... kommt gebürtig aus Ostdeutschland und war viele Jahre bei der Stadt Gelsenkirchen als Stadtplaner tätig. Seinen Ruhestand nutzt er, um die Bau- und Entwicklungsgeschichte Gelsenkirchens wissenschaftlich aufzuarbeiten, Veröffentlichungen über einzelne Stadtteile zu erarbeiten, besondere Gebäude mit Hinweisschildern zu versehen, mit dem Bürgerforum HSH für den Erhalt des Hans-Sachs-Hauses einzutreten und regelmäßig Architekturführungen anzubieten.
Er selbst sagt, er würde heute mehr arbeiten, als in seiner berufstätigen Zeit und sei quasi im "Unruhestand". Das macht ihm aber so große Freude, dass an ein Aufhören noch nicht zu denken ist. Und es gibt in GE auch wahrlich noch genug herauszufinden, zu erforschen und zu dokumentieren.
- Lutz Heidemann bei der Denkzettel-Aktion im April 2007 am HSH
[center]Dr. Lutz Heidemann im Interview mit den Geschichten.
Am 22. Mai, kurz vor seinem 70. Geburtstag, hatten wir die Möglichkeit mit dem Architekten, dem ehemaligen Stadtplaner und heutigen Denkmalschützer und Stadthistoriker von Gelsenkirchen ein Interview zu führen.
Als Kulisse für dieses Interview diente die Aula der Gertud Bäumer Realschule. Zu der Schule inklusive der Aula hat er eine besondere architektonische und emotionale Beziehung aufgebaut und deswegen war es sein Wunsch, dort mit uns das Interview zuführen.
Das Interviewteam ist sich allerdings einig, dass er keine bessere Kulisse hätte wählen können. Für das Interview konnten wir aus unseren eigenen Reihen Tanja Hempelmann und Birgit Wend (Mitarbeiterin des Stadtumbaubüros) gewinnen.
Wir haben uns diesmal entschlossen das Interview einmal in der kurzen Version und einmal ungeschnitten ins Netz zu stellen.
Kurzversion (20 min):
[Gvideo]http://video.google.de/videoplay?docid= ... 9251681295[/Gvideo]
Langversion (1:42 h):
[Gvideo]http://video.google.de/videoplay?docid= ... 9042276320[/Gvideo][/center]
Für Leute, die lieber lesen oder schlecht hören, haben wir die kurze Version noch mal in schriftlicher Form nieder geschrieben und verweisen zum Schluss auf die Themen, die in der langen Version angesprochen werden.
Viel Spaß!
- Lutz Heidemann über die Definition seiner genauen Berufsbezeichnung:
Ich bin das mal gefragt worden, da habe ich gesagt: Ich bin Heimatschriftsteller. Ich kann nicht sagen, ich bin Heimatdichter, weil ich von Fakten ausgehe. Die Stadtgeschichte ist eine weite Basis aus der ich schöpfe. Ich schöpfe aus meinen architektonischen Kenntnissen und auch aus meinen Kenntnissen als Soziologe. Stadtplaner kann ich mich nicht mehr nennen, weil ich diesen Beruf nicht mehr ausübe. Da ist der Begriff „Stadthistoriker“ ein schöner Ersatz.
Lutz Heidemann über die Bedeutung von Geschichte:
Geschichte ist der Maßstab für Urteile aus der Gegenwart. Man versucht Phänomene der Geschichte zu beurteilen. Es gibt eigentlich nur einen Maßstab und das ist die Geschichte, mit all ihrer Vielfalt und mit all ihren Brüchen. Ich habe Brüche miterlebt. Die Zerstörung des Hauses, in dem man gelebt hat, die Zerstörung einer brennenden Stadt (Dresden). Wenn man sieht, dass Bomben auf den Straßen liegen und eine Mutter zwei Kinder aus dem brennenden Haus trägt, dann sind das Erfahrungen, die prägen. Flüchtling in einem Dorf zu sein, diese frühe DDR mitzuerleben. Das sind alles Dinge, die mich geprägt haben.
