Schalke Prozeß 1964

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Schalke Prozeß 1964

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© DIE ZEIT 1964

Schalke, Schalke über alles ...

Falsch verstandene Vereinsliebe und ein schlechtes Statut harenberg, Bodo

War es Angst, Entrüstung oder Neugier, die eine Stadt leidenschaftlich Anteil nehmen ließ am Prozeß gegen die sieben Angeklagten, der kurzerhand "Schalke-Prozeß" genannt wurde? Meinungsforscher müßten ans Werk, diese feinen Unterschiede zu klären, mit denen weder Staatsanwaltschaft noch zwei Berufs- und zwei Laienrichter im Großen Saal des Essener Landgerichts fertig wurden. Bestimmt schrie die Stadt, deren Dreiklang aus Arbeit, Arbeit und Schalke besteht, weil sie sich in ihrer Leidenschaft gekränkt sah, weil sie erlebte, wie Schmutz auf die Geliebte fiel. Die Stadt war aber auch empört, weil es ausgerechnet ihren Klub und nicht Borussia Dortmund oder München 1860 getroffen hat, von denen der Staatsanwalt behauptete, sie hätten es ebenso getrieben, sie seien bei der Hinterziehung der Steuer nur nicht aufgekippt oder hätten nach anderer Spielregel gehandelt.

Tatsächlich haben fast alle westdeutschen Fußballklubs ebenfalls verbotene Handgelder und Prämien bezahlt. Sie arbeiteten jedoch nach einem geheimen Ratschlag, den der Deutsche Fußballbund hinter versiegelten Türen selbst erteilt haben soll. Sie spielten nämlich dem Finanzamt gegenüber mit offenen Karten, baten jedoch gleichzeitig darum, keine einzige Zahl der Öffentlichkeit zu nennen. Da das Finanzamt ohnehin zum Schweigen verurteilt ist und seine Aufgabe nicht in der Anzeige von Verstößen wider ein Statut sehen darf, hatten die Freunde der jovialen Offenbarung volle Rückendeckung. Sie konnten ihre unersättlichen Spieler nach diesem Prinzip speisen und durften sicher sein, daß das Auge des DFB nicht wachte.

Schalke 04 mußte jedoch andere Wege suchen, weil es nicht in der Lage war, bei Umgehung des Statuts die Steuern auf "legalem" Wege zu zahlen. Dem berühmten Fußballklub fehlte das Geld, weil ihn der Klotz des eigenen Stadions drückte. Es wollte unterhalten sein, es mußte erweitert und mit Flutlichtmasten versehen werden, und es kostete und kostete und würde immer neue Kosten verursachen, wenn sich die Gelsenkirchener Stadtväter nicht entschlossen hätten, 600 000 DM aus Sympathie und zur Renovierung zuzuschießen. Über das eigene Stadion hinaus hatten die Mitglieder des Schalker Fußballklubs stets den Ehrgeiz, in diesem Stadion die besten der besten Stars spielen zu lassen, um im Konzert der Konkurrenten den ersten Platz zu belegen.

Für die Stadt der tausend Feuer und 383 000 Einwohner ist der Fußballklub Schalke, der just ins 60. Lebensjahr steuert, was anderswo die Oper oder das Museum ist. Zwar finanzierten die Stadtväter auch hier ein fast monumentales Theater, zwar stammt Jürgen von Manger aus dieser Stadt, aber Mann und Frau würden beides geben, um nur ihr Schalke zu erhalten. "Schalke ist das Goodwill unserer Stadt", formulierte der suspendierte Stadtkämmerer, Dr. Hans-Georg König. Oberbürgermeister Scharlay bestätigt dies, und fast reut es ihn, daß die Stadt erst jetzt zum erstenmal erwägt, einen größeren, verlorenen Zuschuß an sein Lieblingskind zu zahlen.

Niemand hätte auch nach dem Prozeß an der Ausstrahlung des Goodwills gezweifelt, wären nur Steuerhinterziehung und Kartenabschöpfung zur Sprache gekommen. Selbst die Untreue im Amt, die das Gericht den Beamten Wischerhoff und König vorgeworfen hat, wäre an Theken und Tresen als Kavaliersdelikt zum Wohle des Vereins abgetan worden. Die schmutzige königsblaue Wäsche jedoch, die vor dem Tribunal ausgebreitet worden war, erschütterte die Stadt. Die Jungfrau Schalke ist geschändet.

