Rainer Horbelt

Schriftstellerei, Dichtung, Rezitation

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Rainer Horbelt

Beitrag von Verwaltung »

Rainer Horbelt

Geboren am 26. November 1944 in Wismar/Mecklenburg. Von 1955 bis 1964 Besuch des Gymnasiums in Gelsenkirchen. Studium der Theaterwissenschaft, Germanistik und Kunstgeschichte in Köln. Schauspielerausbildung. 1968 Bühnenreifeprüfung. Arbeit als freier Journalist bei verschiedenen Zeitungen. Von 1968 bis 1971 Studium an der Hochschule für Fernsehen und Film in München. Lektor bei der Hauptabteilung Fernsehspiel des Bayerischen Rundfunks. Autor, Fernsehregisseur und Dozent für Medienwissenschaften. Mitarbeit in der Literarischen Werkstatt Gelsenkirchen seit 1967. Lange Zeit Wohnsitz in Marl. Starb am 9. Februar 2001 in Albufeira/Portugal.

Auszeichnungen: Förderpreis des Landes NRW (1974) – Arbeitsstipendium des Landes NRW (1991) – Autorenstipendium der Stiftung Preußische Seehandlung (1993).

Selbständige Veröffentlichungen: Die Zwangsjacke. Roman. Düsseldorf: Concept 1973; Köln: Braun 1978 – Massenmedien. Sachbuch für Kinder. München: TR-Verlagsunion 1974 – Thema Massenmedien. Sachbuch für Kinder. Düsseldorf: Pro Schule Verlag 1974 – Zur Sache. Polizei, Bundesbahn, Krankenhaus. Sachbuch für Kinder. Köln: vgs 1975 – Schigolett. Erzählungen aus einer schweren Welt. Leverkusen, Köln: Braun 1977 – Geschichten vom Herrn Hintze. Kurzgeschichten. Ebd. 1978 – Bürokrauts, wir kommen! Tips & Tricks zum Ärgern der deutschen Beamtenseele. Frankfurt/M.: Eichborn 1983 [mit S. Spindler] – Tante Linas Nachkriegsküche. Mehr Erlebnisse und Kochrezepte in Geschichten und Dokumenten. Ebd. 1983, 1985; Reinbek: Rowohlt 1985, 1986, 1987; [Marburg:] Dt. Blindenstudienanst. [mit S. Spindler] – Wie wir hamsterten, hungerten und überlebten. 10 Frauen erzählen. Erlebnisse und Dokumente. Frankfurt/M.: Eichborn 1983 [mit S. Spindler] – Das Projekt Eden oder die große Lüge der Fernseh-Macher. Roman. Ebd. 1984 – ... erzähl mal was vom Krieg. 10 Frauen erinnern sich. Erlebnisse und Dokumente. Reinbek: Rowohlt 1986 [mit S. Spindler] – Favas, Fisch und Feigenbrot. Vom Essen und Trinken an der Algarve. Kochrezepte und Geschichten. Herne: Ed. Al-Gharb 1993 [mit S. Spindler] – Leben an der Algarve. 1000 Tips für Urlauber und Residenten, für Langzeit-Touristen und Aussteiger. Lagoa: Vista Ibérica Publ. 1995 [mit S. Spindler] – Die Tote in der Zisterne. Ein Kriminalroman aus der Algarve. Herne: Ed. Al-Gharb 1999 – Die deutsche Küche im 20. Jahrhundert. Von der Mehlsuppe im Kaiserreich bis zum Designerjoghurt der Berliner Republik. Ereignisse, Geschichten, Rezepte. Frankfurt/M.: Eichborn 2000 [mit S. Spindler].

Unselbständige Veröffentlichungen in: Beispiele Beispiele. Recklinghausen 1969 – Westfalenspiegel 1973, H. 2: Die Zwangsjacke; 1977, H. 2: Selbstbekenntnis. Aus dem Tagebuch eines Fernsehers – Der Lokomotive in voller Fahrt die Räder wechseln: Geschichte und Geschichten aus NRW. Berlin 1987: Mit Hammer und Kugelschreiber. Eine Kollage zur Gruppe 61.

