Jüdisches Leben in Gelsenkirchen

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Die Geschichte der Juden in Gelsenkirchen geht belegbar zurück in das Jahr 1812. 1874 wurde die erste Synagoge eröffnet. 1945 wurde nach der Zeit des Nationalsozialismus eine neue Jüdische Gemeinde begründet. Diese ist Mitglied im Landesverband der Jüdischen Gemeinden von Westfalen-Lippe.

Geschichte

Die ersten jüdischen Familien

1812 wurde im damaligen Dorf Gelsenkirchen erstmals ein Jude erwähnt, der - wahrscheinlich als Vorstand einer Familie - zur nicht mehr bestehenden Jüdischen Gemeinde in Wattenscheid gehörte. 1829 waren es bereits drei Familien: Ruben Levo, Ruben Simon und Herz Heimann. 1830 kam noch die Familie Michael Abraham Würzburger dazu.

Infolge der Industrialisierung und des einhergehenden Bevölkerungswachstums Gelsenkirchens seit dem Eisenbahnanschluss 1847 wuchs auch die Anzahl der Juden: 1860 gab es bereits 60 jüdische Einwohner, die 1863 einen Betsaal in der oberen Etages des Hofgebäudes Hochstraße 34, heute Hauptstraße, anmieteten. Nur vier Jahre später wurde ein Grundstück in der Neustraße - heute Gildenstraße 4 - gekauft und ein zweistöckiges Gemeindehaus mit einem Betsaal mit 50 Plätzen, einem Klassenzimmer, einer Mikwe und einer Wohnung für den Hausmeister errichtet.

Gründung einer eigenen Gemeinde 1874

1873/74 erfolgte die Loslösung von der Gemeinde Wattenscheid, was die Zahlung eines Ausgleichs für die Gebühren, die Wattenscheid nun entgingen, zur Folge hatte. Nur die Juden Ückendorfs waren weiterhin Mitglieder in Wattenscheid und wurden erst 1908 Mitglieder in Gelsenkirchen. In dieser Zeit wurde auch ein eigener Friedhof an der Wanner Straße erworben.

Frontansicht der alten Synagoge

10 Jahre später erfolgte der Bau einer neuen Synagoge, die am 21. August 1885 eingeweiht und später mit einer Orgel ausgestattet wurde. Die Gemeinde folgte den Grundsätzen des Liberales Judentum und die Gottesdienste wurden nach modernen, fortschrittlichen Grundsätzen geordnet. Die Gebete waren über weite Strecken in deutscher Sprache und die wichtigen Kerngebete in hebräischer Sprache.

Die liberale Ausrichtung der Gemeinde veranlasste die orthodoxen Juden um Sanitätsrat Dr. Rubens, Dr. Max Meyer und Abraham Fröhlich später eine eigene Gemeinde zu bilden. 1920 wurde eine solche unter dem Namen „Adass Jisroel” gegen den Widerstand der Bezirksregierung gegründet. Abraham Fröhlich war seit etwa 1910 in der Stadt, er kam aus Mergentheim nach Gelsenkirchen und zählte zur deutschen Orthodoxie, die vom Chassidismus beeinflusst war. Im Hof seines Hauses auf der Florastraße 76 stellte er Chassidim aus Osteuropa ein Haus als Betstube mit Mikwe zur Verfügung.

Zudem gab es eine Betstube der polnischen Juden in einem Hinterhof auf der Arminstraße, die orthodoxe Amos-Loge traf sich in gemieteten Räumlichkeiten auf der Bahnhofstraße Nr. 14. Die Gemeinde traf sich auch in Räumlichkeiten an der Husemannstraße. Zwischenzeitlich wirkte in Gelsenkirchen, etwa ab 1922, Dr. Joseph Weiß als orthodoxer Rabbiner des „Vereins zur Wahrung der religiösen Interessen des Judentums in Westfalen”.

Seit 1914 wirkte in der liberalen Gemeinde Dr. Siegfried Galliner als Rabbiner aus Posen als Gemeinderabbiner. Er emigrierte 1938 nach London und verstarb dort 1960. In Gelsenkirchen begründete er unter anderem den „Jüdischen Schülerbund - Chewras talmidim” um das Zusammengehörigkeitsgefühl der Schüler zu stärken. Das Gemeindeleben endete dann mit der Zerstörung der Synagoge und des Gemeindehauses während der Novemberpogrome 1938.

Zeit des Nationalsozialismus

Die Synagoge und das Gemeindehauses wurden während der Novemberpogrome am 9. November 1938 zerstört.

