"In diesem Land an der Ruhr, dem neuen Kriegsschauplatz, fehlt es nicht an Merkwürdigkeiten. Eine davon ist die Stadt Gelsenkirchen. Man kann sie von Essen aus in 20 Minuten mit dem Zug erreichen oder mit der Straßenbahn in knapp einer Stunde. Die Strecke ist mit der von Barcelona nach Badalona vergleichbar, nur dass man hier kein Blau und kein Grün zu Gesicht bekommt. Der Himmel ist niedrig und schmutzig, und die wenigen Felder, die es noch gibt, und die wenigen Bäume, die noch wachsen, sind von Kohlenstaub bedeckt.
Steigt man aus dem Zug oder der Straßenbahn, findet man sich in einer modernen deutschen Stadt nach patentiertem Muster wieder. Breite, ordentlich gepflasterte Straßen, sorgfältig angelegte Plätze, eine Stadtplanung wie aus dem Bilderbuch. Ein Rathaus, ein Postamt, ein Krankenhaus, eine Schule, ein Stadttheater, alles vor 20 Jahren im reinsten deutschen Gotikstil des 15.Jahrhunderts erbaut. Und die Gärten und Parks von Gelsenkirchen? Die Gärten und Parks von Gelsenkirchen gleichen auf den ersten Blick den Gärten und Parks jeder anderen Stadt, die Gelsenkirchen gleicht. Aber lässt man es sich einmal erklären, sind die Gärten und Parks von Gelsenkirchen wesentliche komplizierter, als es scheint. Sie sind der Ort der Erholung und ein Werk der Wissenschaft. Anfangs hatte Gelsenkirchen alles, nur keine Gärten, denn der Kohlenstaub ließ das Gras verdorren, hinderte Bäume am Wachsen und erstickte die Blumen. Und Gelsenkirchen hätte niemals Parks besessen, hätten nicht die deutschen Gelehrten geduldig – wie es die Wissenschaft erfordert – geforscht, bis sie Gräser und Blumen fanden, die der Kohlenstaub geradezu zum Wachsen inspirierte.
Heute hat Gelsenkirchen zauberhafte Parks."
Eugeni Xammar, span. Journalist, Eindruck von GE 1923
aus: Eugeni Xammar "Das Schlangenei", Berenberg-Verlag
siehe: Ruhrkampf 1923 - Das besetzte Gelsenkirchen