Anna Spiekermann

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Anna Spiekermann (* um das Jahr 1670 in Sutum , † 31. Juli 1706 im Vest Recklinghausen) war das letzte Opfer der Hexenprozesse im Ruhr-Lippe-Raum.

Anna Spiekermann kam um das Jahr 1670 als uneheliche Tochter der Elßken Spiekermann auf dem elterlichen Kotten in Sutum zur Welt. Sie wurde als letztes Opfer einer fast zweihundertjährigen Geschichte der Hexenverfolgung im Vest Recklinghausen am 31. Juli 1706 hingerichtet.

Von ihrem Vater ist bekannt, dass er Soldat aus Buer war. Ihre Mutter war früh verstorben. Die Geschwister mütterlicherseits nahmen sich der Waise an. Anna Spiekermann heiratete Dirich Brockmann aus Sutum vom Brockmannshof der Soldat des Kurfürsten von Köln war. Nachdem ihr Mann im Jahre 1700 als Soldat gefallen war, musste sie ein oder zwei Jahre später mit ihrer kleinen Tochter den Hof und damit den Schutzraum der Schwiegerfamilie verlassen. Auch auf dem Kotten der eigenen Familie fand sie für sich und ihre Tochter keinen Platz. Sie ging zu ihrer Tante und Patin nach Westerholt. Hier arbeitete sie auf verschiedenen Höfen als Magd. Während dieser Zeit starb ihre kleine Tochter.

Enthauptung Leonora Galigaïs auf dem Place de Grève

Verlauf des Hexenprozesses

Zwischen 1514 und 1706 sind im Vest Recklinghausen 127 Hexenprozesse aktenkundig, davon 104 gegen Frauen. Höhepunkt der Hexenverfolgungen waren die Perioden 1580 - 1581 und 1588 - 1589, als die Truchsessschen Wirren endeten. Anna Spiekermann war das letzte Opfer der Hexenverfolgungen im Vest. Nach 15 Monaten Kerkerhaft wurde sie am 31. Juli 1706 durch Enthauptung hingerichtet. Die Gerichtsakten sind im Stadtarchiv Recklinghausen erhalten.

In Westerholt wurde Anna Spiekermann das Opfer eines Vergewaltigungsversuches. Als sie vor Ostern einen älteren Westerholter nach Hause begleitete, wurde dessen Sohn Johannes Krampe zudringlich und belästigte sie. Aus den Gerichtsakten ist zu rekonstruieren, dass er sie gegen ihren Willen küssen wollte, sie aufs Bett geworfen und gefragt habe, ob er nachts zu ihr kommen solle. Die bedrängte Frau hatte ihm, "über seine Buchsen gestrichen", wie sie zu Protokoll gab. Was heißt, sie war gezwungen sich gegen seine Gewalttätigkeiten tatkräftig zu wehren. Der abgewiesene und beleidigte Krampe rächte sich und verbreitete das Gerücht, Anna Spiekermann hätte ihn durch Behexung impotent gemacht, ihn "seiner Manneskraft" beraubt. Für seinen anschließenden Rachefeldzug fand er Unterstützung bei den "Junggesellen der Freiheit Westerholt". Zwanzig Männer rotteten sich zusammen und jagten die Frau durch das Dorf und schlugen sie am Ende derart zusammen, dass die Geschundene alles "gestand", was die Schläger von ihr verlangten.

Als sie kurze Zeit später verhaftet wurde, widerrief sie dieses Geständnis vehement. Am 19. April 1705 wurde sie von den Richtern der Freiheit Westerholt verhört. Da die Aussagen des Klägers nicht mit denen der Angeklagten übereinstimmten, wurde ein Zeugenverhör anberaumt. Die befragten Zeugen, darunter Nachbarn und Verwandte, gaben Auskunft über den Ruf der Angeklagten. Obwohl ihr keiner negative Eigenschaften wie beispielsweise Faulheit nachsagen konnte, waren sich alle einig, dass sie eine Hexe sein müsse.

Belastend war für die Angeklagte ihre Familiengeschichte, dass ihre Großmutter „zu horst alß eine hexe probirt auffs waßer geworffen, und ihre verwandten von ihrem geschlechte zu Suthum einen bösen Namen haben“. In der Folterkammer legte sie ein Geständnis ab, widerrief es jedoch unmittelbar nach der Folter. Am 7. Januar 1706 wurde sie „wegen teils gestandener, teils überzeugter Zauberei und dadurch an Menschen und Vieh verübten Schadens“ zum Tode durch das Schwert verurteilt und an der Wetterwiese (heute Wetterstraße) hingerichtet. Ihr „toter Körper“ sollte „zum abscheulichen Exempel durch den Scharfrichter öffentlich“ verbrannt werden. In einem langen Streit um die Gerichtsbarkeitrechte zwischen dem Grafen Hermann Otto von Westerholt (1626–1708) und den Bürgern Westerholts nutzte der Graf den Hexenprozess gegen Anna Spiekermann, seine Macht durch die Wahl der Hinrichtungsstätte zu demonstrieren. Ausgerechnet auf der Prozessionsstrecke sollte die Hinrichtungsstelle liegen, was die Bürger als Schmähung wahrnahmen und sich mit einer Beschwerde beim kurfürstlichen Gericht Recklinghausen zur Wehr setzten. Die kurkölnische Landesbehörde unterstützte jedoch den Grafen. Am Hinrichtungstag ließ der Graf den Ort von 700 aus den Nachbarorten angereisten Landschützen belagern, um seine Jurisdiktionsgewalt öffentlich zur Schau zu stellen.