Zwei Verhandlungstage hatte das Gericht damit zugebracht, Zerwürfnisse, Haß und Hader innerhalb des Vorstands ans Tageslicht zur fördern. So hörten die Erschienenen, daß sich die Herren des Vorstands als Verbrecher zu bezeichnen pflegten, daß sie sich drohten, einander aus dem Fenster zu stürzen, daß sie sich, welches Symbol, zur Verschwörung auf dem Schlachthof trafen, daß sie die gegenseitige Niederlage planten und mit schwerem Kopf sogar aneinandergerieten. Und das alles zu Ehren des Vereins, für den sie anläßlich der siebten Deutschen Meisterschaft nach der Melodie des Deutschlandliedes gesungen hatten: Schalke, Schalke über alles ...?

Väter und Söhne fragten, ob diese Dinge, wenn schon geschehen, vor die Öffentlichkeit gehörten. Und sie suchten nach dem Judas in Königsblau, der das "Heiligtum" der Stadt verraten hatte. Gericht und alle, die anderweitig fahndeten, fanden ihn im Buchhalter Wilhelm Nittka, 44 Jahre alt, einst Vorstandsmitglied bei Schalke und mit einer Frau verheiratet, die ob aller Aufregung zweimal ins Sanatorium mußte.

Dieser Nittka war am 21. September 1961 zu Gelsenkirchens Oberstadtdirektor Hülsmann gegangen, hatte eine von ihm selbst ausgefertigte Abrechnung auf den Tisch gelegt und gesagt: "Auf diese Weise werden bei Schalke dunkle Geschäfte gemacht. Bitte, überprüfen Sie, ich kann die Last der Lüge nicht länger tragen." Damit hatte er die Lawine ins Rollen gebracht, die er trotz stundenlanger Beratung mit den Beschuldigten und anschließender Rücknahme nicht aufhalten konnte.

Das Gericht untersuchte Nittkas Fall mit so viel Genauigkeit, als wolle es der kochenden Volksseele den Übeltäter ans Messer liefern. Landgerichtsdirektor Petermann stellte in Abrede, daß Nittka von den zuvor gewaltsam aus dem Schalker Vorstand verdrängten Karl Stutte und Dr. med. Anton Weiler geschubst und genötigt sei, Rapport beim Oberstadtdirektor zu geben. Petermann, der die Verhandlung führte, fand vielmehr bestätigt, daß Nittka mit dem Schlachterbedarf-Großhändler Stutte und dem ehemaligen Schalker Vereinsarzt Dr. Weiler ein Komplott gegen den Präsidenten, Dr. König, geschmiedet hatte.

Stutte selbst nannte unbewußt den Grund, weshalb er Dr. König gehaßt und gelegentlich mit Schmähungen bedacht hatte. "Wir wußten nicht mehr, was eigentlich gespielt wurde", sagte er als Zeuge, und seine Züge wurden härter, und die Zunge war zum Auswurf neuer Beleidigung bereit. Er und viele andere "gebürtige" Schalker wollten nicht zulassen, daß ihr "Nationalheiligtum" unter der Fuchtel von Männern stand, die nicht schon bei der Geburt in blau-weiße Windeln gewickelt worden waren.

So frühen blau-weißen Einfluß hatten Dr. König und sein "Adjutant" Asbeck jedenfalls nicht nachweisen können. König war vielmehr vom Oberbürgermeister der Stadt delegiert worden, die Geschäfte des FC Schalke 04 zu übernehmen und den Verein in einer Zeit zu führen, die Weitblick statt königsblauer Nahsicht verlangte. Er wurde in Abwesenheit gewählt, so daß ihn die Teilnehmer der Generalversammlung im Jahre 1959 nur dem Namen nach kannten. Sie alle mußten ahnen, daß diplomatisches Geschick vonnöten war, insgeheim jedoch rumorte es in vielen Schalker Hirnen, daß keiner aus eigenen Reihen diese Eignung besaß. Hick-hack und Kulissenspiel begannen, und schließlich führte Kirchturmpolitik dazu, daß der amtierende Vorstand an den Pranger mußte. Dieses Ziel war den treibenden Eitelkeiten so wichtig, daß sie die eigene Liebe, den FC Schalke 04, derweil opferten.

