Hallo WoKaDeh,
ich war auch im Kinder KZ Brilon. Ich denke es war ein Haus der Barmer Ersatzkasse. Zumindest haben die das bezahlt.
Ich war dort 69 im November /Dezember.
Meine Erinnerungen:
Man blickte aus dem Fenster des Aufenthaltraumes über ein Tal auf den gegenüberliegenden Berghang. Der war die meiste Zeit wolkenverhangen und die Nebelfetzen hingen in den Tannenspitzen. Dieser Blick hat sich untrennbar mit der Zeit in diesem Haus verbunden. Noch heute kann ich nebelverhangene Berghänge nur sehr schlecht ertragen. Ich glaube, ich habe die meiste Zeit aus diesem Fenster gestarrt und fürchterliches Heimweh gehabt.
Vor dem Haus gab es einen Spielplatz. Es hatte stark geschneit und auf der dort befindlichen Wippe lag eine Schneehaube. Ich habe die Wippe angeschubbst und die Schneehaube hüpfte auf den Brett. Dann bekam ich auch schon eine derbe Ohrfeige und wurde für eine Woche von allen gemeinschaftlichen Aktivitäten ausgeschlossen. Statt dessen musste ich alleine im Haus bleiben und täglich 150 Mal einen Satz aufschreiben. "Ich darf nicht die Wippe anschubbsen!" So etwas in der Art.
Wenn die anderen Kinder im Haus waren, musste ich in der Ecke stehen. Stundenlang, tagelang.
Das Essen war ekelhaft. Wir wurden regelrecht gemässtet und mussten alles aufessen. Einige Kinder haben sich übergeben. Sie mussten das Erbrochene wieder essen.
Bettnässer wurden beim Frühstück blosgestellt. Die Laken wurden unter Hohn und Spott präsentiert und es gab eine Bestrafung. Einen Tag in der Ecke stehen. Es gab Tage, da gab es regelrechtes Gedränge in den Ecken.
Zum Duschen mussten sich alle Kinder nackt ausziehen und im Flur aufstellen. Dann wurde zuerst die Unterwäsche auf Bremsspuren kontrolliert. Natürlich wurde jeder Fund lauthals kommentiert und die Unterhosen über die Köpfe der Kinder gezogen. Dann wurde die nackte Kinderkarwane in den eiskalten Keller getrieben. Dort standen zwei Frauen in Gummischürze und Gummistiefeln. Die eine Frau hielt das Kind fest und die andere hat die Waschung vorgenommen. Das Wasser kam aus einem Schlauch und war viel zu heiss. Ich habe Verbrennungen bekommen.
Das Taschengeld wurde sofort bei der Ankunft konfisziert. Wir mussten viel Geld mitbringen Das stand schon so in den "Reiseunterlagen". Ich denke es waren 50 Mark. Für die damalige Zeit eine erhebliche Summe. Meine Eltern waren darüber sehr empört. Angeblich war das Geld für Ausflüge und Eintrittsgelder. Weil die Kasse knapp war, hat Opa noch was gesponsert.
Tatsächlich wurde davon ein Friseur bezahlt und ein Erinnerungsphoto mit einem Ponny. Der Rest der über war, wurde uns am letzten Abend bei einem hausinternen Basar abgeknöpft. Geschenke für die Lieben daheim. Schnappsgläser, Räuchermännchen und geschnitzte Holztäfelchen mit Sinnsprüchen.
Der Druck war so hoch, das sich die Kinder untereinander geholfen haben. Die Großen haben die Kleinen getröstet und beschützt. Einige haben beim Essen die Sachen mit gegessen, die andere beim besten Willen nicht herunter bekommen haben. Abends haben wir Fluchtpläne geschiedet.
Ein nach Käsefüssen stinkender Seiteneingang ist mir auch noch in bleibender Erinnerung geblieben.
Einmal habe ich ein Geschenkpaket bekommen. Darin enthalten Süßigkeiten wurden sofort eingezogen.
Freitags wurden Briefe nach Hause geschrieben. Die wurden dann eingesammelt und laut verlesen. Wie kannst du so etwas Böses schreiben? Ab in die Ecke und dann noch einmal neu schreiben. Am zweiten Freitag waren alle Briefe wie gewünscht.
Seit dieser Zeit kann ich bestimmte Lebensmittel nicht mehr essen. Käse, Geflügel und Fisch. Der Geruch von Senf verursacht Übelkeit.
Der Anblick von Bergen im Nebel verursacht sehr schlechte Gefühle.
Ich kann es nicht ertragen, wenn mir beim Essen jemand etwas auf den Teller tut. Ich muss das selber machen.
Es war die mit Abstand schlimmste Zeit in meinem Leben.