(Lacht.) Ich würde sagen, es gibt den Begriff eines Kindes mit Migrationshintergrund. Genauso würde ich sagen, ich bin ein „Gelsenkirchener mit Migrationshintergrund.“
Es ist für mich ein Lustgefühl etwas zu begreifen. Das kann ich am leichtesten mit der gebauten Umwelt. Ich habe die Sprache der Steine gelernt, um historisch ein Gebäude zu lesen und einordnen zu können.
Ich setze diese Fähigkeit gerne für Gelsenkirchen ein. Und es ist schon so, dass ich mich mit dieser Stadt identifiziere und von hier nicht weg möchte.
Lutz Heidemann über seine Kindheit:
Ich bin mit 14 Jahren aus Dresden weggezogen und auf eine sozialistische Oberschule gekommen. Ich bin viel mit dem Fahrrad umhergezogen und habe diese sanft gewellte thüringische Landschaft als Heimat empfunden. Es war eine glückliche Kindheit und glückliche Jugend. Meine Mutter hat mich losziehen lassen. Ich habe in Jugendherbergen geschlafen oder in ausgeräumten Schulen. Mit 15 Jahren bin yich mit dem Fahrrad durch die DDR gefahren, mit 16 habe ich mit dem Fahrrad die Bundesrepublik bereist und mit 17 Jahren bin ich per Anhalter bis Sizilien in Italien gekommen. Ich war sehr früh an der Welt interessiert.
Lutz Heidemann über seine Flucht in den Westen:
Dann gab es eine Entscheidung. In der DDR bleiben oder in den Westen gehen? Die Flucht war eigentlich vorgesehen, für die Zeit nach dem Abitur, wenn ich 18 bin. Als das Gesetz zur „Schaffung einer Volksarmee“ im Radio verkündet wurde, habe ich mich ein Jahr vor dem Abitur dazu entschlossen. Es wäre Fahnenflucht gewesen, wenn man den Westen bereist. Und meine Mutter sagte: „Geh doch jetzt schon!“ Ich bin dann ein Wochenende später in der Nacht nach Westberlin gefahren. Ich habe nicht den Fehler gemacht mit dem D-Zug über die Grenze zu fahren, denn die Züge wurden kurz vor der Einfahrt nach Ostberlin gefilzt. Ich bin vor der Grenze ausgestiegen und habe mich dann in die S-Bahn gesetzt. Ich habe mit dem Berufsverkehr dann die Grenze überquert. Und dann war ich in Westberlin!
Lutz Heidemann über seine Reisen während des Studiums:
Diese 1 ½ Jahre in Berlin waren extrem spannend, weil ich da den Westen mit vollen Poren aufgesogen habe. Es war die Zeit, in der in Berlin die „Interbau“ war. Da war klar, ich studiere moderne Architektur.
Ich habe mein Studium genossen und genießen können. Ich bin viel gereist und bin einmal 5 ½ Monate im nahen Osten gewesen und dann habe ich eine Beurlaubung vom Studium bekommen und war acht Monate in Rom.
Das waren Öffnungen, dass ich andere Welten kennen gelernt habe. Ich habe wirklich noch in Süditalien die Frauen mit Wasserkrügen auf dem Kopf gehen sehen. Ich habe eine große Gastfreundlichkeit erlebt. Italien ist das Land, was ich meisten schätze. Lange konnte ich mit Recht sagen, dass italienisch meine erste Fremdsprache war.
Ich habe das große Glück gehabt ganz unterschiedliche Bauzusammenhänge, wie Dorf, eine Kleinstadt, Westberlin, Aachen, Rom und den nahen Osten...kennen zu lernen. Das ist schön und es ist irgendwo auch ein Stück Übung für Offenheit.
Lutz Heidemann über den ersten Kontakt zu Gelsenkirchen:
Ich habe 1970 mit meinem Seminar von der Ruhr Uni Bochum eine mehrtägige Exkursion nach Gelsenkirchen gemacht und bin hier freundlich von dem Baudezernenten Weiß aufgenommen worden. Ich habe eine Ratssitzung mitgemacht, wir sind hier mit dem Bus rum gefahren. Aus dieser Zeit rührt mein erster Kontakt zu Gelsenkirchen her.
