Ilse Kibgis

Schriftstellerei, Dichtung, Rezitation

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Ilse Kibgis

Beitrag von Verwaltung »

  • Die Heimat: kein Knüller im Katalog
    80 Jahre: die Lyrikerin Ilse Kibgis

    "Meine Stadt ist kein Knüller im Reisekatalog" - das war der Titel eines Gedichts (und eines Buches), mit dem Ilse Kibgis eine Liebeserklärung an ihre Heimatstadt artikulierte (1983). Die Gelsenkirchener Lyrikerin und Erzählerin, zwischenzeitlich mal in Essen / Gladbeck lebend, dann aber nach Horst zurückgekehrt, wurde jetzt 80 Jahre alt.
    Kibgis gehört einer literarischen Generation an, die aus der Nähe zum Alltag, zur Industrie, zu einer bestimmten sozialen Schicht den Lesestoff saugten. Erst im gereiften Alter wurde sie "entdeckt" - einer ihrer größten Förderer war Hugo Ernst Käufer, Ex-Direktor der Stadtbibliothek. Er sah in ihr ein "bemerkenswertes Talent mit einer intensiv-natürlichen Sprache".
    Der zweite Wegweiser für ihre Autorenschaft war der Kollege Josef Büscher, der sie ermunterte mit ihren Texten an die Öffentlichkeit zu gehen und aus ihrem Schaffen zu lesen. Die Revierwirklichkeit in der engsten Nachbarschaft - das war / ist ihr Thema. Diese aber auch poetisch zu erhöhen, das bedeutete Kraft. Bescheidenheit, soziales Engagement und Zuverlässigkeit prägten neben literarischer Arbeit ihren "wichtigeren Lebensabschnitt", wie sie selbst den Gang an die Öffentlichkeit mit ihren Texten bezeichnete.
    Was sie auch über ihr Schreiben sagt: "Das ist jedes mal gedankliche Schwerstarbeit, jeder Satz."
    HJL
WAZ, 5. Juni 2008
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Beitrag von Verwaltung »

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Beitrag von Verwaltung »

  • Ilse Kibgis
    Verheiratet seit 1953
    Bild
    Meinen Mann habe ich in der evangelischen Jugend kennengelernt. Ich habe einen Sohn. 2 Kinder sind mir klein gestorben. Der Sohn ist 1955 geboren. Im Moment bin ich arbeitslos, bin aber immer berufstätig gewesen, d.h. 10 Jahre nach der Geburt meines Sohnes war ich zuhause. Ich war Verkäuferin, Kassiererin, Manglerin in einer Heißmangel. Und seit 1977 bin ich Schriftstellerin. Mein Mann ist Rentner. Bei Kriegsende war ich 17 Jahre alt.
    Ich war zu der Zeit in Hessisch Oldendorf, in der Nähe von Hameln evakuiert mit meiner Mutter und meinen kleinen Brüdern. Da habe ich in einer Schuhfabrik gearbeitet.
    ...
    Wir haben dann unser bißchen Gepäck auf den Rücken genommen und sind erstmal gelaufen, dann einen Güterzug gefunden, die ganze Reise hat drei Tage und Nächte gedauert.

    Als wir aus Gelsenkirchen weg.gingen, war hier schon alles sehr beschädigt, darum waren wir nicht überrascht, wie es aussah. Wir kamen praktisch aus den Trümmern in die Trümmer. Unser Haus sah zwar furchtbar aus, aber es stand noch!
    ...
    Nur auffällig war, daß die, die vorher immer reichlich zu essen hatten, auch nach Kriegsende alles hatten. Ich weiß gar nicht, was die gemacht haben und wie die da rankamen, jedenfalls wir, die kleinen Leute, waren immer diejenigen, die betteln mußten.

    Ich weiß noch, mein Vater hat jeden Tag ein Butterbrot auf der Zeche bekommen, das war die Extrazuteilung für Bergleute, Weil er wußte, daß wir Kinder zu hungrig waren, hat er jeden Tag einem von uns das Butterbrot gegeben. Wir sind ihm dann schon immer bis zum Kanal entgegengelaufen, um das Butterbrot in Empfang zu nehmen.

    Jeden Tag mußte mein Vater über die kaputte Kanalbrücke gehen. Da waren so Bohlen darübergelegt. Und mein Vater war Nichtschwimmer. Der mußte jeden Tag den weiten Weg von einer Stunde gehen und dann noch die Angst, da abzustürzen. Wir Kinder sind ihm darum immer entgegengegangen bis zum Anfang der Brücke.