Diese Erkenntnis, durch richterliches Fragespiel gewonnen, wird auch andere Vereine schrecken. Überall nämlich, wo Einnahmen und Ausgaben die Million erreichen, ruft die Vernunft nach Bossen, die über den eigenen Sportplatz hinausschauen, obwohl sie nicht unbedingt in seinem Umkreis geboren sind. Diese Notwendigkeit muß den ehrenamtlichen Buchhalter Nittka und in ähnlichen Fällen andere schmerzen und den Kassierer, der bisher in der Freizeit die Nullen addierte, fast um den Verstand bringen. Denn die Ablösung erfolgt ja just in jenem Augenblick, in dem die Anonymität des Funktionärs mit dem Interesse der Öffentlichkeit belohnt wird.

Schalke hatte sich mit Dr. König und dem Kaufmann Asbeck zwei dieser Bosse geholt. Beide besaßen so viel Geist, Freizeit und auch finanzielle Unabhängigkeit, daß sie vor der eigenen die Spesenabrechnung des Stars begutachten konnten. Sie konnten ihre Aufgaben jedoch dennoch nicht erfüllen, weil ihnen ein veraltetes Statut Fesseln anlegte, die sie nur in der Verdunkelung lösen durften. In dieser illegalen Befreiung haben König und Asbeck eine Einrichtung fortgeführt, die sie als gut "eingespieltes System" bezeichneten. Sie hantierten mit der schwarzen Kasse, die sie kurz S-Kasse nannten.

Aus ihr zahlte der Vorstand allein ab 1959 für 42 900 DM Prämien, 71 500 DM Handgelder und Möbelrechnungen in Höhe von 36 300 DM. Alle diese Beträge blieben im Gegensatz zu jenem goldenen Meisterschafts-Siegelring, den die Spieler nach dem Sieg im Titelkampf des Jahres 1958 erhielten, unversteuert. Dabei sind sich alle Angeklagten nach Auffassung des Gerichts darüber einig gewesen, daß sie auch diese Beträge versteuern mußten. Sie speisten die schwarze Kasse außerdem aus der Hinterziehung der Vergnügungssteuer und aus Karten- abschöpfungen.

Der Schatzmeister Asbeck erläuterte mit aller Offenheit die Notwendigkeit solch verbotener Handlung. Er schilderte den Einkauf des Nationalspielers Willy Schulz, der bei Union Günnigfeld Amateur war und sich entschlossen hatte, einen Vertrag als Vertragsspieler zu unter- schreiben:

"Wir haben zwei Jahre auf diesen Spieler verzichtet, weil wir seine Amateurkarriere nicht stören wollten. Wir fielen aber aus allen Wolken, als wir hörten, daß ihn ein anderer Klub im Ruhrgebiet weggeschnappt und das Handgeld von 25 000 DM bereits bezahlt hatte. Wir fuhren zu Herberger und fragten ihn, was wir tun könnten. Doch Herberger hat geantwortet: "Glauben Sie denn, daß der Mann nur der schönen Handschrift wegen zu einem anderen Klub geht! Da haben wir dem Jungen ebenfalls den Betrag geboten, den er bereits von seinem anderen Partner erhalten hatte. Wir fuhren beide sofort zum Chef des Vereins, und der Spieler versprach mir, das Geld zurückzugeben und die Unterschrift rückgängig zu machen. Wir vereinbarten, daß er das Fenster öffnen und ich 'raufkommen sollte, falls dicke Luft herrscht. Doch das Fenster blieb zu, und der Mann spielt heute für Schalke."