Anna Spiekermann wurde der Prozess gemacht. Das Gericht legte ihr die erpressten angeblichen Taten zur Last und klagten sie an wegen Hexerei und Zauberei. Immer wieder beteuerte die Angeklagte, dass sie alles aus "grosser Angst" bekannt habe, weil die Männer sie "dergestalt mit Schlagen und Prügeln traktiert" hätten, "dass an ihrem Leib nichts Heiles gewesen" sei. Ganz offensichtlich gab es keine Fürsprecher für Anna Spiekermann. Die Dorfbewohner schwiegen aus Angst, in den Prozess verstrickt zu werden.

Unter den Qualen der Folter gab sie alle Taten zu, die man ihr zur Last legte. So "gestand" sie am 23. April 1705, dass die Tante ihr das Hexen beigebracht haben soll. Nachdem die Folter unterbrochen wurde und die Gefolterte wieder zur Besinnung gekommen war, widerrief sie. Sie sei wie "verdummt" gewesen, wisse nicht mehr, was sie tue oder sage, gesagt oder getan haben soll.

Nach Folter, Verhören und nach über fünfzehn Monate Kerkerhaft verurteilte das Gericht am 31. Juli des Jahres 1706 Anna Spiekermann, Witwe und Dienstmagd in Westerholt, "wegen teils gestandener, teils überzeugter Zauberei und dadurch an Menschen und Vieh verübten Schadens" zum Tod durch das Schwert. Ihr "toter Körper" sollte "zum abscheulichen Exempel durch den Scharfrichter öffentlich" verbrannt werden.

Am Tag der Hinrichtung befand sich Westerholt in einem Belagerungszustand — Folge eines seit langem schwelenden Machtkampfes zwischen dem Grafen von Westerholt und den Dorfbewohnern.

Im Vest Recklinghausen waren für Zivil- und Kriminalsachen die Gerichte in Recklinghausen und Dorsten zuständig. Der Burg- und Schlossbezirk Westerholt nahm eine Ausnahmestellung ein, denn die Bewohner von Westerholt unterstanden der Gerichtsbarkeit des Burgherrn. Im Jahre 1675 war den Herren von Westerholt vom Kölner Kurfürsten die Zivil-, Polizei- und Kriminalgerichtsbarkeit übertragen worden. Es kam immer wieder zu Streitigkeiten wegen der Zuständigkeit der Gerichte, wobei nicht nur der Landesherr und die Städte um die Gerichtshoheit stritten, sondern hier auch der Graf von Westerholt und seine Einwohner, die mehr Freiheiten forderten und die Ablösung der Feudallasten.

Der Prozess gegen Anna Spiekermann besaß damit politische Brisanz. Es ging um eine Kraftprobe zwischen dem Grafen von Westerholt und seinen Untertanen. Der Graf demonstrierte seine Macht, indem er zur Hinrichtungsstätte der Anna Spiekermann einen Platz bestimmte, an dem die Prozession der Westerholter traditionsgemäß vorbeizog. In seinem Bericht an den Kurfürsten äußerte der Graf sogar die Befürchtung, dass sich die "widerspenstigen Untertanen" bewappnen und die Exekution zu boykottieren suchen würden und dieses auf jeden Fall verhindert werden müsse, nötigenfalls unter Androhung schwerer Bestrafung.

Die Westerholter fassten die Entscheidung des Burgherrn als die Provokation auf, die sie war, und reagierten mit Beschwerden beim kurfürstlichen Gericht in Recklinghausen. Die kurkölnische Landesbehörde ergriff jedoch Partei für den Burg- und Grundherrn und damit gegen die nach Freiheit und Ablösung verlangenden Westerholter Dorfbewohner.

Am Todestag von Anna Spiekermann belagerten siebenhundert Landschützen Westerholt. Ihre Anwesenheit sollte die Durchführung der Exekution ohne Störungen garantieren und damit die Jurisdiktionsgewalt (Gerichtsbarkeit, Rechtsprechung) des Grafen öffentlich demonstrieren.

