Vereinigte Stahlwerke
Die Vereinigte Stahlwerke AG (VSt), zeitgenössisch VESTAG genannt, war ein am 14. Januar 1926 gegründeter vertikal integrierter deutscher Montankonzern mit Sitz in Düsseldorf.
Entstehung
Die VSt entstand in einer durch Preisverfall und Überkapazitäten geprägten krisenhaften Situation der Weimarer Republik 1926 durch die Fusion der Thyssen-Gruppe (Anteil 26 %), Phoenix AG für Bergbau und Hüttenbetrieb (Anteil 26 %), der Rheinischen Stahlwerke (Anteil 8,5 %) sowie der Rhein-Elbe-Union GmbH,Deutsch-Luxemburgische Bergwerks- und Hütten-AG, Bochumer Verein und Gelsenkirchener Bergwerks-AG (Anteile zusammen 39,5 %).[1]
Der Zusammenschluss umfasste damit einen Gutteil der deutschen Eisen-, Stahl- und Bergwerksgesellschaften in der Grundproduktion; an namhaften Unternehmen blieben außen; vor Hoesch AG, die Friedrich Krupp AG, die Klöckner-Werke, die Gutehoffnungshütte sowie Mannesmann.
Bis 1930 wurden von den VSt drei Unternehmen neu gegründet, in denen zum Teil auch Bestandteile der Gründerwerke zusammengefasst wurden:[2]
- Die Mitteldeutschen Stahlwerke Ende 1926
- Die Demag aus der Maschinenfabrik Thyssen & Co. und der Deutschen Maschinenfabrik
- Deutsche Edelstahlwerke AG im Januar 1927
Die VSt war in den 1930er Jahren einer der größten deutschen Konzerne. Zeitweise galten die Vereinigten Stahlwerke auch als europaweit größter Stahl-Konzern und zweitgrößter Stahlkonzern der Welt mit 28 Schachtanlagen, 66 Eisenwerken mit insgesamt rund 242.000 Arbeitern und Angestellten und einen Jahresumsatz von ca. 2,5 Milliarden Mark, was 15 Prozent der deutschen Kohlenförderung und 34 Prozent der deutschen Stahlerzeugung entsprach.[3]
Die VESTAG residierte seit 1928 in Düsseldorf im „Neuen Stahlhof“, neben dem älteren, „Stahlhof“ genannten Gebäude von 1908 (Bezug). Sie stellte sich damit auch architektonisch in die Nachfolge sowohl einer trotz der Konkurrenz möglichst starken Kartellierung und Lobbytätigkeit der deutschen Stahlindustrie (Stahlwerksverband bis 1923 im alten Gebäude), als auch einer engen Zusammenarbeit mit der Wehrmacht (Deutscher Stahlbund 1914–1919).[4]
Erster Vorstandsvorsitzender des Unternehmens war bis 1935 Albert Vögler. Erster Aufsichtsratsvorsitzender war Fritz Thyssen. Stellvertretende Vorsitzende waren Ernst Poensgen, Carl Rabes und Gustav Knepper.
In der Weltwirtschaftskrise 1932 wurden Teile der Vereinigten Stahlwerke verstaatlicht, um den Konzern vor dem Ruin zu bewahren. Der deutsche Staat kaufte dabei von Friedrich Flick Aktien zu einem weit überhöhten Preis (99 Millionen Reichsmark; der Marktwert der Wertpapiere lag bei 25 Millionen Reichsmark). Das führte zu großer öffentlicher Empörung. (Siehe Gelsenberg-Affäre) Mit der Lex Stahlverein wurde 1936 das Aktienpaket wieder mit 33 Millionen Reichsmark Gewinn für die Vereinigten Stahlwerke zurückverkauft.