Es sind heute unter anderem folgende Geschäfte und Arztpraxen bekannt, die jüdischen Familien gehörten, darunter allein an der Bahnhofstraße:[1]

  • Moritz Groß, Schuhe. Bahnhofstraße Nr. 13
  • Erich Neuwald, Konfitüren. Bahnhofstraße Nr. 14
  • Markus Cohen, Konfektion. Bahnhofstraße Nr. 19
  • S. Großmann, Hüte. Bahnhofstraße Nr. 20
  • Albert Gompertz Pelzwaren. Bahnhofstraße Nr. 22
  • B. Windmüller, Feinkost. Bahnhofstraße Nr. 23
  • Ella Wimpfheimer, Textilwaren. Bahnhofstraße Nr. 33
  • Theodor Löwenstein & Co, Putz u. Modewaren. Bahnhofstraße Nr. 33
  • Bamberger, Manufakturwaren- und Konfektionshandlung. Bahnhofstraße Nr. 35
  • Isidor Wollenberg, Konfektion. Bahnhofstraße Nr. 36
  • Josef Stamm, Putz u. Modewaren. Bahnhofstraße Nr. 38
  • Hugo Broch, Möbel. Bahnhofstraße Nr. 40a
  • Eisig Halpern, Wäsche. Bahnhofstraße Nr. 42
  • Dr. Hugo Alexander, Hautarzt. Bahnhofstraße Nr. 42
  • Gustav Carsch & Co GmbH, Damen u. Herren Konfektion. Bahnhofstraße Nr. 48-52
  • Appelrath & Cüpper GmbH, Damenkonfektion. Bahnhofstraße Nr. 49
  • Friedrich Winter, Weißware. Bahnhofstraße Nr. 54
  • Gebr. Alsberg AG, Kaufhaus. Bahnhofstraße Nr. 55-65, heute WEKA-Karree
  • Gebrüder Goldblum, Herren Konfektion. Bahnhofstraße Nr. 62
  • Fritz Goldschmidt, Tabakwaren. Bahnhofstraße Nr. 71
  • Hermann Oppenheimer, Konfektion. Bahnhofstraße Nr. 76
  • Otto Samson, Schuhhaus. Bahnhofstraße Nr. 78
  • Leopold Mosbach, Manufakturwaren. Bahnhofstraße Nr. 80
  • Leo Toppermann, Schneider. Bahnhofstraße Nr. 80
  • Jenny Boley, Herrenartikel. Bahnhofstraße Nr. 85

Neuanfang nach 1945

1945 wurde in Gelsenkirchen von Heimkehrern und Juden, die in der NS-Zeit ins Ruhrgebiet verschleppt worden waren, unter Führung des aus Weilburg stammenden Robert Jessel das „Gelsenkirchener Jüdische Hilfskomitee“ gegründet,[2] welches sich in der Feldmark (Schwindstraße) befand und aus dem die Kultusgemeinde hervorging. Seit 1956 leitete der Gelsenkirchener Geschäftsmann Kurt Neuwald für viele Jahre die Gemeinde. Sie war seit ihrer Gründung eine Einheitsgemeinde, sollte also liberalen, konservativen und orthodoxen Juden eine Heimat bieten. Anders war es auch gar nicht möglich, denn es gab einfach zu wenige Juden, um allen eine besondere Gemeinde zu bieten. 1958 wurden die Gemeinderäume in der Von-der-Recke-Straße bezogen, wo auch ein [[Alter jüdischer Betsaal[]Bethaus]] errichtet wurde. Die Gottesdienste wurden nach orthodoxem Ritus gehalten. Zur Erinnerung an die Zerstörung der alten Synagoge wurde 1963 auf dem Grundstück in der Georgstraße eine Mahntafel angebracht. 1993 wurde das Gelände vor dem früheren Standort der Synagoge zum „Platz der Alten Synagoge“ umbenannt.

Seit 1990 kamen stark vermehrt Juden aus den ehemaligen Staaten der Sowjetunion nach Gelsenkirchen. Nachdem die Gemeinde auf über 400 Mitglieder angewachsen war, legte Paul Spiegel am 9. November 2004 den Grundstein für eine neue Synagoge am alten Standort. Am 1. Februar 2007 wurde das Haus feierlich eröffnet. Der Betraum bietet Platz für insgesamt 400 Beter, zusätzlich ist ein Gemeindezentrum mit Veranstaltungsraum angeschlossen. 2013 hatte die Gemeinde 318 Mitglieder.[3] Sie bezeichnet ihr aktuelles Erscheinungsbild als traditionell-orthodox und verfügt über einen Rabbiner.[4]

In der Gemeinde wurde der Jüdische Kulturverein Kinor gegründet sowie der jüdische Sportverein Makkabi, der von Vladimir Veitsmann aufgebaut wurde.

ehemalige Synagogen bis 1938

  • Arminstraße (Hinterhof) - Betraum für orthodoxe Gemeinschaft (Mehrzahl polnische Juden)
  • Bahnhofstraße 14 - Betraum für die "Amos Loge"
  • Husemannstraße - Betraum für die einflussreichste der orthodoxen Gemeinschaften in Gelsenkirchen
  • Synagoge in der Maelostraße
  • Gildenstraße (früher Neustraße) - am 21. August 1885 eingeweiht, Am 9. November 1938 wurde das Gebäude in Brand gesetzt und zerstört. Nach dem Pogrom auf Kosten der Gemeinde (20.000 RM) abgerissen.
  • Industriestraße 100 (früher Franzstraße 3)

Weblinks


Einzelnachweise

  1. Lutz Heidemann Jüdische Handels- und Gewerbetreibende in (Alt-) Gelsenkirchen vor 1900 Auflistung nach Geschäftsgruppen
  2. AJR Information (Monatsblatt der Association of Jewish Refugees in Great Britain, London), Juli 1946, Seite 50.
  3. ZWST: Mitgliederstatistik 2013. Abgerufen am 12. Juni 2020
  4. Vorstellung auf der Internetseite der Gemeinde, aufgerufen am 11. November 2019.