    Meine Freundinnen, die ich schon kannte seit ich 10 Jahre alt bin, die wohnten mit mir in derselben Straße. Die haben beide einen Beruf erlernt, richtig eine Lehre abgeschlossen, eine als Verkäuferin, eine als Friseuse. Das ging bei denen, weil die beide nicht evakuiert waren.
    Das waren so Berufe, die die Mädchen damals lernen konnten. Das höchste für ein Bergmannsmädchen, ein Arbeiterkind war damals, wenn jemand Büroarbeit machen konnte. Das war für uns schon was ganz Großes. Die meisten waren auf Fabriken, haben Verkäuferin, Serviererin, Friseuse oder so gelernt. Viele haben auch genäht. Aus unserer Straße aber nicht.
    ...
    Mit 10 Jahren habe ich mein erstes Buch gelesen und dann waren Bücher meine Welt! Ich weiß nicht mehr, wo ich die Bücher her hatte, aber mit 17, während wir evakuiert waren, habe ich Goethe gelesen. Ich frag mich wirklich, wie ich da rangekommen bin, aber ich hatte immer Bücher und hab' nie aufgehört zu lesen und ich hab' mir immer irgendwas besorgen können.

    Später - von meinem ersten Lohn hab' ich mir Perlonstrümpfe gekauft - aber dann, vom zweiten Lohn ab, hab' ich mir immer Bücher gekauft. Das war für mich so wichtig.
    ...
    Meine Hochzeit z.B.: Wir haben eine Haustrauung gemacht, weil ich das große Tam-Tam in der Kirche nicht wollte. Dann haben wir einfach alle Stühle aus der Nachbarschaft zusammengeholt und jeder hat was mitgebracht, jeder aß sich satt. Wir unterhielten
    uns und genossen es, zusammen zu sein.

    Meine Mutter, die hat wohl damals am meisten gehungert, weil die immer ihre ganzen Rationen abgegeben hat an uns und an den Vater, weil der so schwer arbeiten mußte. Von daher hat sich das wohl auch eingebürgert, daß die Väter das größte Stück Fleisch kriegten.

    Ich konnte es lange nicht fassen !
    Plötzlich war Frieden !
    Keiner kam mehr mit Bomben !
    Kein Fliegeralarm mehr !
    Nachts schlafen können !
    Keine Angst mehr haben !
    Leben!
    Das war überwältigend für mich.
    Wenn man 17 ist, dann ist das Leben ja noch so großartig vor einem. Das war wirklich das Schönste, das Gravierenste für mich.
    Der Krieg war aus!
    Wir lebten in einer völligen Traumwelt damals.
    ...
    Dann kam aber die Währungsreform.
    Irgendwie konnten wir das gar nicht begreifen, daß wir so vom Hunger, vom gar-nichts-haben, so plötzlich vor vollen Geschäften standen. Ja, wirklich!
    Von Samstag bis Montag waren plötzlich die Geschäfte alle voller Waren von oben bis unten. Wir konnten es uns nicht erklären, waren fassungslos! Wo das alles plötzlich
    herkam?! Ich war so überwältigt, daß ich nur denken konnte, meine Güte, jetzt kannst du dir ja für dein Geld was kaufen.

    Ich arbeitete in einer Eisdiele damals... Vorher war das Geld was ich verdiente so wertlos und jetzt hätte ich mir Strümpfe, Schuhe, was zu essen, alles kaufen können! Ich war so sprachlos !
    ...
    Im Krieg und kurz danach, hat meine Mutter aus ihren wenigen Kleidern, die sie rübergerettet hatte, mir was zum Anziehen genäht, weil sie meinte, du bist jung, du mußt was haben, ich brauch nichts mehr. Meine Mutter war damals Jahre alt.

    Eine Freundin von mir hatte geheiratet. Das war ja so: Die Mädchen mussten möglichst schnell heiraten und sehen, wie sie sich bis dahin durchschlugen. Die Arbeiterkinder waren ja sowieso nicht zum Lernen vorgesehen, die mußten arbeiten gehen. Meine Brüder haben aber noch auf dem zweiten Bildungsweg studiert.
    Ich hab' auf einer Fabrik und in Geschäften gearbeitet, als Serviererin usw.
    Also gearbeitet habe ich immer, gelernt aber nicht viel, eben nur aus Büchern. Also eine richtige Ausbildung hab ich nicht.
Heidi Otto

Quelle: Keine GEschichte ohne Frauen
Stadt Gelsenkirchen, Frauenbüro, VHS-Frauen-Geschichtswerkstatt, 1993
"Nachdrucke mit Quellenangaben sind erwünscht."
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salife
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Beitrag von salife »

Ilse Kibgis und weitere GE- und Revier-Autoren gibts aktuell auch auf der Seite Reviercast zu lesen und hören (wenn die hier nicht schon an anderer Stelle irgendwo verlinkt ist):

http://www.kulturserver-nrw.de/home/rev ... tml#kibgis

Heike
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Meine Stadt - Ilse Kibgis