In einem Traum, den ich dort hatte, bin ich im Hause meines Onkels zur Toilette gegangen. Ihr könnt euch vorstellen, was dann passiert ist. Diesen Traum träume ich heute noch regelmäßig. Zum Glück bleibt das Bett dabei trocken.
Und nun sage ich euch, wieso ich dazu komme diesen Beitrag zu schreiben. Nach 40 Jahren. Zur Zeit hört man jedes Tag etwas über sexuellen Missbrauch in Schulen und Heimen aus den 70er Jahren. Da fiel mir dieser Heimaufenthalt wieder ein. Ich habe Google nach Brilon und Kur befragt und bin auf diese Beitragsreihe gestossen.
Nach heutigen (und vermutlich auch damaligen) Maßstäben war das ein Verbrechen, was mit uns Kindern dort gemacht wurde. Ich wusste nicht, warum ich diesen Aufenthalt mit sexueller Mißhandlung assoziiere. Mittlerweile habe ich den Verdacht, das wir bei der Duschaktion befummelt wurden. Soweit ich mich erinnere, war da auch ein Mann zugegen. Ich habe aber keine Ahnung wer das gewesen sein könnte. Eigentlich gab es dort keinen Mann. Ich habe auch keine konkrete Erinnerung an eine sexuelle Mißhandlung. Vermutlich hätte ich als behütetes Kind, das auch gar nicht einordnen können. Ich habe nur so ein unbestimmtes Gefühl, dass das nicht sauber war. Der ganze Vorgang des Duschens, die Untehosenkontrolle, das nackt sein und der Auftrieb in dem kalten Flur hatte etwas total beschämendes und erniedrigendes. Ich habe mich regelrecht vor dem nächsten "Badetag " gefürchtet.
Ich bin sehr überrascht, wie stark die Gefühle beim niederschreiben dieser Zeilen sind. Mittlerweile bin ich ein Mann von 50 Jahren. Ich hätte nicht gedacht, dass diese Dinge noch so präsent sind.
Fazit: Die Kinderkur der Barmer Ersatzkasse führte direkt ins Kinder KZ Brilon. Es ist mir unbegreiflich, wie solches Personal auf die Kinder losgelassen werden konnte.
Meine grosse Schwester kann eine ähnliche Geschichte aus einer Kinderkur berichten.
Uns beiden gleich ist, dass wir von schmalen und dürren Kindern zu übergewichtigen Teenagern und Erwachsenen geworden sind. Möglicherweise ein "Erfolg" dieser Kur.
Ich habe als Erwachsener mit meinen Eltern darüber gesprochen. Sie waren sehr entsetzt und zugleich überrascht, dass sie als Eltern das nicht so ernst wahr genommen haben. Folgende Gründe dafür haben wir ausgemacht:
1. Eine solche Kur war damals total der Hit. Plätze waren sehr begehrt und das hatte einen sehr guten Ruf. Vermutlich hatte die Kriegsgeneration da auch eine besondere Wahrnehmung was Gewicht anging. Dick = gesund.
2. Wir Kinder waren recht behütet. Für das, was uns dort wiederfuhr, hatten wir gar keinen Wortschatz. Ich habe wohl nur erzählt, dass die sehr streng waren. Das galt damals noch als Tugend.
3. Über "so etwas" redete man auch nicht. Das wurde als persönliche Schande betrachtet. Der jenige, der so etwas zur Sprache brachte, wurde schnell selbst zum Beschuldigten.
4. Wir Kinder haben uns nicht getraut. Der erfahrene Druck hat noch weit über die eigentliche Zeit in dem Heim hinaus gewirkt. Ich kann mich erinnern, dass ich sogar schöne Geschichten über die Zeit erzählt habe. Zum Beispiel, wie toll das Schlitten fahren war. Dabei war ich der Einzige, der nicht Schlitten gefahren ist, weil ich Hausarrest hatte.
Jetzt, wo ich mal alles aufgeschrieben habe, bin ich überrascht über die Dimension. Ich denke, so manch einer wird sich in meinen Erinnerungen wieder finden.
Interessant sind auch Details die im Gedächtnis geblieben sind. Die diagonal beplankte Haustür mit dem karoförmigen Fenster zum Beispiel. Oder die Geschenke, die ich mit nach Hause gebracht habe.
Aber das beeindruckenste sind die Gefühle, die beim Schreiben wieder wach werden. Ich hab wohl doch mehr Macken abbekommen als ich gedacht habe.
Nein, ich leide heute nicht mehr darunter. Ich zitter auch nicht beim schreiben oder fange an zu weinen. Ich bin nur sehr überrascht, was da in mir an verborgener Stelle noch so auf zu finden ist. Und ich bin wütend, über das was mit uns Kindern damals gemacht wurde.