Herausgabe, Bearbeitung: Mut zum Träumen. Wie Kinder sich ihre Zukunft vorstellen, gemalt und geschrieben für den WDR-Wettbewerb. Hg. im Auftr. des WDR. Frankfurt/M.: Eichborn 1987 – Golf an der goldenen Küste. Algarve. Der komplette Golf-Führer. Ein Golf-Führer mit Insider-Tips. Lagoa, Portugal: Vista Ibérica Publ. 1994 [dt. Bearb.] – T. Neto: Café Aliança. Seine Fotos, seine Geschichte. Herne: Ed. Al-Gharb 1995 [einschl. Übers. aus dem Span.] – L. Port: Die Algarve. Der Reiseführer mit Insider-Tips. Das Buch, das Ihnen zeigt, wie die Algarve wirklich ist. Lagoa, Portugal: Vista Ibérica Publ. 1995 [einschl. Übers. aus dem Span.] – Die Kinder von Buchenwald. Texte und Zeichnungen von Überlebenden. Aus dem Nachlass herausgegeben von Hugo Ernst Käufer. Bielefeld: Aisthesis 2005 (= Veröffentlichungen der Literaturkommission für Westfalen. Bd. 17).

Theater: Das Ereignis eines Autounfalls. Sprechstück (UA Kellertheater Köln 1967) – Straßentheater (UA Gelsenkirchen 1968) – Die Spielmaschine (UA Kellertheater Köln 1977) – Superman spielt nicht mehr mit (Ebd. 1977) [Mitverf.].

Fernsehen: (Fernsehfilme, Features, Schulfernsehen, Fernsehfilme für Kinder; Ausw.) Homo Volans (1968) – Worte und Musik (1969) – Bericht eines jugendlichen Sittenstrolches (1970) – Sprintorgasmik (1970) – Kunst auf der Kohle (BR 1971) – Das soziale Verhalten der Bewohner eines westdeutschen Dorfes in den Jahren 1961-1965 (1971) – Wir lassen uns nicht für dumm verkaufen (6 Folgen, SFB 1974) – Vom Vor- und Nachmachen (SFB 1974) – So sein wie Kim (1974) – Der ausgedachte Vater (SFB 1974) – Der Klauer (SFB 1975) – Der Stadtschreiber von Bergen-Enkheim (SFB 1975; HR 1975) – Alltag und Hintergünde (6 Folgen, SFB 1975) – Die Zwangsjacke (1976) – Vom Schicksal der von Grund auf verkommenen Person Ursula Schmitz (1976) – Todesarten (1971) – Neue Freunde (SFB 1976) – Ein Karpfen soll geschlachtet werden (SFB 1977) – Ihr Wort will Werkzeug sein (SFB 1977) – Von jenen, die die Zeche zahlen (1978) – Wenn die Puppen tanzen (1978) – Von Piepen, Pinke und Penunze (1979) – Die Reise nach Valmy (1979) – Das Kartenhaus (1979) – Die Judenbuche (1980) – Der Tod des Wucherers (1980) – Ich bin ein Deutscher, kennt Ihr meine Farben (1980) – Mutter, häng’ die Wäsche weg, die Komödianten kommen (1980) – Charlotte Birch-Pfeiffers theatralische Sendung (1981) – Geschichten von der Eisenbahn (1981) – Ruhelos ziehst Du umher im Land (1981) – Kinder mit begrenzter Hoffnung. Das Beispiel Jürgen W (1981) – Berlin bei Nacht (1982) – Herrn Goethes mannigfaltige Verwicklung in eine Mordtat (1982) – Dr. med. Mathilde Wagner (1982) – Das Werk (1982) – Der Dialog (1982) – Kochen im Kriege (1983) – Der Spaßmacher (1983) – Zaubereien aus Wien (1983) – Der Müller und sein Kind (1983) – Fast ein Prolet (1983) – Nachricht von der wider Johan Christoph Krop eingestellten Untersuchung und dessen Verurteilung (1984) – Alles, was Recht ist (1984) – Trotzdem: wir leben (1986) – Mut zum Träumen (1986) – Lokalbesuche (1986) – Dortmunder Beton (1986) – Kanalfahrt (1986) – Residenzen an der Ruhr (1987).

