Eurovia
Die Eurovia GmbH war ein deutsches Unternehmen aus der Textilbranche. Sitz des Unternehmens war an der Middelicher Straße 299 im Ortsteil Resse.
Geschichte
Das Unternehmen wurde 1966 durch Fritz-Karl Schulte aus Horstmar mit einem Kapital von zwei Millionen Mark gegründet. Später sollte das Kapital auf zehn Millionen Mark erhöht werden. Außer Fritz-Karl Schulte, der die Mehrheit behielt, waren sein Bruder Ewald und der Hauptgesellschafter Werner Otto vom Hamburger Otto Versand Teilhaber des Unternehmens.
Am 6. Mai 1966 wurde, zunächst mit 100 Mitarbeitern, die Produktion von Pullovern aufgenommen.
Fritz-Karl Schulte war seit Jahren mit Strickstrumpffabrik Schulte & Dieckhoff der größte Strumpffabrikant der Welt ("nur die"). Später fertigte er auch Herrenhemden in Europa.
Die Eurovia erwarb von der Stadt Gelsenkirchen an der Middelicher Straße ein 50 000 Quadratmeter großes Grundstück. Ab März 1966 sollten dort täglich 20 000 bis 30 000 Pullover produzieren werden. Für die Produktion wurden 50 der damals modernsten Strickautomaten in England und den Vereinigten Staaten zu einem Stückpreisen bis zu 350 000 Mark erworben. Diese sollten ihm den Vorsprung vor den Konkurrenten sichern: Während im Branchendurchschnitt jeder Beschäftigte im Monat für 23 000 bis 24 000 Mark Strickware erzeugt, sollte die Eurovia mit seinen Strickautomaten 70 000 bis 100 000 Mark erzielen. Die Eurovia wollte mit einer Tradition der Branche brechen. Bis dahin verwendeten die Pullovermanufakturen Garne, die bereits gefärbt waren. Das brachte den Nachteil, dass der Handel bis zu sechs Monaten vor der Lieferung disponieren musste und somit ein hohes modisches Risiko trug. Die Eurovia fertigte dagegen grundsätzlich nur weiße Rohware und färbten diese anschließend. Es wurden ausschließlich synthetische Fasern verarbeitet.
Am 28. Dezember 1976 wurde den 588 Mitarbeitern zum 1. Januar 1977 gekündigt. 10 Jahre nach der Eröffnung, wurde dann der Produktionsstandort Gelsenkirchen unter den Streiks und Demonstrationen der Belegschaft wieder aufgegeben.
Chronik der Schließung
- 29. Oktober 1976: 300 Beschäftigte der Strumpffabrik Eurovia in Resse treten in einen Warnstreik gegen die geplante Totalstilllegung des Betriebes, die dem Betriebsrat gestern von der Geschäftsführung der Schulte & Dieckhoff GmbH mitgeteilt wurde. Auf Anordnung des Landesarbeitsamtes müssen die insgesamt 600 Eurovia-Beschäftigten jedoch zunächst bis zum 14. Dezember weiterbeschäftigt werden.
- 2. November 1976: Oberbürgermeister Werner Kuhlmann versichert der Belegschaftsversammlung der Strumpffabrik Eurovia die Solidarität von Rat und Verwaltung bei ihrem Kampf um die Erhaltung der Arbeitsplätze. Die Beschäftigten äußern harte Kritik am Management der Dieckhoff-Gesellschaft, die das Werk trotz eines Gewinnes von 5 Mio DM im vergangenen Jahr schließen will.
- 13. November 1976: Der DGB-Kreisvorstand vertritt in einem Schreiben an Ministerpräsident Kühn die Auffassung, dass die Schließung des Eurovia-Werkes weder aus wirtschaftlichen Gründen notwendig noch wegen der hohen Arbeitslosigkeit in Gelsenkirchen zu verantworten ist, und macht noch einmal darauf aufmerksam, dass seinerzeit die Eurovia Textil GmbH im Rahmen der kommunalen Wirtschaftsförderung mit erheblicher finanzieller Unterstützung angesiedelt wurde.
- 16. November 1976: Das Vermittlungsgespräch zwischen der Leitung des Landesarbeitsamtes und dem Betriebsrat der Eurovia Textil GmbH in Düsseldorf verläuft ohne konkretes Ergebnis.
- 22. November 1976: Die Geschäftsleitung der Eurovia-Textil GmbH hat beim Landesarbeitsamt in Düsseldorf einen Antrag auf Massenentlassung gestellt. Demnach könnten die ersten 259 gewerblich Beschäftigten bereits zum 1. Januar 1977 die Kündigung erhalten. Neue Solidaritätsbekundungen an die Eurovia-Belegschaft kommen vom SPD-Unterbezirksparteitag und einer Vollversammlung von 3.000 Studenten der Ruhr-Universität Bochum.