Staatsanwalt Dr. Dr. Anger bezog sich auch auf diese Schilderung, als er den Wunsch aussprach, der Prozeß gegen die Schalker Vorstandsmitglieder möge dazu beitragen, daß Wahrheit und Klarheit in die Statuten einziehen und es den Obmännern der Vereine endlich erlaubt wird, mit offenen Karten zu spielen. Der Staatsanwalt bekannte sich in seinem Strafantrag zur Milde, weil Schalkes angeklagte Vorstandsmitglieder während ihrer Amtszeit nicht unter diesen Voraussetzungen handeln konnten. "Zur Aufrechterhaltung der Spielstärke und zum Einkauf neuer Spieler", berücksichtigte Dr. Dr. Anger, "brauchte der Vorstand Gelder, die er nicht aufführen durfte und deshalb aus einer schwarzen Kasse nehmen mußte. Das allerdings war falsch verstandene Liebe zum Sport, denn sie kollidierte mit dem Strafgesetzbuch."

Immerhin führte die Schwierigkeit der Situation zur Milde in Antrag und Strafmaß. Landgerichtsdirektor Petermann sprach schließlich folgendes Urteil:

Für Dr. Hans-Georg König: Unter Freispruch von den anderen Anklagepunkten wegen fahrlässiger Verkürzung der Lohnsteuer, wegen fortgesetzter Hinterziehung der Vergnügungssteuer in Tateinheit mit fortgesetzter Untreue im Amt an Stelle einer an sich verwirkten Gefängnisstrafe von zwei Monaten und zwei Wochen 4000 Mark Geldstrafe.

Für das einzige Nichtmitglied unter den sieben Angeklagten, den vorläufig suspendierten Steueramtsleiter Ludwig Wischerhoff: wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung und Beihilfe zur fortgesetzten Untreue 800 DM Geldstrafe an Stelle einer an sich verwirkten Gefängnisstrafe von fünf Wochen.

Für den 42jährigen Schatzmeister Hans Asbeck wegen fahrlässiger Verkürzung der Lohnsteuer und fortgesetzter Hinterziehung der Vergnügungssteuer 3500 DM Geldstrafe.

Für den ehemaligen Kassierer Wilhelm Nittka: wegen Hinterziehung der Vergnügungssteuer in einem Fall 200 DM Geldstrafe.

Der stellvertretende Vorsitzende Gustav Fahrenmayer wurde freigesprochen. Gegen den Schalker Geschäftsstellenleiter Kohout und den früheren Kassierer Sonntag war das Verfahren schon vorzeitig wegen Geringfügigkeit eingestellt worden.

Ist der "Schalker Prozeß" mit diesem Urteil erledigt?

Sicher wird der Deutsche Fußballbund, der in Essen, obwohl "mit auf der Anklagebank", nicht vertreten war, über die Folgen beraten. Denn schon droht ja allerorts neuer Verstoß gegen ein neues Statut. Schon ziehen neue Wolken auf, denen sich der DFB abermals ohnmächtig gegenüber sieht. Die Vereine werden einfach mit Bedingungen nicht fertig, die von ihnen alles fordern, auf der anderen Seite jedoch nicht die Möglichkeit bieten, auch alles zu geben. Der Schalker Prozeß wird deshalb nicht der letzte seiner Art gewesen sein, solange Lug und Trug der einzige Ausweg aus einem kleinbürgerlichen Statut sind.

Dr. König und der Steueramtsleiter Wischerhoff werden gegen das Urteil Revision einlegen, weil sie einem Disziplinarverfahren bestenfalls entgehen können, wenn der Vorwurf der Untreue im Amt aufgehoben wird. Dieser Punkt ist für sie von Entscheidung, denn er betrifft ihre Existenz. Alle übrigen Angeklagten werden ihre Strafe zahlen, von der Fußballnarr Moses, der als lebendes Maskottchen von Feld zu Feld und jetzt auch in den Gerichtssaal reist, behauptet, er wolle sie aus einer schwarzen Kasse tilgen.

Trotz aller Strafe ist es nicht ausgeschlossen, daß die kommende Schalker Generalversammlung das Rücktrittsgesuch des Vorsitzenden, Dr. König, ignoriert und die Wiedereinsetzung dieses Mannes fordern wird. Das gilt auch für den Schatzmeister Asbeck, für den nach der Urteilsverkündung zehn Sträuße roter Rosen warteten.

Das Fußballvolk läßt Märtyrer nicht so schnell sinken ...

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Detlef Aghte
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