Unselbständige Veröffentlichungen über Horbelt: H. E. Käufer: Zeugnisse gegen Menschenverachtung und Gewalt. Zu der Dokumentation ’Die Kinder von Buchenwald’ von Rainer Horbelt, in: Literatur in Westfalen 7, 2004, S. [231]-241.

Nachlaß, Handschriftliches: I. Bestände in westfälischen Archiven – – II. Bestände außerhalb Westfalens: nicht bekannt

Nachschlagewerke: Sie schreiben zwischen Moers und Hamm 1974 – Sie schreiben in Gelsenkirchen 1977 – Kosch, 3. Aufl., Bd. 8, 1981 – Kürschner: Dt. Lit.-Kalender 1998 – Dt. Bibliothek.

Aus Lexikon Westfälischer Autorinnen und Autoren

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klaus peter wolf
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Rainer Horbelt Vollblutautor

Beitrag von klaus peter wolf »

Rainer Horbelt war ein Vollblut Autor und ständig unter Strom. Obwohl er wirklich hart und viel arbeitete und im Grunde recht erfolgreich war, immerhin wurden seine Bücher gedruckt und seine Filme gesendet, litt er ständig unter Geldmangel. Einmal war ich dabei, als in seiner Wohnung das Telefon abgedreht wurde, er erwartete aber einen wichtigen Anruf, der genau die Geldprobleme beheben sollte. Es tat ihm weh. Er fühlte sich ungeliebt von der Stadt und von vielen Kollegen. Er war sehr verletzlich und konnte harsch und aufbrausend sein. Leider hatte er meist recht wenn er verbal austeilte, trug es aber oft so vor, dass es schwer war, danach wieder "normal" miteinander umzugehen. Er lebte in ständigem Krieg mit vielen Menschen, weil er alles persönlich, viel zu persönlich nahm. Das hat ihm oft sehr geschadet. Wir haben gemeinsam das Theaterstück "Supermann spielt nicht mehr mit" geschrieben, das dann im Kellertheater Köln uraufgeführt wurde und mehr mehr als hundert mal gespielt wurde. Gleichzeitig sollten auch die Proben zu seinem Stück "Spielmaschine" beginnen. Er war glücklich zwei Stücke gleichzeitig an einem Theater. Unser Kinderstück und dann die Spielmaschine mit der er - das hoffte er heimlich - Theatergeschichte schreiben würde. Während einer Probe erfuhr er vor allen Schauspielern das sein Stück "Die Spielmaschine" noch vor der Uraufführung abgestetzt worden war. Er brach innerlich fast zusammen, setzte sich zur Wehr, tobte. Ich habe damals mit ihm gelitten und sehr gespürt woher seine vielen Wunden kamen. Auf der Rückfahrt von Köln nach Gelsenkirchen schwieg er lange, dann sagte er mir, ich solle mir das noch tausend mal überlegen, ob ich wirklich freier Autor werden wolle. "In Deutschland kriegst du nur in die Fresse. Du mußt durch eine Phalanx von Verhinderern in Sendern, Verlagen und Theatern. Die meisten wollten selbst Künstler werden, haben es aber nicht geschafft, weil das Talent nicht reichte oder sie hatten Schiß vor dem vogelfreien Leben und sind irgendwo in der Branche untergekrochen, wo man ihnen ein warmes Pöstchen angeboten hat. Diese Typen werden Dir nie verzeihen, dass Du bist, wie du bist. Du dürftest eigentlich gar nicht existieren, du bist ein Putschversuch gegen ihr Leben. Deshalb werden sie Dir Schwierigkeiten machen. Sie lassen nur das Mittelmaß an sich vorbei, dann können sie immer heimlich grinsen und denken: das kann ich auch. Vermutlich sogar besser." Im meinem späteren Berufsleben als Autor habe ich oft an ihn gedacht, wenn ich frustriert Redaktionen oder Verlagshäuser verließ. Wie so oft hatte er auch damals Recht. Er übersah nur, dass es auch die anderen gab, die Förderer. Er ist viel zu früh und weit weg von Gelsenkirchen gestorben. Klaus Peter Wolf

