vermisse nichts. Der Eintritt in Parks und das städtische Museum ist übrigens frei.

Ich glaube Gelsenkirchen bietet mehr Möglichkeiten, als den meißten Leute bewußt ist. Woraus besteht diese Stadt denn schon? Ein kleine feine Reihe erhaltenswerter Baudenkmäler (Hans-Sachs-Haus !!! ) sowie 70 % mehr oder weniger belangloser, zunehmend leerstehender Wohnungsbau und Freiflächen. Leute, wir haben hier Luft zum Atmen ohne Ende. Das ist nicht wie in alten Kulturstädten, wo jeder Stein mit Geschichte und Bedeutung aufgeladen ist. Gelsenkirchen ist jung. Gelsenkirchen ist nicht festgelegt. Wir können alles abreißen und eine ganz neue Stadt bauen. Wir können uns jede Identität erfinden. Vorraussetzung ist Mut, Ideen und dass wir uns von diesem völlig selbstzerstörerischen kapitalistischen System emanzipieren. Zuerst in den Köpfen und dann vielleicht sogar real. Ein neues Spiel anfangen. Wir könnten die erste Stadt sein, die geschlossen für das bedingungslose Grundeinkommen eintritt. Oder einen stadtweiten Tauschring ohne Bargeld aufbauen. Ein Wandel muss kommen und Gelsenkirchen ist durch seine hohe Arbeitslosigkeit dafür prädestiniert die Keimstätte dafür zu werden.

Ich werd nich wechziehn. Heimat is hier.

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