Aufsichtsrat
Im ersten Aufsichtsrat saßen u.a. folgende Mitglieder:[5]
- Fritz Thyssen, Aufsichtsratsvorsitzender
- Walther Fahrenhorst, Generaldirektor der Phoenix AG für Bergbau und Hüttenbetrieb
- Werner Carp, Bankier und Vorsitzender des Aufsichtsrats der Phoenix AG für Bergbau und Hüttenbetrieb
- Carl Fürstenberg, Geschäftsinhaber der Berliner Handels-Gesellschaft
- Friedrich Funcke, Generaldirektor der Bergwerksabteilung der Gelsenkirchener Bergwerks-AG
- Jakob Goldschmidt, Geschäftsinhaber der Darmstädter und Nationalbank
- Johann Jacob Haßlacher, Vorstandsvorsitzender der Rheinischen Stahlwerke
- Willy Huber Vorstandsvorsitzender der Gelsenkirchener Bergwerks-AG
- Karl Knupe, Vorstandsmitglied Deutsch-Luxemburgische Bergwerks- und Hütten-AG
- Otto Krawehl, Aufsichtsratsvorsitzender Rheinischen Stahlwerke
- Hermann Krueger, Vorstandsmitglied der Gelsenkirchener Bergwerks-AG
- Henry Nathan, Vorstandsmitglied der Dresdner Bank
- Adolf Pöhlmann, Direktor der Bayrischen Vereinsbank
- Arthur Salomonsohn, Geschäftsinhaber der Disconto-Gesellschaft
- Oscar Schlitter, Vorstandsmitglied der Deutschen Bank
- Hermann Schmitz , Vorstandsmitglied der I.G. Farben
- Otto Wolff
Politische Rolle
Im Frühjahr vor den Reichstagswahlen 1932 soll die Vereinigte Stahlwerke AG laut den Memoiren von Heinrich Brüning 500.000 Reichsmark an die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei gespendet haben.[6] Albert Vögler war bereits im Januar 1919 Mitinitiator des sog. Antibolschewistenfonds gewesen, der die Niederschlagung der Deutschen Räterepubliken vorantrieb. In der Werkszeitung „Das Werk“ der Vereinigten Stahlwerke von 1927 hieß es:
- „Die Geschichte fast aller Völker ist ein ewiger Ausdehnungsdrang, ein nie ruhendes Ausdehnungsbedürfnis.“ Deutschland habe “zu wenig, viel zu wenig Land“[7]
Nach den Forschungen des amerikanischen Historikers Henry A. Turner darf die Unterstützung der Stahlindustriellen beim Aufstieg der NSDAP aber nicht überschätzt werden: So wahrte der stellvertretende Vorstandsvorsitzende Ernst Poensgen sowohl vor als auch nach 1933 Distanz zu den Nationalsozialisten;[8] Vorstandsvorsitzender Albert Vögler unterzeichnete noch im Herbst 1932 einen Aufruf zur Unterstützung der Regierung Papen – unter die etwa gleichzeitig entstandene Industrielleneingabe, mit der Hindenburg bewegt werden sollte, Hitler zum Reichskanzler zu machen, setzte er seine Unterschrift dagegen nicht.[9]
In der Zeit des Nationalsozialismus spielte der Konzern eine wesentliche Rolle bei der Aufrüstung. Da die Vereinigten Stahlwerke allerdings ihre Kapazitäten nicht in dem von der Regierung geforderten Maß ausbauten, gründete das Reich in Salzgitter die Reichswerke Hermann Göring (heute Salzgitter AG) als Wettbewerber.
Im Zweiten Weltkrieg wurden die Produktionsanlagen durch Luftangriffe größtenteils zerstört, nach Kriegsende wurden die Vereinigten Stahlwerke zerschlagen und die restlichen Produktionskapazitäten demontiert. In der Bundesrepublik Deutschland entstanden ab 1951 mehrere Nachfolgeunternehmen, darunter die Dortmund-Hörder Hüttenunion AG, August Thyssen-Hütte AG, Rheinstahl und der Bochumer Verein. Die letzten noch nicht wieder in die Selbstständigkeit überführten Unternehmen wurden im April 1954 in der Handelsunion AG zusammengeführt.[10] Die Handelsunion AG ging später im Thyssen-Konzern auf.