pito
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Re: Rainer Horbelt Vollblutautor

Beitrag von pito »

Rainer Horbelt hat geschrieben:... Diese Typen werden Dir nie verzeihen, dass Du bist, wie du bist. Du dürftest eigentlich gar nicht existieren, du bist ein Putschversuch gegen ihr Leben. Deshalb werden sie Dir Schwierigkeiten machen. Sie lassen nur das Mittelmaß an sich vorbei ...
:rock1green:
Die Diktatur der Langsamen.
Hat sich das eigentlich mit der Zeit gewandelt? Ist es besser geworden? Oder schlimmer? Oder wird das ewig so sein unter den Menschen?

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klaus peter wolf
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solche typen

Beitrag von klaus peter wolf »

Rainer Horbelt hatte wie so oft Recht. Solche Typen sind in endloser Schlange an mir vorrübergezogen und haben mir das Leben schwer gemacht, Filme verhindert, versucht sich in Bücher zu mischen und mich manchmal an den Rand - der finanziellen Existenz gebracht. Ich rede hier nicht von den guten Dramaturgen, klugen Redakteuren oder Lektoren, sondern von den doofen Besserwissern aus dem Klugscheißerclub.Sich täglich verkaufen zu müssen, ohne sich jemals zu verkaufen, das ist ja die große Schwierigkeit in einem jeden Künstlerleben. Wahrscheinlich nicht nur in Künstlerleben. Das gleiche gilt bestimmt für viele Menschen und Berufe.
Herzlich Klaus Peter Wolf

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Verwaltung
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Beitrag von Verwaltung »

  • RAINER HORBELT

    Der Platz

    Betonrund. Flimmernd in weißer Sonne. Schweißstinkender Stein. Striche und Kästchen draufgemalt. Für parkende Autos. Heute parkt hier kein Auto. Von weißen Häusern umrahmt. Platz, wo jede Wand ihre Geschichte hat. Hitzeerbrechend. In der Mitte ein Brunnen. Kaltes, erfrischendes Wasser in Bronzequadern. Form eines Obelisks. Wasser schabt am Metall. Moos am Brunnenboden. Das Wasser tönt. Eintönig. Die Häuser haben keine Fenster. Die Türen sind zu. Weiße Fensterläden. Verschlossen. Durch die Ritzen dringt kein Licht. Straßen durchbrechen die Häuser. Fünf Straßen. Das Wasser des Brunnens fließt in fünf Becken. Mosaik im Brunnensockel. Bunte Steine im Beton. Der Beton ist weiß. Wie die Mauern und die Sonne und die Fensterläden. Schneeweiß. Die Straßen sind schwarz. Der Platz ist leer.

    Es steht an den Plakatsäulen und den Bretterwänden.
    MORD.
    Es hängt über Häusern und warnt an Ecken.
    MORD.
    In den Bars und aus dem Radio, von den Fernsehschirmen und in den Kinos.
    MORD.
    Vierspaltig in den Abendzeitungen.
    MORD.