Anna Spiekermann war das letzte Todesopfer der Hexenprozesse im Ruhr-Lippe-Raum. Der ungewöhnlich lange Prozessverlauf und somit ihr fünfzehn Monate lang dauerndes Martyrium war den politischen Konfrontationen der Zeit geschuldet und Ausdruck von Machtdemonstration und sozialer Disziplinierung auf lokaler wie regionaler Ebene. Der Glaube an die Notwendigkeit von Prozessen gegen Zauberei konnte so im Vest noch in einer Zeit aufflammen, als die meisten Obrigkeiten andernorts bereits von den schädlichen Auswirkungen der Prozesse überzeugt waren.

Darstellung der als Hexe hingerichteten Anna Spiekermann im Heimatkabinett Westerholt

Rezeptionsgeschichte des Falles der Anna Spiekermann

Die Journalistin Kira Schmidt schrieb in einem Artikel der Online-Zeitschrift WAZ.de im Dezember 2010: „Sie war die schönste Frau von Westerholt, so sagt man. Doch genau diese Schönheit wurde ihr zum Verhängnis. Anna Spiekermann wurde der Hexerei bezichtigt und zum Tode auf dem Scheiterhaufen verurteilt.“ Angaben über Schönheit finden sich nicht in den Unterlagen des Hexenprozesses. Anna Spiekermann war zum Zeitpunkt ihrer Anklage, Folter und Hinrichtung bereits 36 Jahre alt.

1924 schrieb Oberlehrer Wilhelm Schmitt am Buerschen Leibniz-Gymnasium einen dramatischen Einakter, der aus Anna Spiekermann das „Hexenänneken“ machte, eine Heimatheldin, und am 22. Juli 1924 auf dem Schloss Berge bei Gelsenkirchen eine erfolgreiche Premiere feierte.

Eine historische Aufarbeitung der Hexenverfolgung im Vest Recklinghausen und des Falls der Anna Spiekermann vollzog sich erst in den 80er und 90er Jahren des 20. Jahrhunderts. Die Historikerin Marlies Mrotzek kam zu folgendem Ergebnis: „Anna Spiekermann wurde Opfer des Irrglauben des Hexenwahns, der noch Anfang des 18. Jahrhunderts im Vest Recklinghausen wütete. Der ungewöhnlich lange Prozessverlauf und somit ihr fünfzehn Monate lang dauerndes Martyrium war die Folge der Machtkämpfe zwischen den Feudalherren und den Dorfbewohnern, die politische Rechte und Freiheiten einforderten.“

Weblinks

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Quellen

Literatur

  • Wilhelm Mummenhoff: Zur Geschichte der Hexenverfolgung in der Stadt Recklinghausen und ihrer Umgebung während des 16. Jahrhunderts. In: Vestische Zeitschrift 34 (1927), S. 75–90
  • Heinrich Dieckhöfer: Das Vest Recklinghausen unter der Regierung der Kurfürsten Ernst und Ferdinand von Bayern 1583-1650. In: Vestische Zeitschrift 38 (1931)
  • Theodor Esch: Beitrag zur Geschichte der Hexenprozesse aus der Stadt Recklinghausen. In: Vestische Zeitschrift, Bd. 11 (1901), S. 61–78 (Online-Ressource)
  • Gudrun Gersmann: Auf den Spuren der Opfer – Zur Rekonstruktion weiblichen Alltags unter dem Eindruck frühneuzeitlicher Hexenverfolgung. In: Bea Lundt (Hrsg.): Vergessene Frauen an der Ruhr. Von Herrscherinnen und Hörigen, Hausfrauen und Hexen 800-1800. Köln, Weimar, Wien 1992, S. 243–272
  • Gudrun Gersmann: "Toverie halber..." Zur Geschichte der Hexenverfolgungen im Vest Recklinghausen. Ein Überblick. In: Vestische Zeitschrift. Bd. 92/93 (1993/1994), S. 7–43
  • Gudrun Gersmann: Die Hexe als Heimatheldin. Die Hexenverfolgung der Frühen Neuzeit im Visier der Heimathistoriker. In: Westfälische Forschungen. Bd 45 (1995). S. 102–133
  • Marlies Mrotzek: Anna Spiekermann (um 1670-1706) - das letzte Opfer der Hexenverfolgung im Vest Recklinghausen. In: Von Hexen, Engeln und anderen Kämpferinnen. Stadtrundgänge zur Frauengeschichte in Gelsenkirchen. Gelsenkirchen 2001, S. 75–80
  • Peter Fuchs: Hexenverfolgung an Ruhr und Lippe, Die Nutzung der Justiz durch Herren und Untertanen. Münster 2004, S. 40ff
  • Thomas Becks: Hexenänneken - Das Leben der Anna Spiekermann. 2011 978-3-8448-0692-2 (Website zum Buch)