Beitrag von Heike »

Eine Hommage an Gelsenkirchen. Von Ilse Kibgis
Meine Stadt

Meine Stadt ist kein
Reisekatalogknüller
kein Touristenparadies
mit Sonnengarantie
sie ist
ein kohlenstaubgetränkter Riese
der seine schwarze Vergangenheit
im Rhein-Herne-Kanal
blankwäscht
Die Wahrzeichen
meiner Stadt
sind eingemottete Bergwerke
Fabriken mit sauerstoff-fressenden
Schornsteinen
Straßen mit
geschäftemachenden Geschäften
ergraute Wohngettos
wo an Klagemauern
der Aufstieg abprallt
Kulturzentren
die mit
außenarchitektonischer Imposanz
interessantes Innenleben
versprechen
Grünanlagen
die verschämt
am Rande vegetieren

Die Berge meiner Stadt
sind Rolltreppen
die zu käuflichen
Paradiesen führen

Die Sonne meiner Stadt
heißt Neonlicht
sie ist der Fassadenkletterer
der Menschengesichter
in weiße Tinte taucht

Die Blumen meiner Stadt
sind Autos
sie sind die Fließbandsaat
die auf Straßen
Blüten treibt

Die Menschen meiner Stadt
sind Kumpel
die am schwarzen Roulette
ihre Knochen verspielten
Ihre Sprache ist
der Bergmannsjargon
Worte aus Erde und Stein
grammatische Fehlkonstruktionen
die der Intellektuelle
von hoher Warte
belächelt

Die Erkennungsmelodie
meiner Stadt
ist der Schalke 04-Song
der mit Zauberflöten
und Rattenfängertrick
dem blau-weißen Riesen
mit der Riesenzugkraft
Arenen füllt
Der Schafe zu Wölfen
und Fußballomas
zu blau-weißen Fahnenmädchen macht

Meine Stadt
ist kein Konkurrent
für geographische Massenangebote
aber sie ist der Kreis
der mich einschließt
die Mauer die mich schützt
das Leben dessen Pulsschlag
mich durchpulst
Sie ist
die schwarze Erde
die meine Tränen verschlingt
meinen Gedanken lauscht
und meinen Augen
ihr bescheidenes Panorama
unauslöschlich eingraviert

Von Ilse Kibgis, 1977

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bostonman
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Beiträge: 1606
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Wohnort: Schalke-Nord

Beitrag von bostonman »

aus derwesten
Zum ersten Mal vergibt der Stadtbezirk West einen Bürgerpreis. Der „Horster Löwe” geht an die Schriftstellerin Ilse Kibgis
weiterlesen
http://www.derwesten.de/nachrichten/sta ... etail.html
Man lebt ruhiger, wenn man nicht alles sagt was man weiß, nicht alles glaubt, was man hört und über den Rest einfach nur lächelt.

DThamm
Abgemeldet

Beitrag von DThamm »

Bild und Text aus: Natürlich (Unsere Heimat im Ruhrgebiet)
Bild

Auf der Kanalbrücke

eine Prise Wind im Gesicht
scharf die Konturen
schneidend wie ein
Scherenschnittler

ein bisschen Spucke
abgetrieben in die
Böschung

ein Himmel mit
Rauchglaswolken

Hochöfen
die mein Blickfeld
abstecken

Sonnenuhren
die langsam gehen

Emscheraroma
das mich
chloroformiert

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Heinz O.
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Beitrag von Heinz O. »

Ilse Kibgis ist am 20. Dezember im Alter von 87 Jahren verstorben
Gegen Hass, Hetze und AfD
überalteter Sittenwächter

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Prömmel
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Wohnort: (21a) Horst; später 465, 4650; jetzt 45899

Beitrag von Prömmel »

Nicht ganz richtig. Sie ist bereits am 17. Dezember verstorben.
Im Wiki steht's aber richtig.
Wer nichts weiß und weiß, dass er nichts weiß. der weiß mehr
als der, der nichts weiß und nicht weiß, dass er nichts weiß.

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Prömmel
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Wohnort: (21a) Horst; später 465, 4650; jetzt 45899

Ilse-Kibgis-Platz

Beitrag von Prömmel »

[center]Morgen wäre Ilse Kibgis 91 Jahre alt geworden.

Aus diesem Anlass erhält der Marktplatz Horst-Süd in einer kleinen Feier den Namen
Ilse-Kibgis-Platz.
Bild [/center]
Wer nichts weiß und weiß, dass er nichts weiß. der weiß mehr
als der, der nichts weiß und nicht weiß, dass er nichts weiß.

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Lo
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Beitrag von Lo »

Das ist eine begrüßenswerte Würdigung ihres literarischen Wirkens.
Komm´doch mal gucken: https://www.kohlenspott.de/

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