    Und sie haben den Mörder noch nicht gefaßt. Die Fensterläden bleiben geschlossen. Er geht um. Der Mörder. Durch die Straßen und Gassen. Nur der Platz bleibt leer. Angst. Angst steigt in den Magen. Schnürt die Kehlen zu. Und die Kinder weinen. Die Miliz patrouilliert. Frauen urinieren in rosa Schlüpfer. Vor Angst. Männer rauchen. Eine Filterzigarette, die schmeckt. Sie werden ihn fassen. Den Mörder. Der den Kindern die Daumen abschneidet, wenn sie lutschen. Und Jungfrauen vergewaltigt, die keine mehr sind. Und Männer mutig macht. O, schaurig schön sind der Mörder und die Angst.

    Und dann riecht es auf dem Platz. Nach Bratkartoffeln und Sauerkraut. Es ist Mittag. Aber das Essen schmeckt nicht. Der Mörder geht um. Aber die Uniformen werden ihn fassen. Verhaften. Vom Leben zum Tod bringen. Sie fassen jeden. Sie werden auch ihn fassen, packen, strangulieren. Wartet nur! Habt Geduld!

    Aus den Straßen: das Gerücht. Auf dem Platz: das Gerücht. Kriecht durch die Mauerritzen. Steigt aus den Suppenterrinen. Doch die Mutter blicket stumm auf dem ganzen Tisch herum. Noch die Angst, aber auch das Gerücht.

    Und sie glauben es. Das Gerücht: Sie haben ihn. Irgendwo in den Straßen haben sie ihn gepackt. Gehetztes Wild. Sie haben ihn nicht erledigt. Nicht tot gemacht. Nur gepackt. In Eisen gefesselt. Marschtritt der Grünen. Fensterläden werden aufgestoßen. Tausend Gesichter. Neugierig. Freudig. Vor Erregung rot. Und Türen öffnen sich. Und Tausende stürzen heraus. Bilden einen Kreis. Auf dem Betonrund. Um den Brunnen und die Grünen. Und die Grünen um den Mann. Den Mörder. Ein Gesicht. Das ist er also. Der sie alle morden wollte. Eine ganze Stadt. Die Menge graunt. Leise und dann lauter. Die Kinder tanzen Ringelreihen und singen dazu »Möada, bösa Möada!« Und zeigen mit Fingern. Und spuk-ken. Und die aus den Häusern schreien. Schrei der Empörung. Der Wut. Der Masse. Und Hände greifen nach Steinen. Die haben sie mitgebracht. Wer aber unter euch ist, der erhebe den ersten Stein. Und der Stein wird geworfen. Der Stein der Masse. Einer hat ihn geworfen.

    Der Platz ist leer.
    In der Mitte des Platzes liegt ein Mann.

    Weiße Sonne flimmert. Steine erbrechen Hitze. Häuser haben geschlossene Fensterläden und weiße Mauern. Der Brunnen fließt ruhig. Von Quaderbecken zu Quaderbecken. Um diese Stunde ist keine Wasserträgerin am Brunnen. Fünf Straßen ohne Sonne. Der Platz ist hell. In der Mitte der Brunnen und ein Mann. Das Opfer. Die Luft flirrend. Schwüle Mittagshitze. Siesta. Er hatte es vorher angekündigt. Jedermann wußte es. Und neben dem »Die Liebe teilt« und »Kampf der Zuhälterei« konnte man lesen: »Einer will sich morgen erhängen, verbrennen, Hand an sich legen...« Morgen. Auf dem Platz. Wollte einer sterben. Für die Freiheit, für Vietnam, gegen den Hunger in der Welt, aus Protest, aus Angst, im Glauben an eine bessere Welt. Sie wußten es, und sie würden kommen. Sie würden es nicht verhindern. Ein Schauspiel. Die Reporter. Sie hatten es angekündigt. Die Mütter und Kinder. Sie konnten weinen, schreien, auch etwas sehen. Die Polizisten. Sie konnten abriegeln. Die Männer, die Protest wollten. Die Intellektuellen, die mit feinen Gesichtern lächeln und Gleichgültigkeit zwischen den Barthaaren verbergen. Morgen würde es soweit sein. Und sie werden kommen.