- 26. November 1976: In seiner Erklärung zur beabsichtigten Schließung des Eurovia-Werkes in Resse verweist der Rat der Stadt darauf, dass die Textilfirma bereits bis heute 900 Arbeitsplätze abgebaut hat, und bittet die Landesregierung sowie alle weiteren Entscheidungsträger angesichts der Arbeitslosenstruktur der Stadt sehr eindringlich um Maßnahmen zum Erhalt der verbliebenen 600 Eurovia-Arbeitsplätze.
- 27. Dezember 1976: 13 Arbeiter und eine Arbeiterin der von der Stilllegung bedrohten Eurovia-Strumpffabrik in Resse schreiben mit Unterstützung von Industrie- und Sozialpfarrer Kurt Struppek und Autor Klaus-Peter Wolf an einem Theaterstück über den Ablauf der Ereignisse um das Eurovia-Werk.
- 28. Dezember 1976: Die Schulte & Dieckhoff GmbH sowie die Betriebsleitung der Eurovia-Textil GmbH in Resse haben allen 588 Belegschaftsmitgliedern über Weihnachten zum 1. Januar 1977 die Kündigung ausgesprochen. Das 1959 eröffnete Werk Rheine übernimmt nun die Produktion des Resser Werks.
- 1977: Eine zunächst vielversprechende Neuansiedlung, die Eurovia Textil GmbH, konnte sich am Markt nicht behaupten. Sie ging in Konkurs und setzte über 500 Arbeitsplätze frei. Zahlreiche Arbeitnehmer, unter ihnen ehemalige Bergleute der vor zehn Jahren stillgelegten Zeche Graf Bismarck, standen zum zweiten Mal innerhalb eines Jahrzehnts auf der Straße.
Ein Theaterstück, das das Schicksal der Arbeitnehmer der Eurovia-Textil GmbH schildert, wurde mit großem Erfolg bei den Ruhrfestspielen aufgeführt. Es hat den Titel: "Zehn Jahre danach - Trauerspiel einer Betriebsstilllegung".
- 6. Januar 1977: Die Verhandlungen über einen Sozialplan für die 588 betroffenen Mitarbeiter der zur Stilllegung vorgesehenen Eurovia-Textil GmbH in Resse sind gescheitert. Während als neuer Gesprächstermin der 13. Januar vereinbart wird, breitet sich unter der Belegschaft Unruhe und wachsende Kritik an der Unternehmenspolitik der Muttergesellschaft Schulte & Dieckhoff aus.
- 15. Januar 1977: In der zweiten Verhandlungsrunde um den Sozialplan für die Belegschaftsmitglieder der Eurovia-Textilwerke ist es nach zwölfstündigem Ringen zu einer Einigung gekommen. Danach wird für die 588 Betroffenen ein Betrag von 2,53 Mio. DM - das sind pro Kopf 4 300 DM - zur Verfügung gestellt.
- 5. April 1977: Der Vorsitzende der SPD-Ratsfraktion, Kurt Bartlewski, hat sich in einem Brief an Oberstadtdirektor Heinrich Meya dafür ausgesprochen, von der Eurovia-Textil GmbH die von 1966 bis 1975 gewährten Steuerstundungen in Höhe von 3,7 Mio. DM in einer Summe zurückzufordern, da das Unternehmen seinen Gelsenkirchener Betrieb ohne zwingenden Grund geschlossen und mehrere hundert Beschäftigte auf die Straße gesetzt habe.
- 28. April 1977: Die Stadt Gelsenkirchen hat die Eurovia-Textil GmbH jetzt offiziell aufgefordert, den Rest des 1965 gewährten Darlehens (3,7 Mio. DM) unverzüglich zurückzuzahlen.
- 2. Juli 1977: Die zusammengebrochene Eurovia-Textilfabrik wird das Restdarlehen in Höhe von 3,5 Mio. DM bis zum Jahresende an die Stadt zurückzahlen. Eine entsprechende Zusage kam jetzt vom Vorstand der Westdeutschen Landesbank, der Gesellschafterin der Eurovia.
Weblinks
Thematisch passender Thread im Forum (Dampflok an der "EUROVIA")
- SCHULTE & DIECKHOFF Immer was Neues
- nur die - Aufstieg und Fall des Strumpfkönigs Fritz Karl Schulte
Quellen
- DER SPIEGEL 46/1965
- Stadtchroniken 1976 und 1977