Gut, Gelsenkirchen war vielleicht nicht meine Traumstadt, aber sie hat mir eben eine gute Profichance gegeben. Wir haben ein sehr schönes Haus gefunden und ich bin hier herein gewachsen.
Lutz Heidemann über seinen beruflichen Konflikt als Stadtplaner zwischen Erhalten und Neubauen:
Es war wichtig, dass es für Konflikte Rahmen gab. Bei dem Konflikt um die Siedlung "Flöz Dickebank", haben wir zum Beispiel gehofft, dass das Städtebauförderungsgesetz bald in Kraft tritt. Das war dann 1975 war da. Ab da konnten vorbeugende Untersuchung gemacht werden. Es wurden Instrumente geschaffen, um systematisch den Willen der Bevölkerung in dieses Verfahren mit einzubringen. Diese Konflikte waren innerhalb der Stadtverwaltung aufgefächert. Eine Stadtverwaltung ist nicht monolithisch. Der Amtsleiter oder Stadtbaurat denkt anders über gewisse Sachen oder es wird im politischen Raum auch nach einer unterstützenden Meinung geforscht. Und damals war die Chance, dass man Gutachten vergeben konnte und dass man durch eine neutrale dritte Instanz vorbeugenden Untersuchungen in Auftrag geben konnte. So konnte auch die Bewohnerstruktur und die sozialen Kategorien in eine Stadtplanungsprozess eingebracht werden. Und zum anderen wurden auch die Fragen der Bauphysik oder was kann man mit den Gebäuden machen kann, gestellt. So entstanden Planungsalternativen.
Mit diesem Instrument konnte der Konflikt versachlicht werden.
Lutz Heidemann über das Einbringen der persönlichen Überzeugung bei diesen Konflikten:
Ich konnte sehr viel einbringen. Es war immer so, dass ich Abstriche machen musste. Bei der Siedlung Flöz Dickebank gab es ein Notopfer, dass eine Straßenzeile durch Neubauten ersetzt wurde. Mit solchen Kompromissen musste man wahrscheinlich in Gelsenkirchen leben. Das Gleiche war zum Beispiel bei der Auguststraße, wo etwas abgebrochen wurde, aber insgesamt konnte diese Siedlung bewahrt werden.
Lutz Heidemann über die Denkmal(zu)schützenden „Sorgenkinder“ in Gelsenkirchen:
Wenn ich bemerke, dass ein Objekt vor dem Abriss steht, dann lasse ich die wissenschaftlichen Sachen gerne mal liegen und versuche die Bürger und Bürgerinnen dieser Stadt auf diese Problemfälle aufmerksam zu machen. Und solche Problemfälle können schnell auftreten. Wir sind ja hier in der Nachbarschaft. Was passiert mit dem Finanzamt? Was passiert mit dem Amtsgericht? Was passiert mit dem großen Schubgebäude auf Hugo? Das ist ein Gebäude was demnächst wahrscheinlich abgebrochen wird. Das Geld fließt alles nach Zollverein und nicht hierher.
Ich brauch mich nur umzusehen. Einmal die Kokerei auf Alma, das Schalthaus auf dem Schalker Verein. Sorgenkinder gibt es in dieser Stadt genug. Ich darf mich da nicht verrückt machen. Ich habe mich nicht gescheut nach draußen zu gehen und das zu sagen. Aber es klappt eigentlich nur, wenn sich Mitstreiter finden. Das ist dann auch letztlich die Legitimation für die Politik. Sie wird dann hellhörig, wenn sie merkt, es stehen viele dahinter. Ich merke, dass das Geschichtsbewusstsein hier in Gelsenkirchen doch teilräumig stattfindet. Dass man sich an Bismarck emotional klammert oder Bulmke. Aber das Gesamtstadtbewusstsein ist doch noch relativ schwach ausgeprägt. Aber das gibt es und ich will das weiter machen.
In der langen Version:
Lutz Heidemann über…
...seine Assistentenstelle in Bochum und die „wilden 70iger“
...die Zusammenhänge zwischen Soziologie und Architektur
...seine Leidenschaft, dem Weitwandern
...sein Verhältnis zur Politik
...seine Familie und sein Privatleben
...sein Bestreben die Abrissbirne immer langsamer schwingen zu lasen
...seine Zukunftsplanungen