    Noch ist der Platz leer.

    Und in der Nacht sieht man nicht das Weiß der Häuser. Die persilreinen Fassaden. Hört nicht das Rauschen der Wasser. Der Brunnen ist noch abgestellt. Nur dumpfes Hämmern. Sie bauen Egmonts schwarzes Gerüst. Schichten das Holz für Jeanne d'Arc. Für sie, die morgen sterben sollen. Oder wollen. Sie haben schwarze Kapuzen auf. Die, die hämmern. Die morgen nicht sterben werden. Und das Geräusch tönt nicht hinter die verschlossenen Türen. Stört nicht die Wattebauschträume.

    Es ist Morgen. Morgens. Sechs Uhr. Der Platz voller Menschen.
    Dichtgedrängtes Rund.
    Wie im Amphitheater. Blendaxmünder reden von ihm. Den ihr morden werdet. Gemordet habt. Er hat die Welt erlöst. Freut Euch liebe Christeng'mein. Ihr werdet die Mörder bleiben. Gassen von stinkenden Leibern. Laßt das Kind doch auch etwas sehen. Wie alt ist er eigentlich?

    Nachts das überflüssige Wasser aus dem Körper ...
    Stimmt das wirklich?
    Klaus, komm hier.
    Nehmen Sie doch den Hut ab.
    So ist es im Leben.
    Mutti! Mutti!

    Und dann schweigen sie. Und er kommt durch die Gasse der anderen. Tritt in ihre Mitte. Steht schweigend. Der gelbe Mönch aus Saigon. Das zarte französische Mädchen. Der Revolutionär und der Schinderhannes. Der Ketzer und der Staatsmann. Kein Ton mehr. Sie schweigen.

    Dann: Brennende lebende Fackel. Verrenkte Hälse. Schrei der Weiber. Geifern. Tränen. Das Zischen und Klacken der Guillotine. Ein Mensch wird vernichtet. Vernichtet sich selbst. Stirbt für eine Idee. Die Revolution frißt ihre Kinder. Stirbt, weil ihn die Gesellschaft eliminiert. Die, die herumstehen. Um die Gaskammer. Das Schauspiel: ein Galgen und ein Toter.

    Vom Leben zum Tode. Für etwas. Für die anderen. Von den anderen. Leichen wird man entfernen. Die Zuschauer werden sich zerstreuen. Die Fensterläden wird man wieder schließen. Was bleibt, ist ein Brunnen und ein Gerüst. Das Gerüst der Macht.

    Der Platz ist leer.
    In der Mitte des Platzes steht ein Gerüst.
    Zwischen den Tempelsäulen steht er. Auf dem Forum. Marc Anton. Die Parteiparolen sind in den Stein gehauen. Auf Bretter genagelt. Seine Stimme tausendfach lautsprecherverhallt. Freunde, Römer!

    Und Arbeiterhände ballen sich zur Faust. Recken sich in die himmlische Freiheit. Schiebermützen drängen sich um das Podest. Die Fenster haben die Läden weggeworfen. Fahnen überall. Blutfahnen an den weißen Wänden. Und Stimmen rufen: »Kampf!« Und Kampf bricht aus Wänden und Steinen. Steigt hoch mit dem Brunnenwasser. Schließt euch zusammen. Lumpenhorden! Schlagt und mordet. Im Namen der Freiheit.

    Und schwenkt eure Plakate. Haltet die Parolen in schweißigen, schwieligen Händen. Streckt die Hände empor. Eure Arbeiterhände, die in unsere Zeit nicht mehr passen. Schreit doch Frieden, wenn ihr Krieg wollt. Wollt ihr den totalen Krieg?