Einzelwerke nach der Entflechtung
Die in der Vestag zusammengeschlossenen westdeutschen Hüttenwerke wurden in folgende Einzelne Aktiengesellschaften aufgespalten, die zumeist innerhalb der nächsten Jahre wieder zu Konzernen zusammengeschlossen wurden.[11]
Name und Sitz der Gesellschaft | Frühere Konzernzugehörigkeit |
---|---|
Hüttenwerk Ruhrort-Meiderich AG, Duisburg | Vestag |
Hüttenwerk Rheinhausen AG, Rheinhausen | Krupp |
Hüttenwerk Oberhausen AG, Oberhausen | Gutehoffnungshütte |
Hüttenwerk Dortmund AG, Dortmund | Hoesch |
Hüttenwerk Hörde AG, Dortmund-Hörde | Vestag |
Hüttenwerk Union AG, Dortmund | Vestag |
Hüttenwerk Haspe AG, Hagen-Haspe | Klöckner |
Hüttenwerk Huckingen AG, Duisburg | Mannesmann Röhrenwerke |
Hüttenwerk Ilsede Peine AG, Peine | Ilseder Hütte |
Hüttenwerk Niederrhein AG, Duisburg | Vestag |
Georgsmarienhütte AG, Georgsmarienhütte | Klöckner |
Rheinische Röhrenwerke AG, Mülheim (Ruhr) | Vestag |
Gußstahlwerk Witten AG, Witten (Ruhr) | Vestag |
Gußstahlwerk Bochumer Verein AG, Bochum | Vestag |
Stahlwerke Bochum AG, Bochum | Otto Wolff |
Stahl- und Walzwerk Großenbaum AG, Duisburg-Großenbaum | Mannesmannröhren-Werke |
Stahl- und Röhrenwerk Reisholz AG, Düsseldorf-Reisholz | Press- und Walzwerk (Gruppe Thyssen-Bornemisza) |
Hüttenwerk Geisweid AG, Geisweid | Vestag |
Stahlwerk Osnabrück AG, Osnabrück | Klöckner |
Gußstahlwerk Oberkassel AG, Düsseldorf-Oberkassel | Vestag |
Stahlwerk Hagen AG, Hagen | Hoesch |
Eisenwerke Mühlheim-Meiderich AG, Mülheim (Ruhr) | Vestag |
Gelsenkirchener Gussstahl- und Eisenwerke, Gelsenkirchen | Vestag |
Westdeutsche Mannesmannröhren AG, Düsseldorf | Mannesmannröhren-Werke |
Literatur
- Die Vereinigte Stahlwerke A.-G. Ihr Aufbau und ihre Bedeutung für Deutschland und die Weltwirtschaft. Hg. Schwarz, Goldschmidt & Co., Hoppenstedt, Berlin W8 1926
- Vereinigte Stahlwerke AG. Düsseldorf 1928. Aufbau, Werke, Zechen und Rohstoffbetriebe, Konzern-Gesellschaften, Statistik, Finanzen. 1928 (Als Mskr. gedr.) Reihe: „Das Spezial-Archiv. Das Industrie- und Börsen-Werk“. Sonderausgabe Stahl
- dies. (Hrsg.): Allgemeiner Führer. Mit Abbildungen, Lageplan, Karten. Düsseldorf 1930 (93 S.)
- Ein Überblick über die Vereinigte Stahlwerke Aktiengesellschaft Düsseldorf und ihre Betriebsgesellschaften. Düsseldorf 1937[12]
- dies.: Coal, Iron, Steel. A review of the Vereinigte Stahlwerke AG and subsidiary companies. Vereinigte Stahlwerke, Duesseldorf 1937 (70 S.)
- Alfred Reckendrees: Das „Stahltrust“-Projekt. Die Gründung der Vereinigte Stahlwerke A.G. und ihre Unternehmensentwicklung 1926–1933/34. Schriftenreihe zur Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, C. H. Beck, München 2000, ISBN 3-406-45819-X
- Gerald Spindler: Recht und Konzern: Interdependenzen der Rechts- und Unternehmensentwicklung in Deutschland und den USA zwischen 1870 und 1933. Mohr Siebeck Verlag 1993, ISBN 3161461231 S110ff. online (Abgerufen am 1. Juni 2009)
- Kim Christian Priemel: Flick: eine Konzerngeschichte vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik. Wallstein, Göttingen 2007, ISBN 3835302191, S. 121ff. online (Abgerufen am 1. Juni 2009)
- Bernhard Dietrich: Vereinigte Stahlwerke. Reihe: Stätten deutscher Arbeit, Band 4. Widder, Berlin 1930
- Reinhard Frommelt: Paneuropa oder Mitteleuropa. Einigungsbestrebungen im Kalkül deutscher Wirtschaft und Politik 1925–1933. Deutsche Verlags-Anstalt|DVA, Stuttgart 1977 Reihe: Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte; Nr. 34 Zugl.: Univ. Konstanz, Diss., 1975 ISBN 342101793X
- Gerhard Th. Mollin: Montankonzerne und „Drittes Reich“. Der Gegensatz zwischen Monopolindustrie und Befehlswirtschaft in der deutschen Rüstung und Expansion 1936–1944. Reihe: Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft Bd. 78. V&R Göttingen 1988 Zugl.: Univ. Bielefeld, Diss., 1986 ISBN 3525357400
- Karl Heinrich Pohl: Weimars Wirtschaft und die Aussenpolitik der Republik 1924–1926. Vom Dawes-Plan zum internationalen Eisenpakt. Droste, Düsseldorf 1979. Zugl.: Univ. Hamburg, Diss. phil. 1978 udT.: Vom Dawes-Plan (1924) bis zum internationalen Eisenpakt (1926), ISBN 3770005252
- Paul Ufermann: Der deutsche Stahltrust. Verlagsgesellschaft des ADGB, Berlin 1927
- Kontinentaler Stahltrust? in „Die Internationale Gewerkschaftsbewegung. Vierteljahresschrift des Internationalen Gewerkschaftsbundes.“ 5. Jahrgang, Nr. 1, Jan./März 1925. Hrsg. Internat. Gewerkschaftsbund, Amsterdam (Verf. unbek.)
- Julius Gutmann: Über den amerikanischen Stahltrust. Mit Berücksichtigung des deutschen Stahlwerksverbands. G. D. Baedeker, Essen 1906 (über den Vorläufer der VESTAG)
- Kurt Gossweiler: Die Vereinigten Stahlwerke und die Großbanken. In dsb.: Aufsätze zum Faschismus. Berlin (DDR) 1988
- Helmut Uebbing: Wege und Wegmarken. 100 Jahre Thyssen 1891–1991. Siedler, München 1991 ISBN 3886804178 (darin: „Thyssen im Stahlverein“)
- Wilhelm Treue & Helmut Uebbing: Die Feuer verlöschen nie. August-Thyssen-Hütte. Festschrift zum 75jährigen Bestehen. Bd. 1: 1890–1926, darin Kap. 5: Vom Weltkrieg zum Stahlverein 1918–1926 (Bd 2: „1926–1966.“) Econ, Düsseldorf 1966
- Kurt Pritzkoleit: Männer, Mächte, Monopole. Hinter den Türen der westdeutschen Wirtschaft. Karl Rauch, Düsseldorf 1953, 1960 Mit Register (darin: Vereinigte Stahlwerke: Die Auflösung des grössten deutschen Konzerns) Etwas feuilletonistisch, aber auch mit Tabellen.
- Karl Wilke: 50 Jahre im Dienste des Ruhrbergbaues. Aus meiner Arbeit bei der Gelsenkirchener Bergwerks-Aktien-Gesellschaft und der Vereinigte Stahlwerke AG. Erinnerungen eines 80jährigen. Flothmann, Kettwig 1955
- Ralf Stremmel & Manfred Rasch: Findbuch zu den Beständen: Vereinigte Stahlwerke AG und Bergbau- und Industriewerte GmbH. 2 Bände. Reihe: Veröffentlichungen aus dem Archiv der Thyssen AG. Duisburg 1996
- Jeffrey Fear: Organzing Control. August Thyssen and the construction of German corporate management. Reihe: Harvard Studies in Business History. Harvard UP 2005 (auch über die Vestag 1871–1934)
Weblink
- http://www.h-net.org Die VESTAG auf geschichtswiss. Online-Plattformen (37 Nennungen)[13]
Einzelnachweise
- ↑ Dietrich, S. 10
- ↑ Dietrich, S. 95ff.
- ↑ Artikel „Wem gehört der Stahlverein?“, DIE ZEIT, 29. September 1949, Nr. 39, online (Abgerufen am 1. Juni 2009)
- ↑ http://www.vg-duesseldorf.nrw.de/wir_ueber_uns/gebaeude/index.php
- ↑ Gerhard Gebhardt: Ruhrbergbau, Geschichte, Aufbau und Verflechtung seiner Gesellschaften und Organisationen. Essen 1957, S. 226
- ↑ Brüning wurde dies eigenen Angaben zufolge aus Nazikreisen zugetragen, er drückt noch in seinen Erinnerungen Empörung darüber aus. Memoiren 1918–1934. DVA, Stuttgart 1970, S. 531.
- ↑ Joachim Radkau: Renovation des Imperialismus im Zeichen der „Rationalisierung“. Wirtschaftsimperialistische Strategien in Deutschland von den Stinnes-Projekten bis zum Versuch der deutsch-österreichischen Zollunion 1922–1931 In: dsb. & Imanuel Geiss (Hrsg.): Imperialismus im 20. Jahrhundert. Gedenkschrift für George W. F. Hallgarten. München 1976, S. 233.
- ↑ Henry Ashby Turner: Die Großunternehmer und der Aufstieg Hitlers. Siedler Verlag, Berlin 1985, S. 162
- ↑ Henry Ashby Turner: Die Großunternehmer und der Aufstieg Hitlers. Siedler Verlag, Berlin 1985, S. 365f
- ↑ Artikel „Stahlverein in der Endphase“, DIE ZEIT, 22. April 1954 Nr. 16, online (Abgerufen am 5. Juni 2009)
- ↑ Artikel „Entflechtung der Stahl-Industrie“, „Hüttenzeitung“ des Bochumer Vereins, JG 22/23, 1951
- ↑ eine weitere Ausgabe udT Kohle, Eisen, Stahl. Ein Überblick usw. ist aus dem Jahr 1939 bekannt, mit Fotos von Paul Wolff
- ↑ Abgerufen am 2. Dezember 2009, Stichwort: vereinigte stahlwerke