    Und sie haken sich unter. Zittert ihr anderen. Tausend Brüder. Proletarier aller Länder vereinigt euch! Die neue Zeit kommt bestimmt. Vielleicht schon übermorgen. Dichtgedrängt Kopf an Kopf. Gegen die Macht. Für Recht und Einheit. Alle dieselben Mützen und dieselben Gesichter. Oder seid ihr es? Die Pazifisten? Keine Atomwaffen! Wollt ihr das? Kämpft dafür! Seid ihr es? Im Frack und Zylinder? Oder ihr? Schriftsteller und Analphabeten? Linksintellektuelle und Kommunisten? Hört seine Stimme! Der, der oben auf dem Gerüst steht. Er ist einer von euch, nur besser. Er verkündet die neue Zeit und das Leben nach dem Tode. Hört die Stimme des Predigers in der Wüste. Laßt euch einlullen vom Traum des neuen Menschen. Er da oben braucht euch. Eure Hände. Für sich. Seinen Kampf. Mit euch. Wir dürfen nicht warten, bis sie uns ersticken.

    Wir dürfen nicht weichen, wenn sie uns erdrücken. Und darum vorwärts! Vorwärts! Singt die Warschawjanka! Wohin führt euch der gute Hirte? Moses führte sein Volk in die Wüste. Napoleon in den russischen Schnee. Und Hitler führte ein Volk nach Auschwitz und Dachau. Sie halten ihre Fahnen hoch. Die Fahnen mit dem Emblem der Macht. Einer herrscht. Auf dem Gerüst. Tausend schreien. Da unten. Recken noch immer die Fäuste. Singen noch immer das Lied der neuen Zeit. Rostige Kehlen.

    Demagogie liegt ihm nicht. — Beschwörende Geste der rechten Hand. Seine Zeit sei noch nicht gekommen.— Er würde es ihnen schon zeigen. — Faust in der Luft. Sie würden siegen. — Lothringisches Kreuz mit zwei Fingern. Echo im Rund.

    Verziehen? Niemals! Überzeugung im Gesicht. Abwehrend die Hände. Und viele warten. Auf das Wort. Und er: Wachsam, lauernd, beobachtend, gleichgültig und dann:

    Vorwärts!
    über die Lautsprecher. Ins Herz. Revolution.
    Geht! Brecht die Macht!

    Und die Verdammten dieser Erde wachen auf. Schließen ihre Reihen. Hören das Signal zum letzten Gefecht. Zug von Millionen. Sehen im Osten das Morgenrot und vor sich die Fahne. Das Sterben verlacht. Heilig die letzte Schlacht. Die Trommel ruft, die Banner wehn. Schritt der Massen in den Straßen, in den Gassen. Waffen in ihren Händen. Auf die Barrikaden. Sie erstürmen die Welt.

    Der Platz ist wieder leer.
    Sie, die hier standen: Blutiges Gewühl in den schwarzen Gassen. Schrei der Verwundeten. Der Platz ist ruhig. Die Fahnen sind Staub und die Fensterläden wieder geschlossen. Das Gerüst zerbrochen von den Axtschlägen der anderen. Auf dem Platz werden ihre Leichen liegen. Abermals Tausende. Und Mütter weinen nutzlose Tränen. Das Wasser tönt in bronzenen Brunnenquadern. Fließt ab. Durch ein Siel am Boden des Steins. Sie werden eure Spruchbänder hier verbrennen. Blutverschmierter Beton. Weiße Häuser schweigen. Die Musik ihres Triumphmarsches ist schon zu hören. Die Steine für den Siegesbogen sind schon beschlagen. Die Fackelträger haben das Feuer entzündet. Der Marschtritt der Grünen klingt schon auf dem Pflaster der Straßen. Der Große wird sprechen. Und ein begeistertes »Ja« tausendfach im Beton-rund.

    Der Platz ist leer. Aus Beton steigt die Fäulnis empor. Menschen werden kommen. Aus den weißen Türen. Der Platz bleibt nicht leer.
Quelle: Beispiele, Hugo Ernst Käufer (Hrsg), 1969
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